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Gedichtsammlung |
Die Sonne |
Der Stern, durch den es bei uns tagt - |
„Ach! Dichter, lern', wie unsereiner sprechen! |
„Muß man, wenn du erzählst, |
„Und uns mit albern Fabeln quälst, |
„Sich denkend noch den Kopf zerbrechen?” |
Nun gut! die Sonne ward gefragt: |
Ob sie es nicht verdrösse, |
Daß ihre unermess'ne Größe |
Die durch den Schein betrogne Welt |
Im Durchschnitt größer kaum als eine Spanne
hält? |
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Mich, spricht sie, sollte dieses kränken? |
Wer ist die Welt? wer sind sie, die so denken? |
Ein blind Gewürm! Genug, wenn jene Geister nur, |
Die auf der Wahrheit dunkeln Spur |
Das Wesen von dem Scheine trennen, |
Wenn diese mich nur besser kennen! |
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Ihr Dichter, welche Feu'r und Geist |
Des Pöbels blödem Blick entreißt, |
Lernt, will euch mißgeschätzt des Lesers
Kaltsinn kränken, |
Zufrieden mit euch selbst, stolz wie die Sonne denken! |
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Gotthold Ephraim Lessing |
aus «Sämtliche
Werke Band 1»; S.111 |
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revid.201508 |
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00062.htm |