Die
zum IMPRESSUM
bietet hier eine poetische Studienhilfe an:
Eamsyne und Earasyn
XIII
Von Kilian
841} Jeder zivilisierte Mensch deutscher Zunge weiss, welch Geschöpf ein Zivi ist. Wer wollte es auch mit dem Vogel ähnlich lautenden Namens verwechseln? Solch ein junger Mann - denn unerklärlicherweise sind Frauen unter Zivis nicht zu finden - trippelt eben nicht nächtens herum, flugunfähig wie ein Schnepfenstrauss, um mit schrillem Pfiff sein Revier zu verteidigen. Vielmehr ist der Zivi meist dort zu finden, wo Not am Mann zu sein scheint, weil sich die hierorts blendend herangereifte, auf ihre Errungenschaften stolze Gesellschaft mit dem Zuteilen eines gerechten Einkommens an jene ihrer Mitglieder schwertut, welche die harten Dienste leisten, die für die allgemeine Entwicklung notwendig sind. Das kann die Betreuung Armer, Behinderter oder Jugendlicher sein, die Pflege Alter oder Kranker, gleich, ob es sich dabei um Pflanzen handelt, Tiere oder Leute. Vor einigen Jahrzehnten noch war dies ein unbekanntes Unternehmen. Heute hingegen weiss ein jedes Zivilisierte, woran so ein Zivi zu erkennen ist.(328)
842} Earasyn wusste es nicht. Er wusste nichteinmal, wo er lag und was mit ihm geschehen war, als er die Augen aufschlug. Ihm kam vor, von weit her geworfen worden zu sein. Ein Nachschwingen schwappte ihm in Brust und Gliedern, als ob er in einer rasanten Kreiselbewegung auf der Matratze gelandet wäre. Von seiner linken Ferse herauf machte sich ein leises Klopfen bemerkbar, aber er fühlte sich zu ermattet, um dem weiter nachzuspüren. Er lag weich, mit irgendeinem Wolltuch bedeckt, in einem Chromstahlbett und atmete frische, ein wenig trockene Luft. Der dünne, durchsichtige Plastikschlauch, der zu seinem rechten Arm führte, verwunderte ihn. Er blickte auf.
843} Vor der matt beleuchteten Decke sah er, leicht über sich gebeugt, ein aufmerksames Gesicht. Strähniges, ungekämmtes Haar umgab die freundlichen Züge, und in den Augenwinkeln war ein Lächeln zu erkennen. Offenbar wurde sein Erwachen beobachtet. Earasyn fühlte sich auf eine selbstverständliche, starke Weise getragen, einem Willen anvertraut, auf den er bauen konnte. Er versuchte, den Kopf zu heben. Das erregte eine flüchtige Bewegung im Gesicht, und eine unaufdringliche Hand berührte seine Stirn. „Bleiben Sie ruhig!”, wurde er mit sanfter Stimme aufgefordert: „Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie einfach nach Kilian. Ich begleite Sie.”(329)
844} Ich begleite Sie. - Earasyn wollte „Hoj, Kilian!” erwidern und „danke”, aber er brachte nur ein unverständliches Lallen zustande. Die fröhlichen Augen kamen näher, während der Polster unter seinem Kopf zurechtgestopft wurde. Ein vertrauter Geruch stieg seine Nase hoch, wie gebrannte Vanille, nein, Karamel. Oder war es Pfeifentabak? Das Gesicht zog sich zurück, und er sah einen zerknitterten, vorne offenen weissen Mantel, darunter einen weinroten Pullover und ein Stück Jeanshose. Ihr Gürtel war aus sandfarbenem Leder und die abgegriffene Messingschnalle zeigte eine sich aufbäumende Uräuskobra (330), deren stechendes Augenpaar auf seine Nasenwurzel zielte.
845} Von Händen und Füssen heran kroch die Lebenswärme, Arme und Beine entlang, seinem Herzen zu. Erste Erinnerungsbilder mischten sich in seine Wahrnehmung: hellgrüne Räume, Geschobenwerden, ferner Motorenbrummen durch den ganzen Leib, holpriges Getragenwerden, Befehle, Stimmengewirr, beklemmende Atemnot, Liegen im Staub ... Allmählich begann sein Denken zu gehorchen. Er war Earasyn und lag in der Obhut seiner Leute auf einer Krankenstation, vermutlich zuhause. Sein Dienst war zuende. Gut, aber etwas Wichtiges hatte sich ereignet, wofür ihm Vorstellung und Begriffe fehlten. Er würde danach zu fragen haben, sobald ihm auch die Stimme wieder gehorchte. Und dann würde er aufstehen.
846} Die Tür wurde aufgerissen, ein sonorer Morgengruss drang schmerzhaft an sein Ohr. Begleitet von einer Krankenschwester und ein paar Herren in Weiss sowie einem in Uniform mit imponierenden Ordensspangen, trat ein Arzt in den Raum. Ein Oberarzt? Dadurch entstand allerhand Geräusch, das die erquickende Stille (36) wie hauchfeinen Blütenduft verwirbelte. Man gruppierte sich in einer gewissen Rangordnung ums Fussende des Bettes und schaute auf ihn herab. Seitlich wusch jemand etwas im Waschbecken. Räuspern und Rascheln durchbrachen das respektvoll abwartende Schweigen. Die vielen unbekannten, ernsten Gesichter störten seine Gedanken, welche daraufhin eine drängende, ja bohrende Wendung nahmen. Wie krank war er wirklich? Würde er je wieder auf die Beine kommen? Und musste er dann in die sandigen Berge zurück? Da erblickte er im Hintergrund ein ebenso anteilnehmendes wie beruhigendes Antlitz: Kilian.
847} Der Chefarzt - denn seiner amtlichen Miene nach konnte es nur ein solcher sein - trocknete sich die Hände ab und begann undeutlich von einer Autoimmunreaktion (331) zu reden, einer somatischen Unverträglichkeit oder Fehlinterpretation, die eine brandgefährliche Abwehr gegen den eigenen Körper ausgelöst habe, nun aber im Abklingen sei. Man hätte den Kerl rechtzeitig ausgeflogen, und das verordnete künstliche Koma wäre wirkungsvoll gewesen, schliesslich sei der Patient erwartungsgemäss erwacht und in zufriedenstellendem Zustand. - Wann der Freiwillige wieder diensttauglich sein würde, wollte der Uniformierte wissen. „Den”, wurde ihm beschieden, „verabschieden wir besser.”
848} Bei dieser Antwort heiterten sich die Züge des Zivis auf. Er nickte sogar, als erwarte man sein Einverständnis. Weil er aber zuhinterst stand, wurde das Nicken nichteinmal wahrgenommen. Sein heller Blick war auf Earasyn gerichtet. Die übrigen Herrschaften verliessen leise debattierend das Krankenzimmer. Hinter der Schwester, deren schwarzes Haar mit einem dunkelblauen Band zu einem Rossschweif gebunden war, schaute jemand interessiert herein, doch diese komplimentierte den Eindringling resolut hinaus. Die dicke Tür fiel ins sacht Schloss. Die Geräusche verzogen sich, wie der Nebel den Sonnenstrahlen weicht. In der wiedererlangten Stille bildete Kilian mit den Armen eine Wiege vor der Brust. Gleich einem Vater schaukelte er sie leicht hinundher.
Vom Dreizehnten
849} Der Eins als Primzahl folgt in nach Dutzend geordneter Weise die Dreizehn.(332) Keineswegs vollkommen,(333) führt sie dennoch aus dem Reigen der Zwölf heraus, um in ihn hineinzuströmen, gleich dem Paulus in den Kreis der Apostel.(240) Sie will und beherrscht und bewegt jenes „Ordinem restauro in orbe novo”(52), das dem donnernden Blitzschlag folgt;(104)
dem das Kreuz der Formung sengenden,
das der Bewegung sprengenden,
das der Wandlung drängenden.
Wie Schmerz die Grundlage zum Feuer des Formens bietet, Schatten die nötige Kühle um zu erkennen, so Zerstörung den Boden zu Aufbau und Leben. Was endlich von Freude im Jubel gekrönt wird, ist im Leiden geglüht und gehämmert worden. Wo solcherart Ganzes sichtbar sich rundet, dient verborgen ein Dreizehntes, das im Stillen regiert aus dem Brennpunkt der in Zeit, dann Raum gekrümmten Welt. Denn die Dreizehn wirkt wie die Eins in der Nacht.(92)
850} Die junge Mutter hielt ihr Kind mit beiden Armen an der vollen Herzbrust. Die Entbindung war ohne nennenswerte Komplikationen verlaufen. Als Kopf, Schultern und Ärmchen bereits herausgedrückt waren, hatte es zwar einen Augenblick lang ausgesehen, als wollte das Kind sich aufstützen und vor dem Morgengrauen Umschau halten, um sich nötigenfalls in den schützenden Bauch zurückzustossen. Doch der sichere Griff der Hebamme und ein weiterer Schub hatten schliesslich Hinterteil samt Beinchen zutage gefördert und den Rückweg abgeschnitten. Ein leises Blöken hatte darauf geantwortet. Gleich danach war das Neugeborene seiner Mutter in den Arm gelegt worden. Beide hatten einander bis Sonnenaufgang angeschaut, dann waren sie vor Erschöpfung eingeschlafen.
851} Mit starken Schlücken sog das Menschlein die warme Milch derer ein, die es vor einem halben Tag in den eigenen Atem entlassen hatte. Das Leben selbst strömte zwischen den beiden hinundher, sein vielfältiger Duft füllte den Raum um sie herum. Nichts eilte mehr, die Wogen begannen sich zu glätten. So besorgniserregend die Umstände in der Vorbereitung gewirkt hatten, allem Bemühen um Gelassenheit zum Trotz, so selbstverständlich war alles nun in Ruhe geborgen.
852} Ein Klopfen, die Hebamme trat herein und wünschte einen guten Abend. Draussen warte ein Herr, ob er herein dürfe; aber vorher sei da noch eine Kleinigkeit zu klären, wenn's recht wäre. Die Stillende hob verwirrt den Kopf: „Wer? Was?” Naja, wie denn das Kleine heissen solle, das müsse man schon einmal aufschreiben. Der Unwille ob der Störung zerfiel und ein Leuchten flog übers Gesicht der jungen Mutter. Das Kind hatte aufgehört zu saugen. Sie betrachtete sein Köpfchen in ihrer linken Hand: obschon zerbrechlich, drückte es einen unbändigen Willen aus in der Selbstverständlichkeit, zu ihr und dem fernen Vater zu gehören. „Eana”, sagte sie bestimmt.
853} „Ejana!” rief Herr Z. und betrat ungebeten die Kammer: „Mecht' ich gratulieren! Ein Ängel, ah, ein Ängelein! Sretan Božić!” Die Hebamme wollte ihrer Empörung ob solcher Zudringlichkeit Luft machen, einem Ansatz davon wenigstens, aber Eamsynes Lachen war so glücklich, dass sie es bei einem hörbar kratzenden Schnaufen bewenden liess. Hievon unbeeindruckt, blieb Herr Z. unter dem Dachfenster stehen und lächelte breit bei fortwährendem Wiegen seines kahlen Hauptes. „Rado mi je”, brummelte er gebetsmühlenartig: „was frei mich!”
854} Nachdem die Hebamme Mutter und Tochter nocheinmal untersucht hatte, verabschiedete sie sich. Eamsyne bot Herrn Z. den Lehnstuhl gegenüber an. Im Sitzen setzte er seinen Singsang fort, wie froh er wäre, welche Freude! Endlich begann er sich zu fassen, indem er fragte, was der Rabbi samt Eheweib wohl hiezu meinen würde und die anderen, wobei ungewiss blieb, wer mit den anderen gemeint war. Ohne eine Gegenfrage abzuwarten, rieb er sich die Stirn. „Ja, liebe Ejasine”, warnte er verschmitzt, „ich bringe Nachrichtungen, nicht gänzlich schlechte Nachrichtungen.”
Von Obstgenuss
855} „Zu Tod gforcht is auch gstorben”, sagte die Rabbanith. Der Rabbi hatte ihr gerade den neuesten Stand der Dinge mitgeteilt, nicht ohne ausführlich sein Dafürhalten kundgetan zu haben, dass es sich bei der ganzen Angelegenheit wohl mehr um seelische Verdunkelung, als um tatsächliche Gefährdung von Leib und Leben gehandelt haben müsse, tjanu, wie seinerzeit bei Israel in Misraim, das sich ja prächtig vermehrt hätte unter Pharaos beklagenswert lastender Hand.(334) Der Maulana, der gerechte, sei übrigens ähnlicher Ansicht. Auch der Weise, der leider in den etwas eisigen Bergen verschwundene, gottseisgeklagt, hätte kaum anderer als seiner Meinung sein können. „Wie nicht!” erwiderte sie zerstreut und griff nach einer Apfelschnitte.
856} Das bejahrte Paar sass unter dem Obstbaum,(161) dessen blumigen Ruch (316) beide über alles andere im Park liebten. Wann immer sie konnten, suchten sie ihren knorrigen Freund auf, den sie seit jeher kannten. Es wäre ihnen schwergefallen zu erinnern, wann sie ihn entdeckt hatten, wenn überhaupt von einem Entdecken gesprochen werden konnte. War er nicht für sie gepflanzt worden? Alt war er wie sie, gebeugt, doch unverwüstlich, und er spendete nur mehr wenige, dafür aber herrlich saftige, süsse Früchte. Diese zu essen war eigentlich nicht erlaubt, weil sie samt Baum dem Gartenamt gehörten. Doch hatte niemand je vernommen, dass deswegen ein Aufheben seitens der Stadtgärtnerin gemacht worden wäre. Reb Süsskuch und seine Frau gelüstete es nämlich, sich gelegentlich einen der gelbrot gemusterten Globen zu brechen, um sie an Ort und Stelle säuberlich aufzuschneiden, zu entkernen und gemeinsam zu verspeisen.
857} Nach so einer Appelepartie, wie die zwei traulichen Alten dies nannten, fühlten sie sich beschwingt, ja verjüngt. Bei dieserart erfrischenden Anlässen konnte der ehrwürdige Schriftgelehrte selten davon abgehalten werden, sich zitatenreich auszulassen über Fall und Wiederaufstieg der Mischpoche (132), worunter er letztlich die ganze Menschheit verstand, Lebende und Tote, welche er dadurch zu unterscheiden pflegte, dass diese leidend zusehen müssten, wie jene blind handelten. Seine Frau mochte die brummige Stimme gut leiden und liess ihren Träger allermeistens vor sich hinreden, ein Ausdruck ihrer erfahrenen Klugheit.
858} Derweilen hing sie ihren eigenen Gedanken nach. Oft lenkten die flüchtigen Gesellen ihre Denkerin von der hübsch gerundeten Frucht zum Erdball mit seinem Nordpolbecken und seiner Südpolkuppe, seiner Tages- und Nachthälfte auch. Sie zogen über sein Gebirgskreuz hin, ergründeten seine dreieckigen Vierseitstrukturen,(335) und begannen stets wild um die bange Frage zu kreisen nach der Wahrnehmung der eigenen Sinne und der aller Mitmenschen sowie dem daraus gewecktem Bewusstsein für die seltsame Rolle geduldig genährter Gäste; oder eben nicht gewecktem, schlafendem. Denn nur Schlaf,(336) meist traumloser Tiefschlaf der sogenannten Öffentlichkeit schien der Denkenden zu erklären, was sie nicht umhin konnte, an Fehlentwicklung vielerorts festzustellen.
859} Ach, wo sind sie hin, die Stunden herbstlich leichten Schlafes unter warmen Sonnenstrahlen, allwo Gedankenlaub zu Boden strudelt, dort buntes Gold in Haufen schichtet? Das trockne Gut mag später durchgefeuchtet werden, den Moder weisser Schnee bedecken. Ihn zu vergessen schafft den Freiraum für klares Licht, das durch die kahlen Äste dringt.
Von einer brennenden Stellung
860} Jedes Gewitter legt sich einmal. Desgleichen legte sich auch jenes regenlose, dafür aber umso stahl- und giftreichere Toben. Ob des Aufsaugens stinkenden Gewölks zufrieden strahlte der Himmel in mittäglichem Blau. Die staubigen Hügel widerhallten nicht mehr vom Krachen und Donnern aus zuckenden Rohren. Nicht ohne Stolz begaben sich die Kriegsherren in ihr Zeltlager, um einen Rapport zu verfassen. Der geriet denkbar knapp: ein Scharmützel mit wenig Materialschaden, daher kostengünstig (unterstrichen), ein paar unbedeutende Verluste, Tote, die keinem abgingen, kurz, ein voller Erfolg, Punkt.
861} Einige Meilen entfernt brannte eine Stellung, von der unklar blieb, ob sie überhaupt verteidigt worden war, also nicht der Rede wert. Die Gegenwehr war jedenfalls aus einer anderen, unvermuteten Richtung gekommen, hatte jedoch, wie gesagt, kaum Schaden angerichtet. Mit dem Fernglas konnte man drüben lediglich beobachten, wie ein alleinstehender Strauch sich lichterloh in hochleckenden Feuerzungen verzehrte. Da kein Rauch zu erkennen war, mussten sie ziemlich heiss sein. Soviel Energie hätte man dem Gewächs gar nicht zugetraut, wenn es denn nur dornige, verholzte Stengel waren, die dort brannten, und nicht irgendwelche lausigen Chemikalien.
862} Die Schafhirten trieben das ihnen anvertraute Vieh wieder aus den Höhlen heraus und auf die kargen Hochebenen. Offensichtlich hatten sie das bedrohliche Feuer bemerkt, denn sie umgingen die Stelle in grossem, scheuem Bogen. Fast sah es aus, als zögen tiefliegende, von einem seltsamen Wind verblasene Federwolken über die braunen Hänge. Die Hirten schienen zu wissen, wohin sie sollten, und allmählich verschwanden die Herden aus dem Blickfeld.
863} Einer von ihnen war indes zurückgeblieben. Einer der Hirten? Kein Schaf mehr weit und breit! Er verharrte in respektvollem Abstand zur hochfahrenden Flamme, barfuss und auf einen Stab gestützt. Niemand diente ihm, auf dass gehört wurde, ob er mit dem Feuer Zwiesprache hielt; gelernt, nach welchem Gesetz die Lohe züngelte; verstanden, was zu schauen ihm gegeben sein mochte. Ein jedes ging seinem Geschäfte nach, nicht diesem. Hier stand der Mann, da loderte der Busch. Wartete er, bis das elende Gehölz vernichtet war? Einsam wartete er unter seinem schwarzen Turban und er wartete lang. Kein anderer beobachtete, wie die Glut Funken um Funken auf den geborstenen Platten erlosch.
864} Der Pîr stocherte mit dem Stab in der Asche. Die Schrift auf den basaltenen Flächen war unleserlich geworden, unentzifferbar. Er wandte sich um. „Welche Gesetze auf diesen Steinen auch eingeprägt waren”, murmelte er: „sie gelten nicht mehr. Gesetzlose Zeiten, dem Schöpfer entzogen. Kein Uhrwerk zwar, doch Werk ist die Welt,(337) da nun der Einzelne ist, der er ist. Wem schon bewusst? Und dennoch werden in stetem Strömen Menschen geboren, immer wieder Menschen geboren. Was für ein unerschöpflicher Mut!”
Von Gesetz und Gnade
865} „Was hat's eigentlich mit der Einunddreissig auf sich, wenn wir schon dabei sind?” Der Bär blinzelt seiner schönen Freundin zu, die neben ihm am Waldrand liegt: „Komm mir nur nicht mit dem verruchten Trente-et-un!”(338) „Die Einunddreissig wirkt unter der Sieben”,(332) erwidert die Hirschkuh bedächtig. Dann lacht sie auf, weil sie sein Manöver durchschaut: der Schlaumeier will offenbar der neuen Lage ausweichen. Trotzdem setzt sie geduldig fort: „Du kommst zu ihr über die Neunzehn.(135) Übrigens bringt sie die Dreissig (339) ähnlich voran wie die Dreizehn die Zwölf. Die Einunddreissig verlangt Mut, weil sie ins Ungewisse führt.”
866} Der Graubraune senkt die Schnauze, als ob er sich Beissbares erschnuppern wollte. Dass die ewig Vertrackte ihn schon wieder drangekriegt hat! Ein Zittern läuft ihm vom Nacken über Fetthöcker und Rücken. „Fünfmal nehm ich die Vollkommenste (333) und eine dazu, gut.” bohrt er weiter: „Wie aber willst du in fünf Schritten Gesetz und Gnade in Einklang bringen?” Dunklen Auges schaut die Kastanienfarbene unschuldig auf: „Will ich das denn? Ich mische mich nicht in Menschenangelegenheiten.” „Nicht?” tut er erstaunt: „Und doch beobachtest du unentwegt deine Menschenfrau, jetzt sogar mit ihrer Tochter!” „Das ist etwas andres”, beharrt sie: „das gehört zu meinen Aufgaben. Grad wie's deine ist, vom Krankenbett zu kommen. Auf diese Weise genügt unsereins dem Gesetz.” Lächelnd fügt sie hinzu: „Gnade ist, dass wir gemeinsam genügen dürfen, lieber Bruder.”
867} Dem alten Streuner fällt es schwer, seine Rührung zu verbergen. „Ist es nicht wie beim Laub?” beginnt er von Neuem: „Die Bäume entlassen die kraftlos gewordenen Blätter; wenn der Wind die nicht ein Weilchen trägt, fallen sie zu Boden - Gesetz. Dank dem schieben wir uns einen Haufen Laub zusammen, damit wir weich lagern können - Gnade.” „Ha, so siehst du das”, lacht sie: „immer lebensnah, immer vorteilsfroh!” „Soll wer gegen seine Natur denken, Schwesterherz?”
868} „Deine Natur ist mir gut bekannt.” Die Langbeinige richtet sich elegant auf, dem lahmen Hinterlauf zum Trotz. Lange mustert sie den vor ihr liegenden, scheinbar so schwerfälligen Freund. „Unsre Natur gehorcht dem Leben”, meint sie endlich: „so wie das kleine Mädchen dort im Arm seiner Mutter noch völlig dem Leben gehorcht.” „Das wird sich legen”, versetzt der weitgereiste Zottel gutmütig: „das Kind wird bald erwachen. Lass erst einmal seinen Vater kommen!” „Dass der wiederkommt, nenn ich Gnade, mein Lieber.” „Ich nenn's Gesetz, weil er muss. Die Mutter wird sich noch wundern!”
869} „Und wenn wir's einfach Erbarmen (340) nennen?” schlägt eine rauhe Stimme vor. „Erbarmen? Wer kommt darauf?” Die Glattfellige und der Pelzträger sehen verwundert auf. Vor ihnen sitzt ein dunkelbraun, im Nacken goldgelb Gefiederter auf einem kopfgrossen Findling und blickt die beiden Freunde über seinen Hakenschnabel scharf an. „Man kommt darauf”, erklärt er: „wenn man euch beiden zuhört.” Der Bär spürt, was er den Bernsteinaugen schuldig ist, und erhebt sich ebenfalls. Er schüttelt den Blattmoder ab, leckt sich verstohlen die Schnauze sauber und streckt sich. Die Hinde zwinkert dem Adler zu, weil ihr Gefährte den Leuchtkäfer an seinem Stummelschwanz nicht bemerkt. Vielmehr sinnt er dem funkelnden Morgenstern entgegen, indes der ansonsten bereits leere Himmel an Bläue zunimmt.
870} Nach einer Weile wird er schnarrend gefragt, ob er es nicht barmherzig fände, dass der Skorpion den Mann wieder freigegeben habe.(69) Doch er bleibt stumm, vielleicht weil er die Frage nicht versteht. Erbarmen, Gesetz und Gnade wirbeln im schweren Schädel herum. Wo die Gnade vergeht, braucht's das Gesetz; wo das Gesetz drückt, braucht's das Erbarmen; wo das Erbarmen überquillt, ... Die drei Gedanken machen sich ein Vergnügen daraus, ihn zu verwirren. Der Stern vor ihm verblasst. Die Könige würden sich zur Ruhe begeben müssen, die Gerechten, die stets zu dritt auftreten, selbst vor dem Neugeborenen.
871} Niemand schreit dort oben mehr. Hier unten hüpft gerade kein Hase, huscht keine Maus, weint kein verlassenes Junges.
Vom Ahnen im Erinnern
872} Lange zu leben sei schwierig, überlegte er, kurz aber auch. Nachdem er aufgestanden war und zur Toilette begleitet worden, fühlte er sich ein bisschen schwach, doch zu seiner Überraschung schmerzfrei und hellwach. Man hatte ihm geholfen, ein weiches, cremefarbenes Hemd, eine beige Hose und eine angenehm lockere, tiefblaue Strickjacke anzuziehen, die gewiss keinerlei Uniform angehörte. „Das ist für Sie abgegeben worden”, hatte der Helfer beim Umhängen bemerkt. Aus welchem Fundus die Sachen wohl stammten? Karitative Kleidersammlung, dachte Earasyn und zuckte mit den Mundwinkeln. Komisch, wie neu die Stücke waren.
873} Der Zivi hatte sich aus dem Zimmer begeben. Sein Pflegebefohlener sass im bequemen Armstuhl und blickte durchs offene Fenster über den Hof zu den Pappeln, die das Grundstück gegen die Strasse abschirmten. Mit der lauen Luft strömten auch Geräusche herein, ein Zuklappen, ein Rollen, ein Warnton und Stimmen vor dem dumpfen Sausen des Verkehrs, in dessen Pausen der Wind im Geäst wisperte. Der Wind - wie? Ein Blubbern kündigte die Veränderung an. Jenes wurde vernehmlicher, kräftiger, lauter, entlud sich in peitschendes Sirren, das alles andere mehr und mehr überlagerte und schliesslich den ganzen Hörraum füllte. Eine kleine Ewigkeit lang rotierte das heulende Schlagen schier im Kopf selber, bevor es langsam verflachte, verfiel und mit einem letzten Seufzer verstummte.
874} Earasyn lehnte sich zurück. Ihn ging das nichts mehr an. Er war genug herumgeflogen in diesen pummeligen Kisten, die sich unter ungeheurer Kraftanstrengung einen dichten Luftpolster erzwangen, auf dem sie bewundernswert leicht hochstiegen, einherschwebten oder niedersanken. Kein noch so windlos stiller See, kein noch so einsam hoher Berg, kein noch so verborgen gebliebenes Haus war vor ihren unablässigen Peitschenschlägen gefeit.(341) In jede erdenkliche Ruhe, die der Mensch aufsuchte, konnten sich diese hineinschrauben. Wenn das geschah, dann um Leib und Gut zu retten, glaubten die meisten. Nein, er war weissgott genug darin herumgeflogen, Flussläufe und Fuhrwege entlang, über Wälder und Wiesen hinweg, Abhänge empor und in Hochtäler hinein bis ins Bodenlose!
875} Bis wohin? Drehen nicht alle Himmelskörper sich in leuchtendem Farbenspiel, der ewigen Schwärze zu trotzen,(26) lautlos nur fürs schallgewohnte Ohr? Das flutende Singen im Strahlen der Myriaden, das rollende Knistern in ihrem Flackern wie dröhnende Orgeln in ihrem Schimmern, im lebendigen Zwielicht bewegt es den Raum, bestimmt es die Zeit;(98) und die Klänge stimmen zusammen in gewaltig geformter, bewegter, beherrschter Harmonie.(12) Hockst du am Rand des Abgrunds, auf schwebendem Brocken zum Beispiel, kannst du sie schauen, die Illuminie, kannst du sie hören, die Symphonie; kannst du sie hören oder anderes noch.
876} „Papa, dein Papa!” Earasyn wandte sich um. In der Tür zum Krankenzimmer stand Eamsyne und sprach leise mit dem Kind auf ihrem Arm. Der grosse Blick im kleinen, unfertigen Gesicht war forschend auf ihn gerichtet. Was für Augen! Sie kamen ihm nachtschwarz vor, sternerfüllt. Wie unverbraucht neu war dieser Blick! Und dennoch erkannte er ihn wieder. Dort im Arm der ersehnten, geliebten Empfängerin geschriebener und ungeschriebener Briefe lag halb aufgerichtet seine Tochter. Lächelte das Kind kaum merklich? Er hob den Arm, um zu winken, wollte aufstehen, rufen. Über die Schulter der Mutter strahlte Kilian herein, voll Anteilnahme wie stets, doch mit dem Finger auf dem Mund.
877a} «Je chante mon chant, je le chante
sans que je m'en vante,
c'est qu'elle me hante
sa mélodie.
877b} Je flanque mon gant, je le flanque
sans que je m'en vante,
c'est qu'elle me hante
sa galanterie.
877c} Je campe au vent, et j'y campe
sans que je m'en vante,
c'est qu'elle me hante
son agonie.
877d} Je plante au champs, et j'y plante
sans que je m'en vante,
c'est qu'elle me hante
cette colonie.
877e} Je relance mon sort, le relance
sans manque d'élégance,
parce que cette chance
en permanence
recrée l'infini!
877a} Je chante mon chant, je le chante
...»(342)
Von Kryos und Pyr
878} Ausgang und Urgrund des Lebens ist Wärme.(143) Im Glosen zunächst, dann in Farben wie Tönen und endlich im Lebendigen kommt ihre Kraft zur Entfaltung. Von kaum erkennbarem Glimmen währt der Reichtum ihres Ausdrucks bis hin zur wabernden Entfesselung unendlicher Kalorien. Mag sie zu eisigem Frost schrumpfen oder sich zu gasiger Hitze dehnen, dem Menschen ist nur ein engbegrenztes, obschon goldenes Mass hievon zuträglich,(22) weshalb sich auch seine Kryotechnik von seiner Pyrotechnik extrem unterscheidet.(343) Wenn der Mangel an Wärme vollkommen ist, klingt der letzte Entwicklungsschritt aus; die reine Kälte entlässt das Sein selbst ins Nichtsein. Wen wundert dies? Eisbären vielleicht.
879} Die Stimme hatte herzerwärmend gesungen. Im Gewiegtwerden hatte das Kind die Augen geschlossen. Eamsyne war in den Raum getreten, und hinter ihr war die Türe lautlos geschlossen worden. Sie schritt behutsam am Bett vorbei auf den Stuhl vorm Fenster zu und fragte tastend: „Von wo bist du hergekommen?”
880} Earasyn erhob sich, um ihr entgegenzugehen. Ein leichter Schwindel erfasste ihn. „Von den Bleifüssen (19) am Abgrund des Kryos”, erwiderte er und versuchte zu lächeln. Vor ihm stand die Mutter, ihrer beider Frucht im Arm. Allein, der Ruch ihrer Nähe trieb ihm beissende Tropfen über die Pupillen, die das liebe Bild verschwimmen liessen. Rasch umarmte er sie. Damit konnte er die Spuren verbergen, die unter seinen Lidern aufglänzten; denn derlei Spuren zu verbergen, hatte er lernen müssen.
881} Nach einer kleinen Weile löste sich Eamsyne von ihm. „Und wie”, wollte sie wissen, „hast du zu uns zurückgefunden?” „Sie hat mich gerufen”, versetzte er freimütig, „dringend gerufen.” Er nickte dem Kind zu, das wieder aufgewacht war, und ergänzte: „Der gleissende Pyr hat mir geleuchtet.” „Von Kryos zu Pyr also”, sagte sie nachdenklich, „ein ordentlicher Weg!” „Es ist der Weg, auf dem einem immer wärmer wird”, erklärte er, „das ist nicht unangenehm.” „Du,” lachte sie auf, „ich hoffe schon, dass es dir nicht unangenehm war, heimzukehren!” Earasyn merkte, wie ihm die Röte über die Wangen flog. Heimkehren, dachte er, wie sich das anhört! Wo war er denn überhaupt daheim? Oder führte nicht jeder recht gegangene Weg heim?(344)
882} Er nahm wieder auf seinem Stuhl Platz. Ohne zu fragen, legte ihm Eamsyne das Kind in den Schoss und setzte sich aufs Bett. Die Wolldecke schlug sie gar nicht erst zurück. „Halt du Eana”, bestimmte sie fröhlich, „keine Sorge, sie ist gut gewickelt!” Dann bat sie ihn, wie früher einmal, jetzt einfach zu erzählen.
883} Earasyn rückte sich zurecht. Er hob die Kleine an sein Herz und barg ihr goldgelb behaubtes Köpfchen auf der linken Schulter, wo sie ruhig weiterschlief. Kryos, fing er mit gedämpfter Stimme an, sei schwärzer als die Nacht; ihm gehöre nicht ein Stern an, nicht ein Nebelfetzen, nicht ein Staubkorn. Nichteinmal kalt sei er, sondern gar nichts. Ganz anders Pyr, der jedem Leuchten innewohne, jedem Taumeln im Raum, jedem Pendeln in der Zeit. Dennoch habe man vom Rand her eine überwältigende Ausschau. Wende man sich nun Pyr zu, habe man Kryos im Rücken; dadurch fände man aus dessen Weglosigkeit heraus. Ein solcher Weg wiederum gleiche weniger einer Tangente, welche zum Beispiel die Erdbahn berühre, als vielmehr einer Asymptote,(345) die einen bestimmten Lichtstrahl im Unendlichen einhole und von der man vorher in den Strahl selber wechseln müsse, um heil anzukommen. Den rechten Moment zu finden sei zwar schwierig, man dürfe ihn keinesfalls verträumen, doch käme einem ein deutlicher Zuruf zuhilfe.
884} In diesem Augenblick klopfte es. Kilian schaute herein und fragte, ob er Tee und etwas Gebäck bringen könne.
Vom Gestörtwerden
885} „hallo alter sack man hört dass du wieder auferstanden bist und abgemustert obendrein du mit deiner ewigen sau dich kann man nicht brauchen sagt man unsereinen schon denn soviel blöde haben sie gar nicht wie sie für ihre spielereien gern verheizen würden aber egal gebirgsluft ist ja gesund wie wir gesehen haben hähä du jedenfalls bist aus und draus da wird sich deine tussi doppelt freuen weil sie dich wieder zu fassen kriegt und unsereinen dabei nicht anschauen muss naja morgen fliegen wir also ab i hate jaygee weisst du noch der besuch bei dir muss also vorläufig ausfallen irgendwie schade oder auch nicht werden uns schon irgendwann wieder treffen machs so gut du kannst und vergiss nicht deiner milchkuh samt kalb zu zeigen was ein kerl ist E”
886} Unter allerlei Post, amtlicher wie werbender, war dieser Brief auf dem Teewagen ins Krankenzimmer gerollt worden. Earasyn hatte ihn sofort erspäht und gleich ein Hochglanzpapier darüberschieben wollen, welches beglückende Ferienziele anpries. „Lies nur”, hatte seine Gefährtin geseufzt: „Briefe an dich interessieren mich nicht. Mich interessiert, was du tun wirst.” So hatte er die Zeilen gelesen, mehrmals verärgert den Kopf geschüttelt, dann den grauen Bogen ins Kuvert zurückgesteckt und in die Nachttischschublade weggelegt. „Ich liebe dich”, sagte er unsicher.
887} Eamsyne lächelte ihren Gefährten an: „Wir sind jetzt zu dritt, Eana, du und ich. So einer wie der kann uns heute nicht stören!” „Nein”, murmelte Earasyn: „heute wohl nicht.” Dann sassen sie sich eine Weile lang wortlos gegenüber. „Komm, schenk uns Tee ein”, beendete die neue Mutter das Schweigen: „Vergangene Gedanken sind tote Gedanken. Die lebendigen strömen aus der Zukunft.(346) Auch wir beide sind älter geworden, oder?”
888} Wer auf die Acht achtet, gibt acht.(102) Gerade wenn ein Wegkind meint, seine Aufgaben halbwegs überschauen zu können, sich im Irdischen eingerichtet wähnt und abgefunden hat mit dem eigenen Vermögen, Unvermögen auch, dann funkt oder lähmt sie in sein Dasein herein, blind und taub gleich einer Schicksalsgöttin. Nicht zu töten, tritt sie an, wie manche raunen. Vielmehr fordert sie zu neuem Begreifen und Handeln auf, wenn eine Entwicklung ihren letzten Zyklus beendet,(32) zu Neuem von den Wurzeln an. Wer solch Herausforderung verschläft, gar scheut, bleibt auf der Strecke trotz allem sonstigen Bemühen. Doch was heisst selbst dies Furchtbare anderes, als neu anzufangen? Nichts Böses wohnt dieser Unerbittlichkeit inne und Gutes nur insofern, als damit begonnen wird, als endlich damit begonnen wird.
Vom Sternverlust
889a} Hast Du deinen Stern verloren?
Nicht den Canopus (347), nein doch,
nicht den fernen Leuchtpunkt,
der, angepeilt, den Kühnen hilft
sich im toll durcheilten Raum zurechtzufinden;
auch nicht den Sirius (263), der alle überstrahlend
als Dreispiel übern Winterhimmel zieht
und so dem Fürsten der Planeten (17) trotzt;
nein, deinen mein'ich,
der dich entlassen hat,
um hier im Irdischen den Platz zu suchen,
den er dir weisen soll.
Hast ihn verloren,
weil Du so lange in den Himmel nicht geschaut?
889b} Hast wohl so lange in den Himmel nicht geschaut,
weil dir entfallen,
dass dir vom Stern gewiesen wird.
Denn von irgendeinem Ort
im All der Satelliten und der Sonden,
der dunklen Nauten oder blonden,
kannst du kein Licht erwarten,
das dir den Pfad zum weichbedeckten Holz erhellt,
auf dem das Kind sich ausruht
vor beschwerlich langem Weg,
indem es schlafend sucht,
wen es verloren.
889c} Wenn eine leise dazu summt,
wenn einer weise dazu brummt,
dann Du!
Von blassen Strängen
890} Zweimal vierzehn lange Nervenstränge (348) vermittelten einem das Wahrnehmen der Welt, überlegte Herr Z., angefangen beim eigenen Körper und immer noch nicht aufgehört bei jenen unvorstellbar entfernten quasistellaren Radiosystemen am Horizont der Erkennbarkeit; zweimal vierzehn, nicht etwa zwölf oder meinetwegen achthundertneunzig, was auch nicht schlecht wäre. Zwar wenn man bedächte, wie einem erst auf achthundertundneunzig Nervenbahnen herumgetrampelt würde, božica! also besser nur achtundzwanzig plus ein paar zugesetzte. Was dann übrigens weniger mit dem Zodiakus zu tun hätte, eher schon mit den Planeten, genauer gesagt mit dem Mond und seiner Art, Planeten einzuschwingen, indem er im Sonnenlicht spielte. Mit dem Zodiakus hätten mehr die Sinne zu tun,(349) deren Botschaften grossteils über diese blassen Faserbündel zum Stammhirn eilten und sich von dort in Klein- und andere Hirne verteilten. Einige würden sogar bis zur Grosshirnrinde gelangen und dort, falls vorhanden, aufs Denken stossen, Grundlage für die Freiheit; Freiheit, deren erstes i durch ein ch zu ersetzen, so viele Zeitgenossen als Freiheit schlechthin auslebten.
891} Na, die kleine Ežana würde ersteinmal viel schlafen. Dann würde sie sich bewegen und zu spielen anfangen - ei, das eine oder andere Holzspielzeug wollte man schon beibringen. Schlussendlich würde die Kleine aufstehen, gehen und so weiter. Auf jene von alters her angelegte Weise würde sie Strang für Strang in Besitz nehmen. Das würde Nerven brauchen, joi! Doch ohne diese Inbesitznahme würde sie unmöglich ein selbstbestimmtes Leben führen können.
892} Was aber wäre ein selbstbestimmtes Leben? Wenn man sich ansähe, wie allerorten das Streben dahinginge, nach Lust und Laune zu leben, dahin gar, den eben angepeilten Vorteil für den Ausdruck eigener Bestimmung zu halten, dann müsste man ja nicht gerade ausgewiesener Linguist sein, um erkennen zu können, dass eine derart aufgefasste und im übrigen vielstimmig propagierte Selbstbestimmung bloss ein Synonym für Selbstbetrug darstellte. Ein Selbst allerdings, das ausschliesslich den unüberschaubar verknüpften Zellschichten entflimmert, zu dem alle diese zweimal vierzehn weissgelblichen Stränge hinführen, würde sich tatsächlich betrügen, wenn es sich für etwas Bestimmendes hielte. Elana würde sich hüten müssen, in diese Falle zu tappen!
893} Überhaupt lägen einige Fallen im Verborgenen, nicht nur die, sich für sein Nervensystem zu halten oder umgekehrt. Als ob ein Guslaspieler sich für seine Gusla (350) hielte! Eine Guslaspielerin, wie seine eigene Majka eine gewesen war, würde ohnehin nie auf so etwas gekommen sein. Man werde das Mägdelein davor warnen müssen, seine Gedanken als Selbst zu betrachten, seine Gefühle oder gar seinen Willen. Auch den berüchtigten Irrtum werde es vermeiden zu lernen haben, es sei, was es der Welt gegenüber darstelle, was die Menschen so von ihm dächten, da es doch nichteinmal mit der eigenen Persönlichkeit zu verwechseln sei, welche es, wie bisher noch jeder Mensch, lediglich durchs Anstossen an der Welt hervorbrächte. Ei ja, den idiotischen, dennoch immer wiederkehrenden Irrtümern wollte man schon wehren helfen!
894} Herr Z. war mit seinen Überlegungen an einen Punkt gelangt, wo die Emotion der Ratio den Rang streitig zu machen begann. Höchste Zeit war solchenfalls, das sagte ihm seine lebenslange Erfahrung, höchste Zeit für einen eksprešo, oder wie die Zubereitung des Nervengiftes hier genannt wurde, welche seinem heissgeliebten cava in Geschmack und Wirkung am nächsten kam.
Vom Bergkloster
895} Nie hatte ein Sterbliches die Spitze jenes Berges gesehen. Zu keiner Stunde gaben die Wolken seinen Gipfel frei. Selbst dann, wenn der Himmel aus leuchtender Bläue den Schnee an den steilen Flanken erstrahlen liess, zeigte sich der kalte First tief verhüllt, als ob es wusstendiegötterwas zu verbergen galt. Niemand konnte sagen, ob die Spitze überhaupt spitz war oder mehr abgerundet, geschweige denn eine Senke. - Keine Hinde, kein Bär finden sich je in jener Höhe ein. Nichteinmal ein Adler fliegt in deren Undurchdringlichkeit, da weder ein Steinkitz dort erwartet werden kann, noch eine Maus.
896} Auf einem schwindelerregenden Felsvorsprung gegenüber stand in respektvollem Abstand ein rotbraunes Kloster, Stockwerk auf Stockwerk getürmt und von vielen Dächern beschirmt. Die Hängebrücke zur Pforte des kühnen Gebäudes war ausschliesslich in anstrengenden Märschen zu erreichen, tagelang über steinige Saumpfade an gähnenden Abgründen vorbei erbarmungslos bergan. Und kaum eines, das endlich, schwer in der klaren, wiewohl dünnen Luft um Atem ringend, am Klingelstrang zog, wurde eingelassen. Aus einem kleinen Seitenfenster mit fettem Tee gelabt, wurde es sodann freundlich bestimmt, in die dunstige Stätte seiner Herkunft heimzukehren.
897} Wovon lebten die Mönche in jener eisigen Einöde? Oder waren es Nonnen? In den Tälern ringsum hielten sich klamme Gerüchte von strengen, heiligen Frauen, welche seit undenklichen Zeiten einer harten Göttin dienten, einer unnahbar schrecklich schwarzen, wie geraunt wurde, ja männersaugend blutigen.(351) Zwar hatte der Wandermönch, der sich gelegentlich den Flusslauf entlang zum Kloster begab, die Einfältigen ob ihres abergläubischen Argwohns gescholten und sie zur Verehrung der Tara angehalten. Doch sobald er hinter der Biegung der Dorfstrasse die steinerne Brücke überquert hatte, erhob sich wieder das eifernde Geschwätz derer, die Wissen durch Wähnen ersetzen.
898} War es eigentlich nicht schon länger her, dass der orange Gewandete mit seinem roten Überwurf durchs Dorf gezogen, und war er vom hochgelegenen Quellgebiet des Flusses je wiedergekehrt? Wahrscheinlich hatte er einen anderen Rückweg genommen, waren seine Wege doch stets unerforschlich gewesen. Das genügte dem Gemüt, denn kaum einem hier stand der Sinn nach Gedanken über den Verbleib Verschollener. Ein mühseliges Tagewerk wurde verrichtet, Hochzeiten wurden gefeiert, Kinder geboren und Alte starben, durchaus nicht immer in dieser Reihenfolge. Waren Fenster und Türen genügend abgedichtet, um den Wind abzuhalten? Würden die Vorräte an Brenn-, Nahrungs- und Kleidungsstoffen über den nächsten Winter hinaus reichen? Die Wohlhabenderen verfügten eben über mehr Mittel, die Ärmeren, tjanu, über weniger.(352)
899} Nur in der Erinnerung einiger weniger lebte der alte Lama fort als kahlköpfige Gestalt mit dem Stecken, klang nach ein von ihm erteilter Rat, sein breites Lachen auch, stand sein Bild vor dem inneren Auge sich verbeugend mit vor der Brust gefalteten Händen, dahinter manchmal die Sterne. Und im Gesang von dreissig Stimmen wehte die Erinnerung aus der teppichbelegten Halle des Klosters übers Hochtal hin zum verhangenen Berg.
900} Von dessen Spitze, Kuppe oder Krater freilich konnte all dies nicht mehr wahrgenommen werden.
Von offenen Augen
901} Wahrnehmen war ihren Nervenenden noch nicht geläufig. Noch waren die verwirrend verschlungenen Verbindungen, die synaptischen Verschaltungen, wie diese nüchtern genannt werden, dem Denken nicht gewachsen. Umsomehr fühlte sie, und stark war ihr Wille zu leben. Nicht nassgefüllter Windeln wegen erwachte sie oder des Bedürfnisses nach säuerlicher Milch. Vielmehr öffnete sie ihre ungebrochen staunenden Augen stets dann, wenn die innere Welt gleich der Venus am Morgenhimmel verblasste, gleich dem beobachtenden Mond (353) oder der verspielten kleinen Bärin.
902} Die Dunkelheit vor dem Tag hatte in ihrer Seele weder Furcht, noch Trauer erregt. Nichts von Finsternis, die das Licht nicht ergriffen hätte, obschon das Licht das Leben wäre, zumindest der Menschen.(354) Aus der Dunkelheit drang die Schakti als Wort der Sarasvati,(351) nicht dunkel in der Offenbarung von Welten, die lediglich dem Denken unzugänglich sind, wenigstens solange die Maja (196) für wirklich gehalten wird, helle Welten in liebevoller Freude entfalteter, gestalteter Bestimmung.
903} Ohne einen Ton von sich zu geben, lag sie auf dem Rücken und schaute auf die zu lauter Prismen geschliffene Glaskugel, welche, über ihrem Bettchen aufgehängt, von Fall zu Fall in allen Farben aufblitzte. In diesen Lichtkindern erlebte sie Gefährten, und jeder streng geworfene Schatten musste den heiteren Launen weichen, dem fröhlichen Charakter, den die Farben dem Luftraum gerade verliehen. Ein durchsummendes Insekt zum Beispiel schien ihr nichts anderes zu sein als Klang gewordenes Leuchten. Lasst ihn lächeln, den Engel.
904} Lasst ihn lächeln und schaut auf das Kind in seinem Frieden, von ungetrübtem Glauben getragen. Schaut auf das Kind und merkt euch sein Liegen auf unserem blauen Grund, den es sich bald Schritt um Schritt erobern, dann Begriff auf Begriff kennenlernen wird, Wort für Wort lieben. Merkt euch sein Liegen und achtet der Richtung erhoffter Bewegung, die ihm stets neu zur Gegenwart werden mag.(322) Achtet der Richtung und erwidert das Lächeln. Darum bitt'ich euch.
905} Denn auf Schritte, Begriffe und Worte war sie eingestellt wie auf das Tun ihrer Hände; von ihren Eltern zwar nur über die Vererbung, die ihr erst noch vorzuleben und samt allem selbst Mitgebrachten zu erziehen war; dafür umso gründlicher von den Wandlern. In sieben Klassen war sie auf das Unternehmen vorbereitet sowie mit Notwendigem und Zusätzlichem ausgestattet worden. Stumm hatte sie die wesentlichen Gesichtspunkte geschaut, als berechtigt erkannt und sich eingeprägt. Dadurch war ihr der Sinn ihres Unterfangens wie ein Stern aufgeleuchtet. Eingehend war sie an die Wiederverbindung erinnert und mit den jeweils richtigen Verhaltensweisen vertraut gemacht worden. Schliesslich war sie ihrem Begleiter begegnet, der ihr dargelegt hatte, welche Herausforderungen sie annehmen müsse, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen wolle; so hatte sie sich auch nicht gescheut, die nötige Haftung anzunehmen. Dafür hatte sie jedoch viel von ihrer Leuchtkraft eingebüsst. - Geborenwerden fällt schwer.
906} Nichts wusste sie von dem, was vom Kloster zum Berg gesungen wurde, nichts mehr von der strahlenden Heimat, der sie nun verloren war für eine Weile, auch von der Spannung zwischen Kryos und Pyr nichts und der einsamen Grenze. Sie fühlte sich geborgen, gebettet und bereit für das erwartet Unerwartete. Dem brachte sie ihr ungetrübtes Vertrauen entgegen, war sie doch gänzlich der Fülle enthoben.
907} Die Ferne, die sie hereingelassen hatte, war unerreichbar geworden. Die Bewegung, die sie hereingetragen hatte, wirkte nunmehr in ihr selbst, um sie zu bilden, nachundnach ihrer Befreiung zu dienen. Was immer sie werden wollte, war in ihr angelegt gerade wie die Fähigkeiten und Hinderungen, die sie sich deswegen aus lebendiger Vielfalt zusammengezogen hatte, oder die ihr zusammengezogen worden waren.(27) - Wie scheidet ihr dort Aktivität von Passivität, wie Aktiva von Passiva? Bilanzen werden dort nicht gezogen, auch keine Abschlüsse getätigt. Das geschieht hier.
908} Noch war sie nicht Frau, nichteinmal Mädchen strenggenommen. Drei Wege standen ihr offen, der der Nonne, der der Königin, der der Hexe mit ihren dreimal zahllosen Spielarten, aus denen sie den vierten bahnen würde, ihren eigenen. Noch war sie bloss ein Menschenkind, in dessen Gliedern sich die Weisheit zu regen begann, Urkraft allen Daseins. Kaum merklich bedrängte das Atemholen die kleine Brust unter der Wolldecke und erfrischte sie wieder in wunderbarer Mischung. Wachen Blicks folgte sie dem Spiel der farbigen Blitze. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wollte sie auf dieses donnerlose Feuerwerk antworten. Wollte sie singen?
909} Für heute sandte der Sonnenball nur mehr orangerotes Licht durchs offene Fenster. Ein breiter Strahl vergoldete den Raum. Über das Gesicht des Säuglings strich die Abendbrise. Bevor die letzte Farbe verglomm, schlug draussen im Garten ein einzelner kleiner Vogel an.
910} Vor dem Steigen
wohl nach dem Fall
singt so eigen
die Nachtigall (355) -
Dehnt sich wieder die Nacht ins All
nur vor Sternlicht, dem sachten Schall,(210)
dann vergess'ich Ereschkigal (356)
und finde wieder die Macht im All!
Betörend beträllert's die Nachtigall.
https://wfgw.diemorgengab.at/eameara13.htm