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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von José ORTEGA Y GASSET zu
STOLZ und EITELKEIT
1 Es gibt zwei grundverschiedene Arten menschlicher Selbstbewertung. Nietzsche mit seinem genialen Blick für alle Wertphänomene hat dies gesehen. Man trifft Menschen, die nur auf sich selber schauen und nur nach ihrem Selbstgefühl gehen, wenn sie sich einen bestimmten - größeren oder geringeren - Wert zuschreiben. Wir wollen dies als spontane Selbstbewertung bezeichnen. Andere hingegen blicken, wenn sie sich eintaxieren, erst auf die Mitmenschen und auf die Beurteilung, die sie bei diesen gefunden haben. Diese Wertung wollen wir die reflektierende nennen. Im Seelenleben des Individuums dürfte es schwerlich eine wichtigere Grundtatsache geben als die jeweilige Bewertungsart. Es handelt sich hier um eine elementare Veranlagung, in welcher der ganze übrige Charakter wurzelt. Man zählt a nativitate zum einen oder zum anderen Typ: zu denen, für die es ausschlaggebend ist, wie sie sich selbst einschätzen, oder zu denen, für die es entscheidend ist, wie sie eingeschätzt werden. Der Stolz findet sich nur bei Individuen des ersten Typs, bei denen des zweiten tritt an seine Stelle die Eitelkeit.
2 Diesen beiden Wesenstendenzen entsprechen zwei entgegengesetzte Richtungen seelischer Gravitation. Die Seele mit der reflektierenden Selbstbewertung gravitiert nach den Mitmenschen hin und lebt aus ihrer gesellschaftlichen Umgebung. Die Seele mit der spontanen Selbstbewertung hingegen trägt ihren Schwerpunkt in sich selbst, und die Meinung der anderen vermag sie niemals entscheidend zu beeinflussen. Aus diesem Grund kann man sich kaum zwei gegensätzlichere Leidenschaften vorstellen als Stolz und Eitelkeit. Sie entspringen konträren Wurzeln und nehmen innerhalb der Seele zwei verschiedene Plätze ein. Eitelkeit ist eine peripherische Leidenschaft, die an der Außenseite der Seele wohnt, während der Stolze den Stolz im tiefsten Grunde seines Inneren trägt.
3 Hier jedoch gilt es, einem Mißverständnis vorzubeugen. Der Mensch der spontanen Selbstbewertung wird sich zwar nicht darum kümmern, welche Beurteilung er bei den anderen gefunden hat; aber das hat keineswegs zu bedeuten, daß er bei der Eintaxierung der eigenen Person nicht darauf achten würde, was die anderen wert sind. Spontane Selbstbewertung braucht nicht unbescheiden zu sein, es ist durchaus möglich, daß sie gerecht, feinfühlig und treffend ist. Das Individuum hat, wenn es sich auf eine bestimmte Wertstufe stellt, dabei diejenigen im Auge, die seines Erachtens dem Mitmenschen angemessen ist.
in „Zu einer Topographie des spanischen Stolzes”, 1923
aus «Gesammelte Werke III»; S.329ff
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit010430329.htm