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Zitatensammlung Teil 2 |
Zitat von Michael SPRINGER zur |
EMERGENZ |
1a Doch die Emergenz [Auftauchen] ist eine Einbahnstraße; der Erklärungsaufzug in diesem hierarchischen Gebäude fährt nur aufwärts, nie abwärts [Submergenz]. Es ist möglich, die nächsthöhere Ebene durch Herleiten ihrer komplexen Phänomene aus der größeren Komplexität der niedrigeren Ebene zu erklären, aber niemals umgekehrt. Die fundamentale Physik der Quantenmechanik lässt sich nicht mit den Mitteln der nächsten Ebene, der Thermodynamik, beschreiben. Der Zeitpfeil (»Werden«) gehört zur Ebene der statistischen Theorie; er kann nicht abwärts ins Erdgeschoss der reversiblen Teilchenphysik (»Sein«) projizert werden. |
1b Einen solchen Fehler scheinen mir jene Physiker zu begehen, die versucht haben, mit dem Begriff »Information« die Quantenphysik zu erklären. Sie behaupten, die physikalische Realität bestehe auf der fundamentalen Quantenebene weder aus Materie noch Energie, sondern aus Information. Doch wie die Entropie gehört jeder quantifizierbare Begriff von Information nicht zur zeitsymmetrischen Quantenmechanik, sondern entstammt der nächsthöheren Ebene, der statistischen Thermodynamik. |
1c Noch viel weniger lassen sich hochgradig emergente Phänomene wie Intentionen, Entscheidungen oder »freier Wille« irgendwie direkt aus dem Unbestimmtheitsprinzip der Quantenmechanik herleiten, obwohl diese immer wiederkehrende Idee anscheinend große Anziehungskraft ausübt. Quantenmechanische Unbestimmtheit erklärt nicht Entscheidungsfreiheit. |
1d Dieses Beispiel zeigt: Selbst wenn die Emergenz scheinbar in der richtigen Richtung wirkt, das heißt »aufwärts«, kann sie fehlgehen, wenn dabei eine so genannte Sphärenvermengung stattfindet. Ein bekanntes Beispiel ist der Sozialdarwinismus. Er überträgt biologische Begriffe wie »Kampf ums Dasein [struggle for life]« und »Überleben des Tüchtigsten [survival of the fittest]« unkritisch auf die Soziologie. Dabei werden metaphorische Ausdrücke, die Charles Darwin für seine Erklärung der biologischen Evolution prägte - in der Tat angeregt durch zeitgenössische Ideen des britischen Ökonomen Robert Malthus -, missverstanden als vermeintlich naturwissenschaftlich herleitbare Ziele und Werte für menschliche Kulturen. Doch der biologischen Evolution liegt das Prinzip der genetischen Vererbung zu Grunde, während die Geschichte menschlicher Gemeinschaften auf der Weitergabe von kulturellem Erbe beruht. |
1e Andererseits folgt daraus keineswegs, dass die beiden Bereiche absolut nichts gemein hätten; schließlich hat sich die soziale Domäne allmählich in wissenschaftlich rekonstruierbaren Schritten aus dem biologischen Naturreich entwickelt. Darum gibt es ein faszinierendes Gegenbeispiel zum sozialdarwinistischen Missbrauch der Biologie in der Soziologie: die Erforschung der Emergenz von Kooperation und »Altruismus« unter Tieren sowie unter den auf den eigenen Vorteil bedachten Agenten in sozialen Spielen. Offensichtlich sind isolierte Individuen an sich durch ihre biologische Fitness definiert; zusätzlich beginnen sie in ihren Interaktionen mit ihresgleichen Anzeichen von altruistischem Verhalten zu zeigen, das sich dann im Nachhinein als »kulturell« interpretieren lässt. |
1f Damit entwickeln die Individuen einer Population Emergenz wie die Atome eines Gases. Jedes einzelne verhält sich nach zeitlosen Gesetzen, doch insgesamt haben sie eine Geschichte in der Zeit. [...] |
in »Spektrum der Wissenschaft« 9/2012; S.53f |
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Ergänzung |
2a Mit dem Beginn der Aufklärug im 18. Jahrhundert wurden solche holistischen Weltbilder zunehmend in Frage gestellt. Philosophen wie Descartes betrachteten die Natur als eine präzise Maschine, und auch Newton war der festen Überzeugung: Jedes System lässt sich aus seinen Bausteinen rekonstruieren, wenn man dabei die grundlegenden Naturgesetze beachtet. |
2b Etwa 200 Jahre später wurde jedoch klar, dass sich einige Phänomene nicht so kausal auflösen lassen. Im Ganzen können sich Eigenschaften entwickeln, die nicht auf einfache Weise auf die einzelnen Bestandteile zurückzuführen sind. Beim Beispiel des gefrierenden Wassers bewegen sich die unzähligen mikroskopischen Moleküle in der Flüssigkeit zunächst relativ frei. Dann ordnen sie sich in einer Kristallstruktur an - zu festem Eis. Die einzelnen Wassermoleküle sind dabei weder fest noch flüssig. Die Aggregatzustände betreffen das, was aus allen Molekülen gemeinsam entsteht. |
2c Statt die Erklärungslücken für solche Abläufe mit übernatürlichen Kräften zu schließen, entstand im 19. Jahrhundert ein wissenschaftliches Konzept dafür: Emergenz. Verwendet hat den Begriff erstmals der britische Wissenschaftsphilosoph George Henry Lewes, als er in den 1870er Jahren überlegte, wie das Bewusstsein aus einem biologischen Gehirn hervorgehen könnte. |
2d Zunehmend entwickelte sich Emergenz zu einem Forschungsgegenstand. Allerdings lässt sie sich - anders als die Naturgesetze in der Physik - nicht durch konkrete Formeln ausdrücken. Was durch Emergenz entsteht, unterscheidet sich von System zu System. Je detaillierter man eine spezifische Anwendung betrachtet, desto vielfältigere Aspekte können in den Vordergrund treten. |
2e Auch wenn sich Emergenz nicht in eine [quantifizierbare] Gleichung gießen lässt, heisst das nicht, dass ihre Erforschung keine wissenschaftliche Grundlage hat. Es reiche nicht festzustellen, dass etwas irgendwie emergent entsteht, und sich damit zu begnügen, mahnt der Physiker und Philosoph Josef Honerkamp. Emergenz sei schließlich keine Denkfaulheit. Stattdessen müsse man untersuchen, wie genau einzelne Elemente miteinander wechselwirken und zu den emergenten Phänomenen beitragen. |
S.54 |
2f Emergente Phänomene lassen sich nicht erforschen, indem man Objekte in immer kleinere Teile zerlegt. Sie entstehen am Übergang von einer Größenordnung zur anderen. Entscheidend ist daher, mehrere Perspektiven gleichzeitig zu berücksichtigen. Für die wissenschaftlichen Disziplinen bedeutet das: Materialien gehorchen nicht unbedingt nur den Gesetzen der mikroskopischen Elementarteilchenphysik - auf größeren Skalen gelten teilweise andere Regeln. Auch in der Biologie lässt sich eine Zelle nicht direkt aus der Chemie ihrer Moleküle erklären. Und die Dynamik einer Gruppe lässt sich nicht zwangsläufig durch psychologische Analysen ihrer Mitglieder vorhersagen. In diesen Fällen muss man sowohl die Eigenschaften der einzelnen Bestandteile kennen als auch verstehen, wie sie zusammmenwirken. |
2g Eine einheitliche Theorie, die Emergenz abschließend erklärt, gibt es nicht. Ihr Konzept ist universell und zieht sich durch alle Fachbereiche, die den Begriff Emergenz oft unterschiedlich verwenden. Gleichzeitig braucht es meist interdisziplinäre Forschung, um emergentes Verhalten zu erklären - schließlich tragen Vorgänge auf verschiedenen Skalen zu emergenten Phänomenen bei. Ein Ansatz besteht darin, erst jeweils die mikroskopischen und makroskopischen Theorien eines Systems zu verstehen und dann [orthoskopisch] miteinander zu verknüpfen. |
S.55 |
Ronja Gronemeyer in »Spektrum der Wissenschaft« 10/2025 |
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revid.201209/202510 |
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit660060007.htm |