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Zitatensammlung
Teil 1
Zitat von Rudolf STEINER zu
KRANKHEIT und KRIEG
1 Gehen wir von etwas aus, was uns als Menschen naheliegen kann. Menschen werden zu gewissen Zeiten von Krankheiten befallen. Krankheiten betrachtet man gewöhnlich als dasjenige, was unseren Organismus schädigt, was wie ein Feind in unseren Organismus eindringt. Nun ist ein solcher allgemeiner Gesichtspunkt keineswegs immer gerechtfertigt. Gewiß, es gibt Krankheitserscheinungen, die von diesem Gesichtspunkte aus beurteilt werden müssen, wo gewissermaßen die Krankheit wie ein Feind hereindringt in unseren Organismus. Aber nicht immer ist es so. Es ist sogar nicht einmal in den meisten Fällen so, sondern die Krankheit ist in den meisten Fällen ganz etwas anderes. Die Krankheit ist in den meisten Fällen nicht der Feind, sondern gerade der Freund des Organismus. Dasjenige, was der Feind des Organismus ist, geht in den meisten Fällen der Krankheit voran, entwickelt sich im Menschen, bevor die äußerlich sichtbare Krankheit zum Ausbruch gekommen ist. Da sind einander widerstrebende Kräfte im Organismus darin, und die Krankheit, die zu irgendeiner Zeit ausbricht, ist der Versuch des Organismus, sich zu retten vor den einander widerstrebenden Kräften, die vorher nicht bemerkt worden sind. Die Krankheit ist oftmals der Beginn in der Arbeit des Organismus, die Heilung gerade herbeizuführen. Die Krankheit ist das, was der Organismus unternimmt, um die feindlichen Einflüsse, die der Krankheit vorangehen, zu bekämpfen. Die Krankheit ist die letzte Form des Prozesses, aber sie bedeutet den Kampf der guten Säfte des Organismus gegenüber demjenigen, was da unten lauert. Sie ist da, um das herauszutreiben aus dem Menschen, was da unten lauert. Nur dann, wenn wir die weitaus größte Anzahl der Krankheiten so ansehen, dann kommen wir zu einem richtigen Auffassen des Krankheitsprozesses. Es deutet also die Krankheit darauf hin, daß etwas vorgegangen ist vor dem Ausbruch der Krankheit, das gerade durch die Krankheit aus dem Organismus herauskommen soll. Wenn manche Erscheinungen des Lebens im richtigen Lichte gesehen werden, dann kommt man ganz leicht auf das, was eben gesagt worden ist. Die Ursachen können auf den verschiedensten Gebieten liegen. Worauf es ankommt, das ist das, was ich eben angedeutet habe: daß wir die Krankheiten ansehen als etwas, was ein Sich-zur-Wehr-Setzen des Organismus ist gegen die Dinge, die ausgetrieben werden sollen.
2 Nun glaube ich nicht, daß es einen Vergleich gibt, der wirklich so zutreffend sein kann als der Vergleich einer solchen Summe von bedeutsamen, tief eingreifenden Ereignissen, wie wir sie jetzt seit dem Beginn des August 1914 über einen großen Teil der Erde hin erleben, mit einem Krankheitsprozeß des Menschenwerdens. Gerade das muß uns auffallen, daß diese kriegerischen Ereignisse wirklich ein Krankheitsprozeß sind. Aber falsch wäre es, zu glauben, daß wir damit fertig werden, wenn wir einfach diesen Krankheitsprozeß in dem unrichtigen Sinne auffassen würden, wie eben mancher Krankheitsprozeß aufgefaßt wird: als wenn er der Feind des Organismus wäre. Was als Ursache vorliegt, geht voraus dem Krankheitsprozeß. Nun kann uns gerade in unserer Zeit ganz besonders auffallen, wie wenig die Menschen in der Gegenwart geneigt sind, solche Wahrheiten zu berücksichtigen, die sich demjenigen unmittelbar als einleuchtend erweisen müssen, der geisteswissenschaftliche Weltanschauung nicht bloß in den Verstand, sondern auch in die Empfindung aufnimmt.
3 Was als Ursache vorliegt, geht voraus dem Krankheitsprozeß. Nun kann uns gerade in unserer Zeit ganz besonders auffallen, wie wenig die Menschen in der Gegenwart geneigt sind, solche Wahrheiten zu berücksichtigen, die sich demjenigen unmittelbar als einleuchtend erweisen müssen, der geisteswissenschaftliche Weltanschauung nicht bloß in den Verstand, sondern auch in die Empfindung aufnimmt. Wir haben ja vieles unendlich Schmerzliche erfahren müssen gerade im Laufe der letzten, sagen wir, neun Monate - Schmerzliches erfahren müssen mit Bezug auf die Urteilsfähigkeit der Menschen. Ist es denn nicht eigentlich so, wenn man das, was schließlich doch durch die Literatur, die am meisten gelesen und von den verschiedensten Ländern der Erde verbreitet wird, liest, ist es denn nicht so, als wenn die Menschen, die urteilen über die heutigen Ereignisse, annehmen würden, daß im Juli 1914 eigentlich die Geschichte ihren Anfang genommen hat? Das war die traurigste Erfahrung, die wir neben allem andern Schmerzlichen haben mitmachen müssen, daß sich gezeigt hat, wie gerade die tonangebenden oder vielmehr artikelangebenden Menschen, die die öffentliche Meinung machen, im Grunde nichts von dem Werden der Ereignisse wissen und nur auf das Allernächste hinschauen. Daher sind die unendlichen Diskussionen, diese ganz hinfälligen Diskussionen entstanden. Wo liegt die Ursache zu den gegenwärtigen kriegerischen Konflikten? Immer wieder und wiederum hat man gefragt: Hat der die Schuld? Hat jener die Schuld? - und so weiter. Immer ist man kaum weiter zurückgegangen als bis zum Juli, höchstens Juni 1914. Ich erwähne das aus dem Grunde, weil ja das, was ich sage, wirklich ein Charakteristikum unserer materialistischen Zeit ist. Man glaubt gewöhnlich, der Materialismus bringe nur materialistische Denkweise, materialistische Weltanschauung zustande. Das ist nicht so. Der Materialismus bringt nicht nur diese zustande, sondern er bringt auch Kurzsichtigkeit zustande; der Materialismus bringt Denkfaulheit, bringt Einsichtslosigkeit zustande. Dasjenige, was materialistische Denkweise ist, führt dazu, daß man zum Schlusse alles beweisen und alles glauben kann. Und es gehört wirklich zu jener Selbsterziehung, die uns wahrhaft richtig gemeinte Anthroposophie geben muß, daß wir das einsehen, daß man, wenn man bloß auf dem Gebiete des Materialismus stehenbleibt, alles beweisen und alles glauben kann.
Wien, 9.Mai 1915 ☉ (aus «GA 159»; S.177ff)
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit115900177.htm