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Gedichtsammlung |
Matth. 4,
8 |
Und Jesus stand auf einem hohen Berg |
und sah vor sich die Herrlichkeit der Welt |
und sprach zu sich: Dies alles wäre mein, |
wenn ich vermöchte unter Zwergen Zwerg, |
wenn ich vermöchte mit dem Dinkel Spelt, |
wenn ich vermöchte nichts als Mensch zu sein. |
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Dies alles: Haus und Acker, Weib und Kind, |
und wohlzutun und mitzuteilen Macht, |
ein friedsam Leben und ein sanfter Tod ... |
Statt daß mein Tag, gestaltlos wie der Wind, |
dahinfährt und nur Brand auf Brand entfacht, |
bis daß von meinem Wahn der Erdkreis loht - |
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Denn Vater, Vater, bist Du denn nicht Wahn, |
nicht Wahnwitz bloß - wer sagt mir denn, Du seist, |
wer sagt mir denn, als ich mir: ich bin Du, |
und Du bist ich? Wer nickt mir Zeugnis zu |
als ich, dem seine Augen aufgetan |
auf Sich, den Vater, Sohn und Geist! |
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Den Vater, Sohn und Geist! Gespenstisch Wort! |
Du Wurm im Staub, vergänglich, wie ein Rauch, |
wessen vermißt du dich, armselig Tier? |
Dort ist dein Reich, dort unter Menschen, dort, |
nicht hier im Sturm der Ewigkeit, nicht hier!.. |
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Ja, Vater, gib mich los, ich bin zu schwach, |
laß einen andern Deine Werke tun, |
mich hungert und mich dürstet, auszuruhn |
von Dir. Ich weiß nichts mehr. Ich will nichts
mehr ... |
Doch! Mensch sein will ich, Mensch sein, hundertfach: |
Als Mensch will ich Dir dienen, Vater!.. Schwer |
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fiel Jesus nieder, wie ein Toter fällt, |
mitten aufs Antlitz. Seine Hände riß |
der Dorn, er achtete des nicht, er lag |
als wie im Krampf. Aufzieht die Finsternis - |
doch durch die Erdnacht bricht der Weltentag |
und mit dem Tag der Welt der Frost der Welt - |
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und rührt ihn an. Da richtet er sich auf. |
Und schaut der flammenden Gestirne Lauf. |
Und langsam löst der Krampf sich. Wie ein Kind |
ergreift ihn Scham, unendlich tief und lind. |
Und tränenlächelnd haucht er ihnen zu: |
Vergib, du meines Ich urewig DU! |
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Christian Morgenstern |
aus «Einkehr»;
S.91f |
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revid.201312 |
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00005.htm |