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Zitatensammlung
Teil 1
Zitat von Rudolf STEINER zu
BÜCHERLESERN und -KRITIKERN
1 Hier an dieser Stelle, wo sonst so oft von Büchern die Rede ist, und denen, die sie schreiben, möchte ich auch einmal einige Worte sprechen über diejenigen, die sie lesen. Das erstere ist allerdings bequemer. Ein Buch ist ein abgeschlossenes Ganzes und kann als ein solches beurteilt werden. Der Autor ist eine bestimmte Individualität, über deren Bedeutung wir eine Ansicht gewinnen können. In beiden Fällen ist also das Objekt, über das wir schreiben, faßbar. Wenn wir aber über die «Leser» schreiben wollen, so kann uns jemand einwenden: Die «Leser im allgemeinen» gibt es überhaupt nicht; der Gegenstand, der besprochen werden soll, kann als ein bestimmter gar nicht gelten; wir können es da nur mit einer ganz nebulosen Vorstellung zu tun haben. Es muß zugegeben werden, daß das Wort «So viel Köpfe, so viel Sinne» auch auf das lesende Publikum seine vollste Anwendung findet. Meine Beobachtungen werden also auf Herrn Schulze in Oberholzhausen und für die Frau Müllerin in Alt-Gabelsberg nicht zutreffen. Aber ich gehöre nun einmal nicht zu jenen Menschen, die da glauben, um eine Ansicht über etwas zu haben, müsse man erst alle in Betracht kommenden Fälle prüfen. Da könnte man bis ans Ende der Tage über keine Sache ein Urteil gewinnen und seine Vernunft vorläufig außer Funktion setzen.
2 Wer überhaupt Augen für eine in einer gewissen Zeit herrschende Eigentümlichkeit hat, dem genügen wenige charakteristische Erscheinungen, um sie zu bemerken.
3 Es ist im Grunde ein allgemeiner Charakterzug unseres ganzen geistigen Lebens, der sich auch in der Wahl dessen ausspricht, was wir mit Vorliebe lesen, daß viele unserer Zeitgenossen mehr, als das bei irgendeinem Geschlecht der Fall war, mit den Nerven leben.*
* Ich weiß, daß der Gang der Kultur im Großen nichts zu tun hat mit der Geistesrichtung derjenigen unserer Zeitgenossen, von denen ich hier rede. Die Höhe moderner naturwissenschaftlicher Anschauungen und die gesunde Kunst unserer Tage, die sozialen Einsichten und Tendenzen bestimmen diesen Gang. Aber ich will hier nicht von der Weltanschauungsentwicklung reden, die es mit den leitenden Geistern und Ideen zu tun hat, sondern von einem für uns Gegenwärtige störenden und die gesunde Entwicklung beeinträchtigenden Seitentrieb.
4 Sie suchen nicht nach Gelegenheit zu energischem Wollen, nicht nach Befriedigung in hohen Gedanken, nicht nach den erhabenen Kunstregionen, in denen Goethes «Iphigenie» oder «Tasso» schweben, sondern nach aufregenden Eindrücken, nach seltenen Sensationen. Die Bläue des Himmels und das Abendrot verlieren ihre Gewalt auf die Menschen, und eine weiche Hand, die sich wie verblaßte alte Seide anfühlt, fängt an, sie zu interessieren. Es gibt heute Kulturmenschen, denen Strindbergs «Gläubiger» interessant sind, während sie sich bei Goethes «Natürlicher Tochter» langweilen. Wenig Verständnis findet noch ein Wort wie das Schillers: «In der Überwindung des Stoffes durch die Form liegt das wahre Kunstgeheimnis des Meisters.» Heute schwelgt man in den Eindrücken, die das Roh-Stoffliche macht. Man betrachtet eben die Welt nicht mehr mit dem Geiste, sondern mit den Nerven. Nicht was die Welt unserem Geiste offenbart, das suchen wir, sondern die «Heimlichkeiten», die wir in allerlei verborgenen Löchern finden. Man hat keine Geduld zu warten, bis ein Eindruck den Weg in das Gehirn gefunden hat; man lauert aber, welche Prozesse sich auf der Peripherie unseres Körpers abspielen. Die Farbenharmonie, die das Auge vermittelt, ist nicht mehr interessant, aber die Aufregung, in die der gekitzelte Sehnerv gerät, möchte man am liebsten beobachten.
5 Dieses Leben mit den Nerven findet sich auch in der Wahl der Lesestoffe unseres Publikums wieder. Man liest heute auch mit den Nerven. Was in einem Buche steht, darauf kommt es weniger an als auf die Aufregung, in die man durch allerlei stilistische Parfüms gerät, die nicht zur Sache gehören. Ich liebe Nietzsche wie irgendeiner, aber seine Wirkung auf viele scheint mir nicht in seinem Gedankengehalte begründet, sondern in den mystischen Wirkungen seines Stiles, die einem kranken Nervensystem ihr Dasein verdanken. Man liest Nietzsche nicht, um ihm in die Höhe seiner Ideen zu folgen, sondern um sich von den Reizmitteln seines Stiles aufregen zu lassen. Ich glaube auch nicht, daß Dostojewskij seinen Ruhm der tiefen Psychologie seiner Figuren verdankt, sondern jenen «Heimlichkeiten», die zur Wirkung gelangen, ehe sie im Gehirn angelangt sind. Zweierlei muß ein Schriftsteller können, wenn er heute eine große Wirkung haben will: Er muß den Geist durch narkotische Mittel einlullen und den Körper durch allerlei Reize aufregen.
6 Es gibt Leute, die darin einen Fortschritt sehen, daß wir zur Kunst «der heimlichen Nerven» gelangt sind, und die alle diejenigen als elende Philister verketzern, die es bis zu solcher Nervenkultur nicht gebracht haben. Mit solchen Menschen läßt sich nicht streiten, denn zum Streit gehört Urteil; und das Urteil sitzt nicht in den Nerven.
7 Wo liegt aber das eigentliche Übel? Liegt es in den Schriftstellern, die heute die Lesewelt beherrschen? Oder liegt es am Publikum, das durch einen sozialen Motor auf unnatürliche Bahnen gelenkt wird? Die erstere Frage ist unbedingt mit Nein zu beantworten. Wer möchte die psychologischen Wühlereien Dostojewskijs in seiner grandiosen Darstellung, die tiefwahren Deutungen, die Tolstoi dem Menschenleben gibt, verantwortlich machen dafür, wie sie vom Publikum gelesen werden? Hier, in dem: Wie man heute liest, darin liegt es. Wer sich objektiv den dargestellten Problemen hingibt, dem wird auch bei Zola die künstlerische Form höherstehen als die sinnliche Aufregung, die er beim Lesen hat. Unsere Zeitgenossen auf ihrer vorgeschrittenen Kulturstufe halten es aber damit genau so, wie ihre ungebildeten Mitmenschen mit ihren Räuberromanen und Mordaffären.
8 Aber die Leser selbst sind noch weniger anzuklagen als diejenigen, von denen sie sich leiten lassen. Ein Geschlecht von Kritikern ist erstanden, die dem Publikum einreden, das sei erst der rechte, der moderne Geschmack: Goethe und Schiller lebten und wirkten in einem aristokratischen Wolkenkuckucksheim mit ihren abstrakten Geschmacksurteilen.
9 «Wahr» müsse die Kunst vor allen Dingen sein, das spricht heute einer dem andern nach, und «wahr» seien Goethe und Schiller mit ihren «Idealen» und ihren «Typen» nicht gewesen. Diese Kritikerleins glauben dabei wirklich, daß ihre abgegriffenen Kupfermünzen von Begriffen hinreichen, um sich in Besitz dessen zu setzen, was Schiller und Goethe Wahrheit genannt haben. Dergleichen Dinge lernt man nicht in den Kaffeehäusern kennen. Ich habe sie dutzendweise gelesen, die Bücher der neuesten Ästhetiker, und ich werde nicht müde, deren Ansichten doch Tag für Tag wieder in den Zeitungen zu verfolgen. Immer und immer wieder bilde ich mir noch ein: Der Most müsse sich klären. Aber stets treten zu den neuen noch neuere und neueste dazu, die ihre Vorgänger an Unklarheit und Unbildung überbieten. Man kann heute die Erfahrung machen, daß Leute, die geistig produktiv sein wollen, die deutsche Literatur bloß bis zum Jahre 1885 zurückverfolgt haben. Sie tun es oft unter dem Beifall des Publikums, das sich dabei wieder auf die Kritiker verläßt.
10 Ich wundere mich immer wieder über die Süffisance, mit der diese Herren Kritiker die Feder führen. Daß sie keine Ahnung haben, wieviel sie wissen könnten, das muß man ihnen verzeihen, denn niemand kann wissen, was eben über seinen Horizont geht. Aber daß sie nichts gelernt haben, das müssen sie wissen, und das wissen sie auch. Sie wissen es, denn sie tun alles, um auch von dem Publikum bessere Erzeugnisse fernzuhalten. Ein höherer Bildungsgrad der Leser wäre unsern Kritikern gefährlich. Kein Mensch soll merken, daß es geistige Erzeugnisse gibt, die hoch über dem stehen, was der Kritiker seines Leibblattes zu beurteilen vermag. Dazu ist das Totschweigesystem erfunden. Ein Buch, das unbequem wird, wird einfach beiseite gelegt.
11 Und hier ist ein zweiter Krebsschaden unserer Zeit zu suchen: In dieser Abhängigkeit des Publikums von dem Afterurteile oft ganz inferiorer Menschen. Haarsträubend sind sie oft, diese Urteile, aber sie kleben doch einem Werke an wie eine Etikette. Solange sich unser Publikum nicht befreit von dem hypnotisierenden Einfluß des gedruckten Wortes und noch immer glaubt: Aber doch ein Sinn muß in der Druckerschwärze liegen, solange werden die eben besprochenen Übelstände nicht beseitigt werden, solange werden wir in geistigen Dingen keine wahrhafte öffentliche Meinung haben. Erst dann, wenn sich die Leser zu dem Standpunkte erheben, wo sie den Schriftsteller deswegen hören, weil sie ihre Meinung gern an einer anderen messen und klären wollen, dann ist der Verkehr zwischen Schreibenden und Lesenden ein befriedigender. Ratgeber, Gedankenanreger soll der Kritiker sein, nicht Autorität.
in »Magazin für Literatur« 1899; 68.Jg., Nr.45 (aus «GA 32»; S.11ff)
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit103200011.htm