zum IMPRESSUM
Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Martin BUBER zur
LEGENDE im CHASSIDISMUS
1 Die Legende, diese Spätform der Sage, ist in den Weltliteraturen zumeist in einem Zeitalter entstanden, in dem die Ausbildung der literarischen Erzählungsform sich neben ihr vollzieht oder gar sich entscheidend bereits vollzogen hat. Im ersten Fall wird sie von jener beeinflußt, im zweiten von ihr bestimmt. Die buddhistische Legende und das indische Kunstmärchen, die franziskanische Legende und die früh-italienische Novelle gehören zusammen.
2 Mit der chassidischen Legende [der osteuropäischen Juden des XVIII. bis XX. Jahrhunderts] verhält es sich ganz anders. Eine literarische Erzählungsform hat sich im Judentum der Diaspora, das in der volkstümlichen verharrt, erst in unserem Zeitalter auszubilden begonnen. Was sich die Chassidim zum Preis ihrer Meister [Zaddiqim] erzählten, konnte sich an keine schon ausgebildete oder in der Bildung begriffene Form anschließen, aber auch den Anschluß an die Volksdichtung konnte die Legende hier nur teilweise vollziehen. Zumeist war ihr inneres Tempo zu überstürzt für die gelassene Form der Volkserzählung, sie wollte zu viel sagen, als daß sie an ihr hätte Genüge finden mögen. So ist sie formlos geblieben.
3 Wir können am Beispiel der Baalschem-Legende verfolgen, wie die legendäre Überlieferung im Chassidismus sich entwickelt. Familienlegende und Schülerlegende umfließen als Andeutungen geheimnisvoller Vorgänge schon den Lebenden und verfestigen sich nach seinem Tode zu Erzählungen, von denen manche in Handschrift und im Druck kursieren, bis ein Vierteljahrhundert danach bestimmte Gruppen davon gesammelt in Büchern erscheinen: die Familienlegende in den Geschichten, die der vom Baalschem selber erzogene Enkel, Rabbi Mosche Chajim Efraim, in sein Werk «Die Lagerfahne Efraims» eingestreut hat, die Schülerlegende in den Geschichten, die etwa gleichzeitig in die erste Auswahl von Sprüchen des Baalschem, die «Krone des guten Namens», Aufnahme gefunden haben. Aber ein weiteres Vierteljahrhundert vergeht, bis die große legendäre Biographie, die «Lobpreisungen des Baalschemtow» veröffentlicht wird, worin jedes Stück auf einen Erzähler aus dem nächsten Umkreis der Freunde und Anhänger zurückgeführt wird. Daneben laufen noch besondere Traditionen, wie die in der Familie des großen Maggid, die in der Familie des Rabbi Meïr Margaliot oder die in der Schule von Korez erhaltene, die sich mit den frühen Sammlungen kaum berühren und mündlich, wie die beiden erstgenannten, oder schriftlich, wie die letzte, ihr Sonderleben bewahren. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beginnt dann die literarische Korruption, die überlieferte Motive geschwätzig verarbeitet und mit erdichteten zu einer niedrigen Art volkstümlicher Belletristik zusammenflickt. Erst in unseren Tagen (etwa seit 1900) hat die kritische Sichtung und Gliederung begonnen. Solche und ähnliche Entwicklungsprozesse haben sich in der chassidischen erzählenden Überlieferung jeweils vollzogen.
aus «Die Erzählungen der Chassidim»; S.7f
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit006920007.htm