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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Mircea ELIADE zur
ENTSTEHUNG des HELLENISMUS
1 Die von Alexander eingeleitete Einigung der geschichtlichen Welt vollzog sich in der ersten Zeit [um 330 v.] durch die massive Einwanderung der Hellenen in die orientalischen Regionen und durch die Verbreitung der griechischen Sprache und hellenischen Kultur. Das Umgangsgriechisch (koine [ἡ κοινή ~ die Gemeinsame]) wurde von Indien [hauptsächlich dem heutigen Pakistan] und dem Iran bis nach Syrien, Palästina, Italien und Ägypten gesprochen und geschrieben. In den alten oder neugegründeten Städten [oft Alexandria genannt] bauten die Griechen Tempel und Theater und errichteten ihre gymnasia [τὰ γυμνάσια ~ die Übungsplätze]. Die Erziehung des griechischen Typs wurde fortschreitend von den Reichen und Privilegierten aller [vorder- und mittel-] asiatischen Länder übernommen. Von einem Ende bis zum anderen der hellenistischen Welt wurden Wert und Bedeutung der „Bildung” und der „Weisheit” gepriesen. Die Bildung - immer auf eine Philosophie gegründet - erfreute sich eines fast religiösen Ansehens. Niemals in der Geschichte war Bildung so gefragt, zugleich als Mittel zum sozialen Aufstieg und als Instrument der spirituellen Vervollkommnung⁵².
2 Die Modephilosophien, an erster Stelle die Stoa, die von einem Semiten aus Zypern, Zenon von Kition, gegründet wurde⁵³, aber auch die Lehren Epikurs und der Zyniker setzten sich in allen Städten der oikumene [ἡ οἰκουμένη ~ die bewohnte Welt] durch. Das, was man die „hellenistische Aufklärung” genannt hat, ermutigte gleichermaßen zu Individualismus und Kosmopolitismus. Der Zerfall der Polis hatte das Individuum von seinen uralten Bindungen bürgerlicher und religiöser Art befreit; auf der anderen Seite zeigte ihm diese Befreiung seine Einsamkeit und Entfremdung in einem durch seine Rätselhaftigkeit und seine Größe beängstigenden Kosmos. Die Stoiker erboten sich, das Individuum zu stützen, indem sie die Entsprechungen zwischen der Stadt und dem Universum aufzeigten. Schon Diogenes, der Zeitgenosse Alexanders, hatte erklärt, er sei ein „kosmopolites [κοσμοπολίτης]”, ein „Weltbürger”⁵⁴ (anders ausgedrückt: Diogenes fühlte sich nicht als Bürger irgendeiner Stadt, irgendeines Landes). Doch die Stoiker haben die Idee verbreitet, alle Menschen seien kosmopolitai - Bürger der gleichen Bürgerschaft, des Kosmos -, wie auch immer ihre soziale Herkunft oder ihre geographische Lage sei⁵⁵. [...]
3 Auch Epikur propagierte den „Kosmopolitismus”, aber sein Hauptziel war das Wohlergehen des einzelnen. Er glaubte an die Existenz der Götter, doch die Götter hatten weder mit dem Kosmos noch mit den Menschen etwas zu tun. Die Welt war für ihn ein Triebwerk, das auf rein mechanische Weise zustande gekommen ist und weder einen Urheber noch eine Bestimmung hat. Der Mensch war folglich frei, die Lebensweise zu wählen, die ihm am besten entsprach. Die Philosophie Epikurs hatte die Absicht, zu zeigen, daß Heiterkeit und Glück, wie sie durch die ataraxia [ἡ ἀταραξία ~ die Gemütsruhe] gewonnen werden können, die bestmögliche Existenzweise bestimmen.
4 Der Begründer des Stoizismus formuliert sein System in Opposition zur Lehre Epikurs. Nach Zenon und seinen Schülern hat sich die Welt von der ursprünglichen Epiphanie des Gottes aus entwickelt, dem Feuerkeim, der zur Entstehung der „samenhaften Vernunft” (logos spermatikos [ὁ λόγος σπερμάτικος]), also des Weltgesetzes, führte. Ebenso geht auch die menschliche Intelligenz aus einem göttlichen Funken hervor. In diesem monistischen Pantheismus, der eine einzige Vernunft postuliert, ist der Kosmos „ein Lebendes voller Weisheit” (Stoicorum veterum Fragmenta, I, Nr. 171 ff, II, Nr. 441 - 444 ff). Deshalb entdeckt der Weise tief in seiner Seele den gleichen Logos, der auch den Kosmos bewegt und beherrscht (eine Vorstellung, die an die ältesten Upanishaden erinnert [...]. Der Kosmos ist also intelligibel und einladend, da er von der Vernunft durchdrungen ist. Wenn der Mensch weise lebt, verwirklicht er seine Identität mit dem Göttlichen und nimmt in Freiheit sein eigenes Schicksal an.
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⁵² In West- und Mitteleuropa kann man erst im 17. Jahrhundert eine vergleichbare Begeisterung erkennen, nämlich die für die „neue Wissenschaft”, also eine neue Methode der naturwissenschaftlichen Belehrung und Forschung, durch deren Vermittlung man die christliche Welt zu modernisieren und zu reformieren gedachte.
⁵³ Um 315 in Athen angekommen, eröffnete er um 300 seine Schule in der „Säulenhalle der Maler” (stoa poikile). Epikur, in Samos als Sohn eines Atheners geboren, lehrte seit ungefähr 306 in Athen.
⁵⁴ Diogenes Laertes, Philosophenleben 6,22. Aber die Zyniker waren einzig am Wohlergehen des einzelnen interessiert und kümmerten sich nicht um die Gemeinschaft.
⁵⁵ M. Hadas, From Nationalism to Kosmopolitanism 107 ff und ders., Hellenistic Culture 16 ff.
S.180f
5 Wie die neuen Philosophien zielten auch die den hellenistischen Religionen eigenen Neuerungen auf das Heil des Individuums. Es gibt immer mehr geschlossene Gesellschaften, die Initiationen und eschatologische Offenbarungen beinhalten. Die Initiations-Tradition der Mysterien von Eleusis wird von verschiedenen mysteriosophischen Religionen wiederaufgenommen und ausgeweitet, die sich um Gottheiten bildeten, von denen man annahm, sie hätten den Tod gekannt und besiegt. Derartige Gottheiten standen dem Menschen näher, sie interessierten sich für seinen geistigen Fortschritt und sicherten sein Heil. Neben den Göttern und Göttinnen der hellenistischen Mysterien - Dionysos, Isis, Osiris, Kybele, Attis, Mithras - werden andere Gottheiten aus den gleichen Gründen populär: Helios [später lat. Sol invictus], Herakles, Äskulap schützen das Individuum und stehen ihm bei⁵⁷. Selbst vergöttlichte Könige erscheinen als wirkungsvoller als die traditionellen Götter: der König ist „Retter” (sotér [ὁ σωτήρ ), er verkörpert das lebendige Gesetz (nomos empsychos [ὁ νόμος ἔμψυχος]).
6 Der griechisch-orientalische Synkretismus, der die neuen Mysterienreligionen bestimmt, macht zu gleicher Zeit auch die mächtige spirituelle Reaktion des von Alexander besiegten Orients deutlich. Der Orient wird als Vaterland der ersten und angesehensten „Weisen” gepriesen, als das Land, in dem die Lehrer der Weisheit die esoterischen Lehren und Heilsmethoden am besten bewahrt haben. Die Legende von der Diskussion Alexanders mit den indischen Brahmanen und Asketen spiegelt die fast religiöse Bewunderung für die indische „Weisheit”. Vom Orient aus verbreiten sich später bestimmte Apokalypsen (verbunden mit besonderen Geschichtsauffassungen), neue Formen der Magie und der Angelologie und viele „Offenbarungen”, die in der Folge ekstatischer Reisen in den [oder die] Himmel und das Jenseits erlangt wurden.
7 [...] Fügen wir hier einstweilen nur hinzu, daß aus der Sicht der Religionsgeschichte die von Alexander begonnene und im römischen Kaiserreich vollendete Einigung der geschichtlichen Welt [ohne Ostasien, Amerika und Afrika] vergleichbar ist mit der durch die Verbreitung des Ackerbaus entstandenen Einheit der neolithischen Welt. [...]
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⁵⁷ Siehe C. Schneider, Kulturgeschichte des Hellenismus II , 800 ff, 838 ff und 869 ff.
S.182
aus «Geschichte der religiösen Ideen - Bd.2»
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit007100180.htm