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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Omri BOEHM zur
PROPHETIE
1 Der Versuch einer philosophischen Antwort auf diese Frage [, was Prophetie sei,] mag heute überholt erscheinen, stand aber einmal im Mittelpunkt der philosophischen Spekulation, aus dem einfachen Grund, dass die Prophetie als Vermittlung von Wahrheit galt. Maimonides, die größte rationalistische jüdische Autorität aller Zeiten, bietet eine Definition der Prophetie im 36. Kapitel des 2. Buchs seines Führers der Unschlüssigen. Die »Prophetie«, heißt es dort, ist
2 die Emanation, welche von Gott durch die Vermittelung der aktiven Vernunft sich zuerst auf das Denkvermögen und dann auf die Einbildungskraft ergießt[,] und dies ist die höchste Stufe des Menschen und die äußerste Vollkommenheit, die bei seiner Art vorhanden sein kann […].¹⁹⁷
3 Die Gabe der Imagination und nicht der Intellekt ist hier die Grundbedingung der Prophetie, und sie wird nicht jedem zuteil:
4 Dies [die Prophetie] ist ein Ding, das durchaus nicht bei allen Menschen vorkommen kann und zu dem sie auch nicht durch die Vollkommenheit in den spekulativen Wissenschaften und durch die Vervollkommnung des Charakters gelangen können, wenn sie selbst alle die äußerst mögliche Tüchtigkeit und Vorzüglichkeit besäßen, außer wenn noch die äußerst mögliche Vollkommenheit der Einbildungskraft im Beginne ihrer Erschaffung hinzutritt.¹⁹⁸
5 Die Schlüsselrolle der Einbildungskraft für die prophetische »Bestimmung« ist nicht willkürlich. Während wissenschaftliche Tatsachenkenntnis durch Gegenstände bestimmt ist, die den Sinnen gegeben sind, ist die intellektuelle (das heißt die begriffliche) Erkenntnis durch die Regeln des Denkens bestimmt. Die Einbildungskraft ist damit das einzige Vermögen, dessen Funktionsweise nicht durch gegebene Gegenstände oder vorgeschriebene Normen bestimmt ist. Diese Freiheit mag Fehler und Illusionen verursachen - und tut es auch oft -, macht sie aber auch zu einem Quell der Erfahrung dessen, was jenseits bloß faktischer Wahrheiten liegt. Wie Leo Strauss einmal kommentierte: »Weil nun ferner die Einbildungskraft unabhängig vom sinnlichen Wahrnehmen funktionieren kann, darum besteht die Möglichkeit, daß die Einbildungskraft vom Verstand her in den Dienst des Erfassens des Unsinnlichen gezwungen wird; darum ist Prophetie möglich.«¹⁹⁹
6 Als zentrales prophetisches Vermögen ist die Einbildungskraft für Maimonides »das politische Vermögen par excellence«.²°° Sie ermöglicht es dem Propheten nicht nur, einen Ruf von oben zu erfahren, sondern auch, den Massen diesen Ruf erfolgreich zu vermitteln. Die Frage ist nun, wie diese Vermittlung zu verstehen ist. Und einer verbreiteten Auffassung nach, die oft Maimonides zugeschrieben wird, heißt Prophetie nichts anderes, als den Menschen Gottes Gesetz zu geben. Maimonides, so wird allgemein angenommen, betrachtete Mose, der den Monotheismus begründete, als er den Israeliten die Zehn Gebote vom Berg Sinai überbrachte, als den obersten Propheten. Diese Identifikation wiederum entscheidet nicht nur über das Wesen der Prophetie, sondern auch über das des Monotheismus, des Ursprungs des Universalismus, der durch jene Prophetie verkündet wurde. Der Dekalog ist eine Reihe geschriebener Gebote, die mit einer Serie monotheistischer Dekrete beginnt (»Du sollst keine anderen Götter haben neben mir«) und befreiten Sklaven auferlegt wurde, um ihnen Gehorsam abzuverlangen. Diese Logik geht Hand in Hand mit der sogenannten »mosaischen Unterscheidung« oder dem »Preis des Monotheismus«, nämlich der Idee, dass der Glaube an diese ausschließliche Gottheit eine intolerante absolute Autorität hervorbringt, die den Monotheismus als gefährliche Auferlegung eines absoluten Gesetzes vergiftet - Nietzsche sollte es als Sklavenmoral abqualifizieren.²°¹
7 Diese lange gültige Interpretationstradition liegt jedoch daneben. Mose ist nicht der oberste monotheistische Prophet Maimonides’ oder der Bibel. Der biblische Monotheismus ist nicht nur die Entdeckung einer einzigen wahren Gottheit, und die Auferlegung der Gesetze jener Gottheit ist nicht das, was die Prophetie ausmacht.
8 Der erste Grund, daran zu zweifeln, dass der Überbringer der Zehn Gebote für Maimonides der wichtigste Prophet ist, ergibt sich aus dem biblischen Text. Maimonides’ »offizielle« Position lautet, dass Mose im Unterschied zu anderen Propheten prophetisch wirkte, ohne dass er dafür auf die Vermittlung der Einbildungskraft angewiesen gewesen wäre - er sah Gott direkt. Das jedoch ist eine missliche Behauptung. Der biblische Text bestätigt sie nicht nur nicht, sondern widerlegt sie, insofern er Moses Prophetie in derselben bildhaften, fantasievollen Sprache beschreibt, wie sie für alle Propheten typisch ist.²°² Auch wird in der Bibel unmissverständlich gesagt, dass kein Sterblicher Gott sehen und überleben kann. Maimonides kann unmöglich vergessen haben - oder davon ausgegangen sein, seine gebildete Leserschaft könnte vergessen haben -, dass dieses Verbot niemand anderem als Mose selbst diktiert wurde, der die Gottheit direkt zu sehen wünschte, aber zurückgewiesen wurde: »Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.«²°³
9 Diese Diskrepanz zwischen dem Führer der Unschlüssigen und dem Text der Bibel ist signifikant. Maimonides eröffnet sein Buch mit der Warnung, dass dessen wahre Bedeutung, wie die der Bibel, verborgen ist.²°⁴ Die offenkundige (»exoterische«) Position, die er entfaltet, ist nur für die Massen gedacht; die wahre Lehre muss von jenen Lesern, die den Widersprüchen und Hinweisen in seiner Argumentation nachzugehen vermögen, freigelegt werden. Dazu müssen sie anhand dieser Indizien seine wahre Position ableiten, indem sie verschiedene Kapitel vergleichen und die versteckte (»esoterische«) Wahrheit des Buches rekonstruieren.
10 Unser Verdacht wächst, wenn wir Maimonides’ hierarchische Klassifikation der Prophetie betrachten.²°⁵ Die elfte und höchste prophetische Stufe, die er nennt, ist die, in der ein Prophet »in der Vision einen Engel sieht, der mit ihm redet […]«.²°⁶ Maimonides fragt dann - ohne Mose zu erwähnen -, ob es noch eine weitere, höhere Stufe der Prophetie gibt, »ob es ferner auch möglich ist, daß der Prophet in der prophetischen Vision hören kann, als ob Gott mit ihm redete«. Was er verneint: Das »halte ich für unwahrscheinlich und dazu reicht die Tätigkeit der Einbildungskraft nicht aus. Wir finden auch diesen Zustand bei den übrigen Propheten nicht.«²°⁷
11 Bemerkenswerterweise widerspricht diese Behauptung erneut Maimonides’ offenkundiger Position zu Mose, der Gott angeblich unmittelbar gesehen hat. Gleichzeitig steht diese Behauptung tatsächlich in völliger Übereinstimmung mit dem biblischen Text, wo die Unmöglichkeit, die Gottheit direkt zu erblicken, Mose selbst erklärt wurde. Maimonides’ Einteilung der prophetischen Stufen impliziert, dass die prophetische Kategorie des Mose, die die zwölfte und höchste gewesen wäre, nicht existiert - er gehört einer niedrigeren prophetischen Kategorie an, nämlich derjenigen, die Gott sehen, aber in einem bloßen Traum statt leibhaftig. Womit wiederum Moses Rolle als oberster monotheistischer Prophet und das herkömmliche Verständnis dessen, worum es im Monotheismus zu gehen scheint, dekonstruiert wird.
12 Diese Schlussfolgerung wird durch die Tatsache erhärtet, dass uns Maimonides im selben Kapitel des Führers ganz unmissverständlich mitteilt, was das höchste Beispiel der Bibel für Prophetie ist. Unmittelbar nachdem er den höchsten prophetischen Zustand als jenen definiert hat, in dem der Prophet »in der Vision einen Engel sieht, der mit ihm redet«, ergänzt Maimonides: »wie Abraham in der Stunde, als er seinen Sohn opfern wollte. Dies ist aber meiner Ansicht nach die höchste der Stufen der Prophetie, deren Zustände die H. Bücher bezeugen.«²°⁸ Wenn sie nicht mosaisch ist, sondern abrahamitisch, was ist dann Prophetie?
S.105ff
197 Moses Maimonides: Führer der Unschlüssigen, übers. und komm. von Adolf Weiß, mit einer Einl. von Johann Maier, Hamburg 1995, Buch 2, Kap. 36, S. 238.
198 Ebd., S. 238 f.
199 Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologischpolitischem Traktat. Gesammelte Schriften, Bd. 3, unter Mitw. von Wiebke Meier hrsg. von Heinrich Meier, 3. Aufl., Stuttgart / Weimar 2008, S. 236. Zu einer jüngeren Diskussion von Maimonides’ Verständnis der Prophetie, die auch seinen Einfluss auf Spinoza berücksichtigt, vgl. Heidi M. Ravven: »Some Thoughts on What Spinoza Learned from Maimonides about the Prophetic Imagination. Part 1. Maimonides on Prophecy and the Imagination«, in: Journal of the History of Philosophy 39 (2001), H. 2, S. 193–214. Noch jüngeren Datums ist Ilaria Gaspari: »Immaginazione produttiva e profezia, fra Maimonide e Spinoza«, in: Teoria 32 (2012), H. 2, S. 169–197.
200 Moses Maimonides: Guide of the Perplexed, übers. von Shlomo Pines, Chicago 1963, Einleitung des Übersetzers, S. LXXXIX.
201 Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München / Wien 2003.
202 Pines: Einleitung des Übersetzers des Guide of the Perplexed, S. XXXII f.
203 2. Mose 23, 20.
204 Maimonides: Führer der Unschlüssigen, Einleitung zu Buch 1.
205 Ebd., Buch 2, Kap. 44/45.
206 Ebd., Kap. 45, S. 295.
207 Ebd., Kap. 45, S. 297 (meine Hervorh.).
208 Ebd., Kap. 45, S. 295 (meine Hervorh.).
S.150f
aus «Radikaler Universalimus»
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit028330105.htm