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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von José ORTEGA Y GASSET zum
EXPERTENTUM und MECHANISIERUNG
1 Die Entwicklung der Einzelwissenschaften hebt gerade in einer Zeit an, die für den gebildeten Menschen den Namen des Enzyklopädisten, des „Alleswissers”, geprägt hat. Das 19. Jahrhundert beginnt seinen Lauf unter der Führung von Menschen, die enzyklopädisch leben, obgleich ihre schöpferische Arbeit schon einen speziellen Charakter trägt. In der nächsten Generation hat sich der Schwerpunkt bereits verschoben, das einzelwissenschaftliche Interesse beginnt, in jedem Gelehrten die Allgemeinbildung zu verdrängen. Wenn um 1890 eine dritte Generation die geistige Führung Europas übernimmt, tritt ein Gelehrtentypus auf, der in der Geschichte nicht seinesgleichen hat. Es sind Leute, die von allem, was man wissen muß, um ein verständiger Mensch zu sein, nur eine bestimmte Wissenschaft und auch von dieser nur den kleinen Teil gut kennen, in dem sie selbst gearbeitet haben. Sie proklamieren ihre Unberührtheit von allem, was außerhalb dieses schmalen, von ihnen speziell bestellten Feldes liegt, als Tugend und nennen das Interesse für die Gesamtheit des Wissens Dilettantismus.
2 Es gelingt ihnen tatsächlich, in ihrem engen Gesichtsfeld neue Tatsachen zu entdecken und so ihrer Wissenschaft, die sie kaum kennen, und damit dem Universum des Geistes, das sie gewissenhaft ignorieren, zu dienen. Wie war und ist so etwas möglich? Heben wir mit allem Nachdruck folgende unglaubliche, aber unleugbare Tatsache hervor: Die Experimentalwissenschaften haben sich zum guten Teil dank der Arbeit erstaunlich mittelmäßiger, ja weniger als mittelmäßiger Köpfe entwickelt. Das bedeutet, daß die moderne Wissenschaft, Wurzel und Sinnbild der gegenwärtigen Kultur, dem geistig Minderbemittelten Zutritt gewährt und ihm erfolgreich zu arbeiten gestattet. Der Grund hiefür liegt in der Erscheinung, die zugleich den größten Vorteil und die schwerste Gefahr der neuen Wissenschaft und der ganzen von ihr gelenkten und verkörperten Zivilisation bedeutet: in der Mechanisierung. Ein gut Teil dessen, was in der Physik oder Biologie zu tun ist, besteht aus mechanischen Anwendungen oder Verallgemeinerungen, die eigentlich jeder beliebige machen kann. Eine ganze Anzahl von Untersuchungen ist sehr wohl durchführbar, wenn die Wissenschaft in kleine Parzellen eingeteilt wird und der Forscher sich in einer davon ansiedelt und um alle anderen nicht kümmert. Die Festigkeit und Exaktheit der Methoden gestattet diese vorübergehende praktische Zerstückelung [Analyse] des Stoffes. Man arbeitet mit diesen Methoden wie mit einer Maschine und braucht, um zu einer Fülle von Ergebnissen zu gelangen, nicht einmal deutliche Vorstellungen von ihrem Sinn und ihren Grundlagen zu haben. So fördert der Durchschnittsgelehrte den Fortschritt der Wissenschaft, eingesperrt in seiner Laboratoriumszelle wie eine Biene in der Wabe ihres Stocks oder wie der Gaul im Laufkreis des Göpels.
3 Aber dies erzeugt ein Geschlecht höchst wunderlicher Menschen. Der Forscher, der eine neue Naturtatsache entdeckt hat, muß ein Gefühl der Überlegenheit und Sicherheit bekommen. Nicht ohne einen Schein des Rechts wird er sich für einen „Wissenden” halten. Und in der Tat besitzt er ein Stück Erkenntnis, das zusammen mit anderen, die er nicht besitzt, das wahrhafte Wissen aufbaut. Das ist die innere Lage des Fachgelehrten, der im Anfang unseres Jahrhunderts zu übertriebenster Entwicklung gelangte. Der Spezialist ist in seinem winzigen Weltwinkel vortrefflich zu Hause; aber er hat keine Ahnung von dem Rest.
in „Der Aufstand der Massen”, 1930
aus «Gesammelte Werke III»; S.88ff
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit010430088.htm