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Merkblatt-
Beilage 55:
Zur Frauenfrage
1 Es ist unmöglich, einen Menschen ganz zu verstehen, wenn man seiner Beurteilung einen Gattungsbegriff zu Grunde legt.[a] Am hartnäckigsten im Beurteilen nach der Gattung ist man da, wo es sich um das Geschlecht des Menschen handelt. Der Mann sieht im Weibe, das Weib in dem Manne fast immer zu viel von dem allgemeinen Charakter des anderen Geschlechtes und zuwenig von dem individuellen. Im praktischen Leben schadet das den Männern weniger als den Frauen. Die sociale Stellung der Frau ist zumeist deshalb eine so unwürdige, weil sie nicht bedingt ist durch die individuellen Eigentümlichkeiten der einzelnen Frau, sondern durch die allgemeinen Vorstellungen, die man sich von der natürlichen Aufgabe und den Bedürfnissen des Weibes macht. Die Bethätigung des Mannes im Leben richtet sich nach dessen individuellen Fähigkeiten und Neigungen, die des Weibes soll ausschließlich durch den Umstand bedingt sein, daß es eben Weib ist. Das Weib soll der Sklave des Gattungsmäßigen, des Allgemein-Weiblichen sein. Solange von Männern darüber debattiert wird, ob die Frau «ihrer Naturanlage nach» zu diesem oder jenem Beruf tauge, solange kann die sogenannte Frauenfrage aus ihrem elementarsten Stadium nicht herauskommen. Was die Frau ihrer Natur nach wollen kann, das überlasse man der Frau zu beurteilen. Wenn es wahr ist, daß die Frauen nur zu dem Berufe taugen, der ihnen jetzt zukommt, dann werden sie aus sich selbst heraus kaum einen anderen erreichen. Sie müssen es aber selbst entscheiden können, was ihrer Natur gemäß ist. Wer eine Erschütterung unserer socialen Zustände davon befürchtet, daß die Frauen nicht als Gattungsmenschen, sondern als Individuen genommen werden, dem muß entgegnet werden, daß sociale Zustände, innerhalb welcher die Hälfte der Menschheit ein menschenunwürdiges Dasein hat, eben der Verbesserung gar sehr bedürftig sind.
Rudolf Steiner
aus «Philosophie der Freiheit»; S.225f
2 Unstreitig ist die männliche Schönheit noch nicht genug von den Händen gezeichnet worden, die sie allein zeichnen könnten, von weiblichen. Mir ist es allemal angenehm, wenn ich von einer neuen Dichterin höre. Wenn sie sich nur nicht nach den Gedichten der Männer bildeten,[b] was könnte nicht da entdeckt werden.
Georg Christoph Lichtenberg
aus «Aphorismen»; S.314
Fragment 1205
Sollte nicht für die Superiorität der Frauen [des Weiblichen] der Umstand sprechen, daß die Extreme ihrer Bildung viel frappanter sind als die unsrigen [männlichen]? Der verworfenste Kerl ist vom trefflichsten Mann nicht so verschieden, als das elende Weibsstück von einer edlen Frau. Nicht auch der, daß man sehr viel Gutes über die Männer, aber noch nichts Gutes über die Weiber gesagt findet? Haben sie nicht die Ähnlichkeit mit dem Unendlichen, daß sie sich nicht quadrieren, sondern nur durch Annäherung finden lassen? Und mit dem Höchsten, daß sie uns absolut nah sind und doch immer gesucht, daß sie absolut verständlich sind und doch nicht verstanden, daß sie absolut unentbehrlich und doch meistens entbehrt werden? Und mit höheren Wesen, daß sie so kindlich, so gewöhnlich, so müßig und so spielend erscheinen?
Auch ihre größere Hülflosigkeit erhebt sie über uns, so wie ihre größere Selbstbehülflichkeit, ihr größeres Sklaven- und ihr größeres Despotentalent; und so sind sie durchaus über uns und unter uns und dabei doch zusammenhängender und unteilbarer als wir.
Würden wir sie auch lieben, wenn dies nicht so wäre? Mit den Frauen ist die Liebe und mit der Liebe die Frauen entstanden, und darum versteht man keins ohne das andre. Wer die Frauen ohne Liebe und die Liebe ohne Frauen finden will, dem geht's wie dem Philosophen, der den Trieb ohne das Objekt und das Objekt ohne den Trieb betrachten und nicht beide im Begriff der Aktion zugleich sahen.
Novalis
aus «Gesammelte Werke - Dritter Band»; S.124f
3 I consider it presumption in anyone to pretend to decide what women are or are not, can or cannot be, by natural constitution. They have always hitherto been kept, as far as regards spontaneous development, in so unnatural a state, that their nature cannot but have been greatly distorted and disguised; and no one can safely pronounce that if women’s nature were left to choose its direction as freely as men’s, and if no artificial bent were attempted to be given to it except that required by the conditions of human society, and given to both sexes alike, there would be any material difference, or perhaps any difference at all, in the character and capacities which would unfold themselves. Ich halte es in jedem Fall für vermessen, zu entscheiden vorzugeben, was Frauen bei natürlicher Verfassung sind oder nicht sind, sein oder nicht sein können. Was die spontane Entwicklung betrifft, sind sie bislang immer in einem so unnatürlichen Zustand gehalten worden, dass ihre Natur nicht anders als gewaltig verzerrt und verstellt sein konnte. Und niemand kann mit Sicherheit verkünden, dass da irgendein materieller Unterschied wäre, oder überhaupt ein Unterschied, im Charakter und den Möglichkeiten, die sie selber entfalten würden, wenn es der Frauen Natur überlassen bliebe, ihre Richtung so frei zu wählen wie der der Männer, und wenn ihr keine künstliche Veranlagung zu geben versucht würde mit Ausnahme der von den Bedingungen der menschlichen Gesellschaft erforderlichen, die beiden Geschlechtern gleich gegeben sind.
John Stuart Mill/Harriet Taylor Mill
aus «The Subjection of Women», 1869
 
4 Ich wiederhole zum Schluß, was ich am Anfange dieses Aufsatzes gesagt habe: Ich glaube an die seelischen Unterschiede der männlichen und weiblichen Eigenart.[c] Die Feststellung aber, das heißt die wissenschaftliche Begründung dieser Unterschiede geht über die Fassungs- und Erkenntniskraft unseres Zeitalters hinaus, und wer nicht zauberkundig ist, gleich jenen Sonntagskindern, die im Schooß der Erde ihre verborgensten Schätze erblicken, der wird nimmermehr die tiefsten Geheimnisse der Menschenbrust schauen, ehe Wissenschaft, Erfahrung und geläuterte Vernunft sie erschlossen haben. Ueberzeugungen, deren Quellen Glauben und Gefühl sind, mögen subjectiv für den Inhaber derselben entscheidend sein, für die Erkenntniß sind sie werthlos.
Hedwig Dohm
in „Die Eigenschaften der Frau” (1875) aus «Psychologie der Frau»; S.43
5 Gleichklang gibt keine Harmonie. Es kann in der großen Symphonie der Zukunft nicht Aufgabe des Weibes sein, dieselbe Stimme zu singen wie der Mann. Nur dann kann sie die Kultur fördern helfen, wenn sie es wagt, einmal hell und klingend ihre eigene Stimme hören zu lassen, von der man erst einzelne Töne vernommen hat. [d ...]
Isolde Kurz
in „Aphorismen” (1903) aus «Psychologie der Frau»; S.23
6a Die Frau als Norm - ist nicht gerade dies die große Entdeckung Dantes? Leider ist der spezifische Einfluß der Frau auf die Geschichte noch immer ein unbearbeitetes Kapitel, ein Thema, über das keiner Bescheid weiß. Anderseits aber hat auch noch niemand versucht, die Geschichte des Gefühls zu schreiben, das der Mann der Frau entgegenbringt. Man unterstellt eben, dies Gefühl sei immer ungefähr das gleiche gewesen; in Wirklichkeit jedoch hat es eine langsame und keineswegs ungestörte Entwicklung hinter sich, eine Entwicklung voller Errungenschaften und Rückschläge. [weiter]
S.240
6b Die wahre historische Aufgabe des Weibes tritt nicht klar genug hervor, weil man vergißt, daß weder die Gattin noch die Mutter, noch die Schwester noch die Tochter den Inbegriff des Frauentums darstellt. Diese gesamten Eigenschaften sind nichts weiter als Niederschläge der Weiblichkeit, Formen, die das Weib annimmt, wenn es keines mehr oder noch keines ist.
S.244
6c [...] um zu der modernen Frauenbewegung Stellung zu nehmen. Mag sein, daß mir ihre konkreten Ziele Achtung und Förderung zu verdienen scheinen. Dennoch wage ich zu behaupten, daß sie im ganzen eine oberflächliche Bewegung ist, welche die große Frage nach dem spezifisch weiblichen Einfluß auf die Geschichte unbeantwortet läßt. Mangel an geistigem Weitblick hat dazu geführt, die Leistung der Frau in solchen Tätigkeitsformen zu suchen, die den männlichen ähnlich sind. Wenn wir so vorgehen, werden wir natürlich auf Lücken stoßen.[b]
S.250
José Ortega y Gasset
in „Vom Einfluß der Frau auf die Geschichte”, 1924 aus «Gesammelte Werke IV»
7 So hat Alfred Adler insofern - oft auch gegen manche Vertreter der Psychoanalyse - recht: die immer noch in irgendeinem Grad vorhandene Mißachtung der Frau zwingt die Frau zum »Protest« gegen die Frauenrolle.
Helene Stöcker
in „Zur Psychoanalyse” (1929) aus «Psychologie der Frau»; S.238
8a Der gesellschaftliche Rückhalt für die Frauenbefreiung ist heute ungefähr so ausgeprägt wie vor zweihundert Jahren der Rückhalt für die Sklavenbefreiung. Wie die jahrtausendelang kritiklos bejahte Sklaverei wird auch die seit jeher bestehende Unterdrückung der Frauen mit dem Hinweis auf angeblich in der »Natur« des Menschen liegende Ungleichheiten gerechtfertigt: Der überwiegende Teil der Menschheit - beiderlei Geschlechts - ist davon überzeugt, dass Frauen ein anderes Naturell haben als Männer [e] und aufgrund dieser »natürlichen« Unterschiede minderwertig sind.
8b Gebildete Menschen in urbanisierten Ländern - besonders jene, die sich als Liberale oder Sozialisten verstehen - bestreiten oft, dass sie Frauen aufgrund dieser Unterschiede für minderwertig halten. Frauen, so argumentieren sie, könnten den Männern durchaus ebenbürtig sein, auch wenn sie anders seien als die Männer. Diese Argumentation ist ebenso unehrlich, wie es der Grundsatz »separate but equal« war, mit dem einst die Rassentrennung an den Schulen juristisch untermauert wurde. Denn betrachtet man die angeblich angeborenen Unterschiede zwischen Männern und Frauen genauer, tritt eine Werteskala zutage, auf der die Eigenschaften, die Frauen zugeordnet werden, eindeutig niedriger angesiedelt sind als jene, die man Männern zuordnet. »Männlichkeit« wird mit Kompetenz, Autonomie, Selbstbeherrschung, Ehrgeiz, Risikofreude, Unabhängigkeit, Rationalität gleichgesetzt - Weiblichkeit hingegen mit Inkompetenz, Hilflosigkeit, Irrationalität, Passivität, mangelndem Konkurrenzwillen und Nettigkeit. Frauen sind qua Erziehung Erwachsene zweiter Klasse, denn was als »typisch weiblich« gewürdigt wird, ist größtenteils einfach nur unterwürfiges, kindliches, unreifes, schwaches Verhalten. Kein Wunder, dass sich die Männer dagegen sträuben, Frauen als ebenbürtig zu betrachten. Fürwahr; Vive la différance!
8c Da von Frauen nicht erwartet wird, dass sie ehrlich oder pünktlich,[f] kompetent im Bedienen und Reparieren von Maschinen, sparsam, muskulös oder körperlich mutig sind, gelten diejenigen Frauen, die es doch sind, als außergewöhnlich. Jede Generation bringt ein paar genialische (oder zumindest unbezähmbar exzentrische) Frauen hervor, die einen besonderen Status erlangen. Aber die historische Sichtbarkeit von etwa den Trung-Schwestern,[g] Jeanne d'Arc, George Eliot, Louise Michel, Harriet Tubman, Isabelle Eberhardt, Marie Curie, Rosa Luxemburg, Amelia Earhart und den übrigen aus dieser kleinen Schar folgt eben daraus, dass sie über Eigenschaften verfügen, die Frauen normalerweise nicht haben. Man schreibt solchen Frauen »männliche« Energie und Intelligenz, »männlichen« Mut und Eigensinn zu. Beispiele ungewöhnlich fähiger und wahrhaft unabhängiger Frauen ändern nichts an der verbreiteten Annahme, dass Frauen minderwertig seien, genauso wenig wie die Entdeckung (und Bevorzugung) intellektuell begabter Sklaven bei kultivierten römischen Sklavenbesitzern Zweifel an der Natürlichkeit der Sklaverei geweckt hat - die aus der »Natur« hergeleitete Argumentation bestätigt sich selbst. Einzelne Lebensläufe, die diese Argumentation nicht bestätigen, werden grundsätzlich als Ausnahmen betrachtet, sodass die Stereotype intakt bleibt.
8d Historisch - oder vielmehr prähistorisch - gesehen, muss die Unterdrückung der Frauen aus gewissen praktischen Arrangements entstanden sein, durch die sichergestellt wurde, dass die Frauen ihrer spezifischen biologischen Verantwortung gerecht werden konnten, nämlich Kinder zu gebären. Die spezifischen Formen ihrer Unterdrückung - psychologisch, politisch, ökonomisch, kulturell - gehen alle auf die biologische Arbeitsteilung zurück. Aber die Tatsache, dass Frauen Kinder gebären, Männer dagegen nicht, beweist wohl kaum, dass Frauen und Männer sich von Grund auf unterscheiden. Vielmehr zeigt sie, wie schmal die naturgegebene »Basis« für die angebliche Unterschiedlichkeit ist - mit der doch argumentiert wird, um aus der weiblichen Reproduktionsphysiologie eine Lebensaufgabe mitsamt den entsprechend eng gefassten Normen hinsichtlich Charakter und Temperament abzuleiten. [...]
Susan Sontag
in "Die dritte Welt der Frauen" (1973) aus «Über Frauen »; S.50ff
Unsere Anmerkungen
a] vgl. dens. zur Erkenntnis des Individuums
b] vgl. «E+E»: Anm.125
c] vgl. Mbl-B.36i
d] vgl. R.Steiner zur weiblichen Natursprache
e] Wird unter „Naturell” die Bildekräftekonfiguration verstanden, dann lassen sich durchaus „lebendige” Inkarnations-Unterschiede feststellen bis hin zu Herzschlagdifferenzen (siehe «Frauenherzen schlagen anders»). Selbstverständlich begründen diese keineswegs „angeblichen” Unterschiede keinerlei Ab- oder Aufwertung.
f] Waren Ehrlichkeit und Pünktlichkeit in den USA der frühen Siebzigerjahre des XX.Jahrhunderts wirklich nur Männern zuerkannte Eigenschaften?
g] Die vietnamesischen Trung-Schwestern Nhi und Trac führten 40-43 eine Auflehnung gegen die chinesische Han-Herrschaft an. Im heutigen Vietnam werden sie als Nationalheldinnen gefeiert.
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmblB55.htm