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Gedichtsammlung |
Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration |
1 |
Als er siebzig war und war gebrechlich, |
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh, |
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich, |
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu. |
Und er gürtete den Schuh. |
2 |
Und er packte ein, was er so brauchte: |
Wenig. Doch es wurde dies und das. |
So die Pfeife, die er immer abends rauchte, |
Und das Büchlein, das er immer las. |
Weißbrot nach dem Augenmaß. |
3 |
Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es, |
Als er ins Gebirg den Weg einschlug. |
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases, |
Kauend, während er den Alten trug. |
Denn dem ging es schnell genug. |
4 |
Doch am vierten Tag im Felsgesteine |
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt: |
„Kostbarkeiten zu verzollen?” - „Keine.” |
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: „Er hat gelehrt.” |
Und so war auch das erklärt. |
5 |
Doch der Mann, in einer heitren Regung, |
Fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?” |
Sprach der Knabe: „Daß das weiche Wasser in Bewegung |
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. |
Du verstehst, das Harte unterliegt.” |
6 |
Daß er nicht das letzte Tageslicht verlöre, |
Trieb der Knabe nun den Ochsen an. |
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre, |
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann, |
Und er schrie: „He, du! Halt an! |
7 |
Was ist das mit diesem Wasser, Alter?” |
Hielt der Alte: „Interessiert es dich?” |
Sprach der Mann: „Ich bin nur Zollverwalter, |
Doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich. |
Wenn du's weißt, dann sprich! |
8 |
Schreib mir's auf! Diktier es diesem Kinde! |
So was nimmt man doch nicht mit sich fort. |
Da gibt's doch Papier bei uns und Tinte, |
Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort. |
Nun, ist das ein Wort?” |
9 |
Über seine Schulter sah der Alte |
Auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh. |
Und die Stirne eine einzige Falte. |
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu. |
Und er murmelte: „Auch du?” |
10 |
Eine höfliche Bitte abzuschlagen, |
War der Alte, wie es schien, zu alt. |
Denn er sagte laut: „Die etwas fragen, |
die verdienen Antwort.” Sprach der Knabe: „Es wird auch schon kalt.” |
„Gut, ein kleiner Aufenthalt.” |
11 |
Und von seinem Ochsen stieg der Weise, |
Sieben Tage schrieben sie zu zweit. |
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise |
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit). |
Und dann war's so weit. |
12 |
Und dem Zöllner händigte der Knabe |
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein, |
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe, |
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein. |
Sagt jetzt: Kann man höflicher sein? |
13 |
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen, |
Dessen Name auf dem Buche prangt! |
Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. |
Darum sei der Zöllner auch bedankt: |
Er hat sie ihm abverlangt. |
Bertolt Brecht |
aus «Kalendergeschichten»; S.98ff |
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revid.201204 |
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00015.htm |