FML JANSA
«Aus meinem Leben»
XI
IM RUHESTAND
Nach meiner Abmeldung beim Bundespräsidenten Miklas, der damals nicht in der Hofburg, sondern im Gebäude des Bundeskanzleramtes schlicht und einfach amtierte, begab ich mich in meine Wohnung in der Liebiggasse 6. Dort legte ich die Uniform ab, um sie nie wieder anzuziehen.
Als ich nun in Ruhe alles Geschehen noch einmal überdachte, mußte ich Gott für meine Pensionierung danken: es war mir erspart geblieben, meine eigene fast dreijährige Arbeit am Widerstand gegen Hitlers Gewaltmaßnahmen als noch amtierender Chef des Generalstabes selbst desavouieren zu müssen. Denn was die Regierung Schuschnigg nun in genauer Befolgung vom Diktat in Berchtesgaden tat, machte jeden planmäßigen Widerstand unmöglich. Die Nationalsozialisten traten offiziell in alle Ämter, in Polizei und Gendarmerie ein, die bei einer Mobilisierung des Heeres wichtigste Mitarbeit zu leisten gehabt hätten. Ebenso wurden die Eisenbahnen, Telegraph und Telephon dem Einströmen der Nationalsozialisten geöffnet, in deren Hände es nun gegeben war, alle militärischen Befehle zu sabotieren. Ich konnte damals den Kanzler Schuschnigg mit seinem Außenminister Schmidt und auch Hornbostel nicht begreifen. Was dachten sich diese Menschen?
Als unser hervorragend tüchtiger Militärattaché in Rom, Oberst Liebitzky, von Schuschnigg nach Wien berufen wurde, um Instruktionen für eine Anfrage bei Mussolini wegen der nun plötzlich geplanten Wahlen entgegenzunehmen, traf er mit mir zufällig bei der Straßenbahnhaltestelle vor dem Burgtheater zusammen. Er fragte mich, wie es mit der Möglichkeit eines militärischen Widerstandes gegen Hitler stünde. Leider mußte ich ihm sagen, daß jetzt, da man die Nazis in alle Ämter habe einströmen lassen, an einen Widerstand nicht mehr gedacht werden könne. Die Mobilisierung hätte unmittelbar nach der Rückkehr des Kanzlers von Berchtesgaden befohlen werden müssen. Jetzt sei es zu spät; nachdem man dem Nationalsozialismus Tür und Tor geöffnet habe, dürfe man vom Heer keinen Kampf mehr erwarten. Auch die Soldaten seien Menschen - es würde ein Chaos geben.
Als mir Liebitzky darauf sagte, daß der Kanzler für die geplante Wahl die Parole „Rot weiß rot bis in den Tod” ausgeben wolle, griff ich mir an den Kopf, um festzustellen, ob ich wach sei oder träumte. Auf Liebitzkys entsetzte Frage, was man denn jetzt machen solle, konnte ich ihm nur antworten, jetzt müsse jeder selbst sehen, wie er mit der Lage fertig würde, die uns unsere eigene Regierung eingebrockt habe. Darauf trennten wir uns.
Heute, 23 Jahre später, bin ich nicht klüger als damals.
In seinem Buche «Ein Requiem in Rot weiß rot» sagt Schuschnigg irgendwo, daß er niemals ein zweites 1866 zugelassen hätte, wo Deutsche gegen Deutsche kämpften. Ja, wozu dann die ganze Rüstung, die Millionen Schilling gekostet hatte? Wie kann man ein Volk mit „Rot weiß rot bis in den Tod” ansprechen, wenn man tatsächlich nicht kämpfen will? In Berchtesgaden versicherte Schuschnigg Hitler, daß ich bald pensioniert würde; bei einem Besuch in Österreich 1959 fragte Schuschnigg in Salzburg den Generalmajor Szente, warum ich eigentlich zurückgetreten sei.
Da stimmt doch etwas nicht! War das Ganze nur ein frivoles Spiel? Dem Außenminister Schmidt würde ich das zutrauen; Schuschnigg aber, seiner ganzen Persönlichkeit und seiner Religiosität nach nicht. Ich muß daher annehmen, daß Schuschnigg durch die Unterredung mit Hitler in Berchtesgaden einen solchen Schock erlitten hatte, daß er einfach nicht mehr ein und aus wußte. Ich glaube bis zum heutigen Tage, daß Dollfuß anders gehandelt hätte. Er hätte nach seiner Rückkehr von Berchtesgaden das getan, was Bundespräsident Miklas geraten hatte: ganz Österreich zum Kampf gegen die Hitlerische Diktatur aufrufen und das Heer mobil machen. Ob Hitler daraufhin einmarschiert wäre, kann niemand sagen. Österreich wäre aber auf jeden Fall rühmlicher in die Geschichte eingegangen als durch Schuschniggs professorale Unentschlossenheit.
Wenn Schuschnigg von Haus aus, gleich als er zum Kanzler ernannt worden war, einen Austrag des Gegensatzes zu Hitler mit den Waffen ablehnte, dann hätte er in Österreich ordnungsmäßig wählen lassen und die Entscheidung über den Anschluß an Hitler dem österreichischen Volk anheim stellen müssen. So wie es tatsächlich geschah, nicht wählen lassen, rüsten, aber nicht kämpfen wollen, war es blamabel für ihn und ganz Österreich!
Ich gehörte nach dem Einmarsch Hitlers nicht zu jenen, die ihre Gesinnung rasch änderten oder gar das Doppelspiel zur Schau gestellter Treue zu Österreich und gleichzeitiger Beitragsleistung unter falschem Namen an die Nazipartei getrieben hatten. Ich rechnete stündlich mit meiner Festnahme und Verbringung in ein Konzentrationslager. Ich sagte meinen Töchtern immer wieder, daß sie fest daran glauben sollen, daß ihr Vater nichts Unsauberes getan, sondern nur seine beschworene Eidespflicht für Österreich erfüllt habe.
Als ich einmal die Mariahilferstraße herunter spazierte, sah ich nur jubelnde Gesichter und die Aufrichtung von Fahnenmasten mit Girlanden zum Schmuck der Straßen für den Empfang des „Führers”. Wo waren sie, die überzeugten Österreicher?
Anläßlich unseres Zusammentreffens an jener Straßenbahnhaltestelle hatte Liebitzky mir noch erzählt, daß Mussolini gleich nach dem Bekanntwerden meiner Pensionierung, zu ihm gesagt habe, er werde für alle Fälle von Hitler fordern, „daß dem General Jansa kein Haar gekrümmt werde”. Ich hatte um nichts gebeten und nahm diese Mitteilung recht ungläubig entgegen. Auch der ungarische Militärattaché Obst.Veress bot mir im Auftrag seiner Regierung Unterstützung an, wenn ich mich nach Ungarn absetzen wollte. Ich dankte ihm, erwiderte jedoch, daß ein österreichischer General auch vor einem Herrn Hitler nicht flüchte. Elfi Weyer, die sich meiner Kinder schon seit dem Tod meiner unvergeßlichen Frau angenommen hatte und deren Schwester in der deutschen Gesandtschaft angestellt war, warnte mich jedoch wiederholt, daß ich auf der Liste der zu Verhaftenden stünde und täglich mit meiner Festnahme rechnen müsse.
Obwohl sich mein Bruder Heinrich nie für Dollfuß oder Schuschnigg exponiert hatte, wurde er vom Dienst enthoben und später pensioniert. Es lag nahe, zu vermuten, daß dies nach dem Grundsatz der Sippenhaftung meinetwegen geschehen war. Bald aber erfuhr er, daß ein Racheakt eines seiner Kollegen vorlag, der sich durch meinen Bruder als Personalreferenten geschädigt geglaubt hatte. Mein Bruder wurde sofort nach dem Zusammenbruch 1945, noch vor seinem frühen Hungertod, rehabilitiert.
Es lag an dem gleich nach dem Einmarsch der Deutschen allgemein einsetzenden Mißtrauen aller gegen alle, daß wir bald recht isoliert waren. Ich wollte außer Besuchen bei meinem Bruder niemand durch den Umgang mit mir in Verlegenheit bringen. Einmal nur bat ich die Frau eines Generalkameradens telephonisch, bei irgendeiner Anschaffung meiner Kinder in Kleidersachen diesen an die Hand zu gehen; sie hatte sich noch vor kurzem hierzu ausdrücklich angeboten. Jetzt aber wies sie meine telephonische Bitte ohne irgendeinen Vorwand glatt ab.
Da ich begreiflicherweise zu den deutschen einmarschierten Truppen und Offizieren keine Verbindung suchte, war ich auch machtlos, wenn Bitten um Hilfe an mich gerichtet wurden. So rief mich die Gräfin Hoyos an, ihrem Mann, dem gewesenen Staatsrat, der in das Polizeigefangenenhaus verbracht worden war, den Besuch seines Hausarztes zu erwirken. Er war bei einer Turnübung in der engen Zelle abgerutscht und hatte sich dadurch am Schienbein verletzt. Der alte Polizeipräsident Skubel war natürlich enthoben worden und die neuen Polizeigrößen kannte ich nicht. Aber vielleicht konnte General Löhr, der Chef unserer Flieger etwas tun; er war sofort als „deutscher Fliegergeneral” übernommen worden. Ich rief telephonisch an. Nur Frau Löhr war erreichbar. Sie sagte mir gleich zu, ihren Mann nach seiner Heimkehr zur Intervention aufzufordern. Als ich nach zwei Tagen wieder anrief, sandte mir Frau Löhr ihren gerade zum Essen heimgekommenen Mann ans Telephon, der mir auf meine neuerliche Bitte frostig sagte, er könne nichts tun, denn die Geheime Staatspolizei höre auf Generäle nicht. Inzwischen aber war es dem Hausarzt der Hoyos gelungen ins Polizeigefängnis zum Grafen zu kommen, dessen Verletzung wohl eiterte, aber sonst unbedeutend war.
Dann traf mich die Nachricht, daß General Zehner Selbstmord verübt hatte, als zwei Kriminalbeamte ihn aufgesucht hatten. Warum eigentlich? Er scheint ganz die Nerven verloren zu haben. Ich war der Meinung, wir Österreich treuen Generale hatten auch der Gestapo gegenüber aufrecht und wahr zu bleiben.
Prompt brachte natürlich Elfi Weyer aus der deutschen Gesandtschaft die Nachricht, daß ich in den nächsten Tagen verhaftet würde. Aber es kam niemand mich holen, obwohl nach und nach durchdrang, daß Tausende und Abertausende überzeugte Österreicher nach Dachau bei München, ins Konzentrationslager, verbracht worden waren. Schuschnigg hatte abgelehnt zu fliehen und wurde ins Polizeigefangenenhaus verbracht. Allmählich wurde es mir fast peinlich, noch nicht geholt worden zu sein. Sollte Mussolini wirklich bei Hitler für mich interveniert haben?
Einmal besuchte mich meines Bruders Hausarzt, Dr.Wanek, der viel Verbindung zu Offizierskreisen hatte, und erzählte mir, daß über mich Erhebungen liefen, ob ich nationalsozialistische Soldaten ungerecht verfolgt hätte. Dabei hätte die Aussage des Oberstlts.Saliger aus Krems zu meinen Gunsten entschieden. Dieser Oberstlt.Saliger hatte im Jahre 1929, da die nationalsoz. Partei in Österreich noch erlaubt gewesen war, wegen einer öffentlichen Werberede einen Ehrenhandel mit einem christlichsozialen Abgeordneten, der Saligers Duellforderung mit Beschimpfungen zurückgewiesen hatte. Ich war damals Stellvertreter des Brigadekommandanten und Vorsitzender der Disziplinarkommission. Diese hatte, mit dem Falle Saliger befaßt, dessen Verhalten korrekt und richtig erklärt. Ja, meinte Dr.Wanek zu mir, daß ich wohl nie daran gedacht hätte, daß meine Gerechtigkeit als Vorgesetzter einmal sogar von den Nazis anerkannt werden würde.
Dafür war eine andere Sache sehr unangenehm: Das in Wien errichtete deutsche XVII.Korpskommando hatte die Räumung aller militärischen Gebäude von den darin wohnenden Offizieren befohlen, die längstens bis Ende Mai vollzogen sein mußte. Ich fand im VIII.Bezirk in der Schönborngasse eine bescheidene und preiswerte Wohnung mit allem Komfort, die sowohl zu der Schule in der Langegasse, wie zur Universität gut gelegen war. Der die Bauagenden beim deutschen Korpskommando führende österreichische Ingenieur Guretzky bewilligte mir sogar eine kostendeckende Übersiedlungsbeihilfe. Arbeit war damit allerdings viel verbunden; aber jetzt als Pensionist hatte ich ja Zeit.
Frau Metzger, die Inhaberin des höheren Töchterpensionates in Hietzing war so unerschrocken nobel, mir für meine beiden Mädeln für 2 Monate einen Sommeraufenthalt um den halben Preis in Krumpendorf am Wörther See anzubieten, was ich sehr gern annahm und was auch den Mädeln große Freude bereitete. Ich konnte das tun, weil ich selbst sehr bescheiden lebte und mein Ruhegehalt, nach dem Schema für einen deutschen Generalleutnant berechnet, erhielt. Die deutschen Gebührensätze waren viel höher als unsere in Österreich. Meine mir von Österreich angewiesene Pension betrug rund 1000 Schilling monatlich. Nun bekam ich aber 1.200 Mark, wobei zwangsweise die Mark mit 1,50 Schilling bewertet wurde. Diese Umwertung mußte ich, so wie alle anderen Österreicher ruhig hinnehmen, obwohl ich wußte, daß die Relation falsch war. Der Schilling war zur Gänze durch Gold gedeckt, während die Mark eine ungedeckte Zwangswährung, also reines Papiergeld war. Sie behielt deshalb auch nicht ihren Zwangskurs, sondern war in Waren aller Art bald höchstens so viel wert als der gute alte Schilling.
Aber ich konnte doch unseren Lebensaufwand bedecken und auch wieder eine kleine Geldreserve anlegen, aus der ich nach und nach die Erb-, Gerichts- und Notariatsgebühren für den durch die Abaer und Aradványer Anwartschaften sehr kompliziert und langwierig gewordenen Nachlaß meiner guten Frau bar bezahlen konnte. Wegen der durch die politische Vergewaltigung Österreichs entstandenen Paß- und Reiseschwierigkeiten war in diesem Jahre an einen Aufenthalt in Ungarn nicht zu denken.
Ich gab meinen Töchtern genaue Verhaltungsmaßregeln für den Fall meiner Verhaftung während ihres Aufenthaltes am Wörther See. Sie sollten sich in allem an meinen guten Bruder Heinrich wenden. Auch Frau Metzger und die gute Wahltante Nimmerrichter in Mödling versprachen, sich der Kinder anzunehmen, wenn ich festgenommen werden würde.
Unsere Köchin Käthe war uns treu geblieben und in die neue Wohnung in der Schönborngasse mitgekommen.
Die groben Reden des Gauleiters Bürkel, die bei Tag und Nacht durch das Radio verbreitet wurden, verleumdeten alle anständigen Österreicher, besonders den gewesenen Bundeskanzler Schuschnigg, in gemeinster und niedrigster, vor keiner Lüge zurückschreckender Form.
Der Name Österreich sollte ausgelöscht werden; die Judendrangsalierungen begannen sofort. Alle Geschäfte wurden von den einströmenden Deutschen aller Art (nicht nur von den Nazis) ausverkauft, die österreichischen Soldaten in den Kasernen von preußischen Unteroffizieren gröblich beschimpft. Der ganze, Jahrhunderte alte Minderwertigkeitskomplex Preußens gegenüber Österreich kam überall racheartig zum Durchbruch. Selbst die österreichischen Nationalsozialisten hatten erwartet, daß Österreich mit seinen Bundesländern geschlossen, so wie Bayern, ins Deutsche Reich aufgenommen würde. Als aber jedes Bundesland einzeln für sich als „Reichsgau” eingegliedert wurde, wobei Niederösterreich und Oberösterreich in Niederdonau und Oberdonau umbenannt wurden, da machten selbst die österreichischen Nazis zum Teil lange Gesichter. Man begann bald aus allen Kreisen zu hören, daß man sich den ersehnten „Anschluß” anders vorgestellt hatte. Man hatte ein Einströmen von Wohlstand erhofft und bemerkte nun, daß man wie ein Feindesland ausgeplündert wurde.
Die jubelnde Stimmung der Märztage war im Laufe weniger Monate sehr ernüchtert und kritisch geworden. Ja, dachte ich mir oft, mir wollte ja niemand Glauben schenken, als ich meine Berliner Erfahrungen mit dem Nazismus erzählt hatte; jetzt ist die Enttäuschung der Lohn für die „Anschlußfreude”!
Während die Kinder in Kärnten am Wörther See schöne Tage erlebten, fuhr ich jeden Morgen an eine andere Straßenbahn-Endstation und durchwanderte die wunderbare Umgebung Wiens, der selbst der Nazismus zu dieser Zeit noch nichts Böses anzutun vermochte. Dabei nahm ich Grillparzers Worte: „Hast Du das Land vom Kahlenberg besehen, dann wirst du was ich schrieb verstehen.” noch tiefer und noch inniger in mich auf. Die ganze schwere Geschichte Österreichs trat lebhafter vor meine Augen als je zuvor und ich begann mich immer mehr in historische Lektüre zu vertiefen. Auch die römische Geschichte holte ich nach. Ich kaufte antiquarisch billig Mommsens beide Bände und las viel, wozu mir der aktive Dienst nicht die Zeit gewährt hatte. Nicht einen Augenblick glaubte ich daran, von der Gestapo ganz unbehelligt zu bleiben, genoß aber mit Ruhe und Gleichmut meine Freiheit.
Einmal besuchte mich der tüchtige österreichische Legationsrat Schöner, um festzustellen, ob ich noch lebe. Er hatte dem Außenamt angehört und mich sehr geschätzt. Von ihm erfuhr ich authentisch die vielen Verbringungen fast aller christlichsozialen und sozialdemokratischen Politiker und sehr vieler Staatsfunktionäre in Konzentrationslager. Er war trotz seiner tief religiös-österreichischen Gesinnung nur vom Dienst enthoben, aber sonst nicht behelligt worden. Von mir heiße es täglich von Neuem, daß ich schon verhaftet worden sei oder in den allernächsten Tagen festgenommen würde.
Mitte September kamen meine Töchter frisch und gut erholt aus Kärnten nach Wien zurück. Sie waren dort mit einer jungen Dame aus Budapest bekannt geworden, der sie nun in häufigen gemeinsamen Ausgängen Wien zeigten.
Am 28.September 1938, einem Donnerstag Nachmittag gegen 3 Uhr, klingelte es. Da sowohl meine Töchter, als auch die Köchin ausgegangen waren, öffnete ich selbst die Wohnungstür. Zwei Männer stellten sich mit „Geheime Staatspolizei!” vor und verlangten Eintritt. Nun war es also so weit. Monate hatte ich auf diesen Moment gewartet und war nun doch erschrocken! Aber ich hatte sofort wieder Haltung gewonnen, verlangte die Legitimierung der Männer und fragte nach ihrem Begehren. Sie hätten eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Ich sagte: „Bitte” und führte sie durch das Speisezimmer in meines, wo ich gerade einen Brief an meine Schwiegermama mit der Schilderung der Heimkehr meiner Töchter aus Kärnten geschrieben und noch nicht ganz beendet hatte.
Gierig gingen die beiden Beamten zum Schreibtisch und begannen diesen Brief zu lesen, legten ihn offensichtlich enttäuscht zurück, durchblätterten dann etwas verlegen die Schreibmappe und sahen mich dann ebenso verlegen an. Ich fragte nun, ob sie etwas Bestimmtes bei mir suchten; ich hätte keinerlei staatsgefährliche Papiere, nur das inzwischen verbotene Schuschnigg Buch «Dreimal Österreich» stünde in meinem Bücherregal. Das Buch, in dem leider auch meine Notizen aus der Zeit meiner Tätigkeit als Chef des Generalstabes eingelegt waren, nahmen die Beamten an sich. Dann forderten sie mich auf, mit ihnen ins Hotel Metropol am Franz Josephs Kai zu kommen. Dort war der Sitz der „Geheimen Staatspolizei”, allgemein als „Gestapo” abgekürzt.
Darauf sagte ich den Beamten, daß ich zwei minderjährige Töchter hätte, die, ebenso wie die Köchin, nicht daheim seien. Ich wollte ihnen Nachricht hinterlassen und fragte deshalb, wohin ich vom Metropol Hotel gebracht würde? Darauf bekam ich die recht unfreundliche Aufforderung, nichts zu schreiben und mich rasch zum Ausgehen fertig zu machen; ich hätte in der Zentralstelle nur ein paar Dokumente zu unterschreiben und könne dann gleich wieder nach Hause zurückkehren.
Zu dritt fuhren wir mit der Straßenbahn ins Metropol. Dabei wurde einer der Beamten gesprächiger und sagte mir, ich würde sehr milde behandelt. Ich müßte meinen Wohnsitz nur nach Erfurt verlegen. Er fügte hinzu, das sei ja eine schäbige Stadt, aber besser als ein Konzentrationslager!
Im Hotel Metropol wurde ich einem Hausdiener übergeben, der mich an eine einen Stiegenaufgang abschließende Eisengittertür führte. Er schloß sie umständlich auf und ließ sie nach dem Durchschreiten ins Schnappschloß fallen: ein unheimliches Geräusch, wenn man an die Freiheitsberaubung denkt. Und an dieses Geräusch des Zufallens einer eisernen Gittertür hinter mir, das ich in der Folge oft und oft hören mußte, konnte ich mich nie gewöhnen; es kostete mich jedesmal eine starke Nervenanspannung, um mit gleichgültigem Gesicht Haltung zu bewahren.
Der Hausdiener führte mich in den dritten Stock. An keiner Tür war ein Name zu lesen; auf den Türschildern waren nur Buchstaben und Ziffern, deren Bedeutung ich nicht kannte. Vor einer der Türen blieb er stehen und bedeutete mir einzutreten. Am Schreibtisch, mit dem Gesicht der Tür zugewandt, saß ein Beamter in Zivil. Der Diener meldete: „Das ist der Jansa.” Ich machte darauf eine leichte Verbeugung und sagte: „Feldmarschalleutnant Jansa; darf ich fragen mit wem ich zu sprechen nun die Ehre haben werde?” Antwort: „Nein! Die Staatspolizei arbeitet anonym! Setzen Sie sich!”
So nahm ich auf dem Stuhl gegenüber dem Beamten Platz. Er zog ein bescheidenes Aktenbündel, das links vor ihm am Schreibtisch gelegen war, heran, öffnete es und begann, daß ich wegen feindseliger Betätigung gegen den Nationalsozialismus aus allen Ländern Österreichs ausgewiesen werde. Als Zwangsaufenthalt werde mir die Stadt Erfurt angewiesen, wo ich mich am 30.September mittags, also übermorgen bei der dortigen Gestapo zu melden habe.
Ich überlegte einen Augenblick und stellte dann folgende Fragen:
ich wüßte, daß in der Nähe Erfurts das Konzentrationslager „Buchenwald” liege; bedeute meine Einweisung nach Erfurt die Verbringung nach Buchenwald? Antwort: nur wenn ich mir etwas zu Schulden kommen lassen würde;
ob ich das Reisegeld nach Erfurt bekäme? Antwort: nein, alle Verfügungen der Gestapo belasten den Verurteilten. Schön sagte ich darauf, aber es sei Monatsende; ich stünde finanziell sehr knapp; ob ich nicht die Anweisung meines Ruhegehaltes pro Oktober abwarten und erst am Montag, den 2.10. abreisen dürfte? Die Antwort war wieder „Nein!” Die Verfügung sei vom höchsten Chef der Gestapo unterfertigt, dem SS-Oberstführer Heidrich; dagegen gebe es keine Berufung und nur pünktlichste Befolgung.
Ich fragte weiter, ob meine beiden minderjährigen Töchter nach meiner Abreise irgendwelchen Verfügungen durch die Gestapo im Sinne der Sippenhaftung ausgesetzt sein würden? Nein, meine Töchter interessierten die Gestapo solange nicht, als sie kein feindseliges Verhalten gegen den Nationalsozialismus zeigten. Darauf sagte ich, daß dies nicht der Fall sein würde; ich hätte beide dem BdM. beitreten lassen. Das sei gut, meinte der Beamte, so gehe alles in Ordnung und notierte dies im Akt.
Dann reichte er mir vier mit Schreibmaschine vorgeschriebene Bögen mit der Aufforderung, jeden einzeln zu unterschreiben, wobei er mir eine Feder und Spezialtinte zuschob.
Der erste Bogen enthielt meine Ausweisung aus allen Ländern Österreichs. Der zweite bestimmte mir Erfurt zum Zwangsaufenthalt ab 30.9.1938 mittags. Der dritte forderte meine Erklärung, daß ich in Hinkunft weder durch Sprache oder Gebärde, durch Schrift oder Tat übelwollende oder feindselige Handlungen gegen den Nationalsozialismus begehen würde. Der vierte forderte von mir die dauernde Geheimhaltung der seitens der Gestapo gegen mich getroffenen Verfügungen jedermann gegenüber und meine Meldepflicht bei der Gestapo in Erfurt. Auf jedem der vier Bogen stand als Schlußsatz die Drohung der sofortigen Verbringung ins Konzentrationslager im Falle der Nichtbefolgung.
Die ersten drei Bögen unterschrieb ich ohneweiters, da ja jetzt, nachdem das nationalsozialistische Reich in Österreich zur Macht gekommen war, einzelner Widerstand sinnlos gewesen wäre. Vor dem vierten Bogen äußerte ich aber Bedenken: ich könnte doch vor meinen Kindern und meinem einzigen Bruder nicht spurlos aus Wien verschwinden! Ich sei Witwer, ich müsse doch wenigstens brieflich auf die weitere Erziehung meiner Kinder und deren materielle Versorgung Einfluß nehmen können!
Darauf erwiderte der Beamte, daß ich den drei genannten Personen, aber auch nur diesen, sagen könne, daß ich nach Erfurt verreise, nicht aber, daß dies auf Weisung der Gestapo erfolge; welchen Grund ich mir dafür ausdenke, sei meine Sache. Ich konnte nicht umhin darauf zu antworten, daß ich mich also zur permanenten Lüge meinen Kindern und meinem einzigen Bruder gegenüber verpflichten solle; das ginge doch zu weit! Der Beamte zuckte die Achseln und meinte kalt lächelnd, ich hätte die Wahl zwischen der Unterschrift und dem Konzentrationslager. Da nahm ich die Feder und unterschrieb auch den vierten Bogen.
Darauf war ich entlassen. Der Hausdiener geleitete mich die Stiegen abwärts und durch das eiserne Gittertor zum Hotelausgang. Als ich auf der Straße stand, atmete ich tief auf. Gott war gnädig gewesen und hatte dem seinerzeitigen Verlangen Mussolinis, mir kein Haar zu krümmen, bei der Gestapo Geltung verliehen. Ich war zwar noch immer mißtrauisch über meine zukünftige Behandlung in Erfurt, aber momentan war ich wieder frei, und das bedeutete mir viel. Die nächste Zeit und ihre Erfordernisse überlegend, ging ich zu Fuß heim. Unterwegs am Graben, dort wo sich heute der Haushaltsmaschinen-Laden Blumauer befindet, war eine Filiale des Österreichischen Verkehrsbureaus etabliert. Ich trat ein und bat um eine Fahrkarte III.Klasse nach Erfurt, die ich erst am folgenden Tage beheben würde. Der Beamte studierte lange den Fahrplan und eröffnete mir schließlich, daß die günstigste Route mich nach Leipzig führen würde, wo ich - von Wien um 7 Uhr abends abreisend - nach zwölf Fahrtstunden einträfe. Dort fände ich direkten Anschluß über Weimar nach Erfurt mit einer Ankunftszeit gegen 11 Uhr vormittags. Der Fahrpreis betrüge rund 40 Mark. Das war richtig; so würde ich also am Samstag den 30.9. mich noch am späten Vormittag bei der Gestapo melden können. Ich sah auf die Uhr, die schon die fünfte Nachmittagsstunde zeigte und mich nach Hause eilen ließ, um den Kindern keine Sorge wegen meines Ausbleibens zu machen; hatten wir doch vereinbart gehabt, daß ich sie daheim erwarten würde. Ich überlegte unterwegs und beschloß schließlich - um niemand mit einem für ihn möglicherweise verderblichen Geheimwissen zu belasten - nichts von der Gestapo zu sagen, aber auch nicht zu lügen, sondern einfach zu sagen, ich müsse nach Erfurt reisen, Punkt - nichts mehr! Denken konnten sich Bruder und Töchter, was sie wollten. So würden sie bei Anfragen der Gestapo ehrlich und unbefangen sagen können, daß ich ihnen keinen Grund für meine Reise genannt hätte.
Daheim wurde ich mit ängstlichen Blicken erwartet. Judith hatte in meinem Bücherregal nachgesehen und das Fehlen des Schuschnigg-Buches sogleich bemerkt. Auf die ängstliche Frage bestätigte ich das Fehlen des Buches und sagte auch gleich, daß ich morgen Abend nach Erfurt verreisen würde. Ich beschwichtigte ihr Erschrecken und wir gingen zusammen zu meinem guten Bruder Heinrich.
Heinrich glaubte, ich würde wieder eine militärische Stellung in Erfurt erhalten. Es hatte keinen Sinn, seinen Optimismus aufzuklären. Ich wollte ihn ja nur um eine Geldaushilfe bitten und darum, sich meiner Töchter anzunehmen, falls sie Hilfe bedürften. Wir vereinbarten, daß sowohl er wie meine Kinder mein Reiseziel Erfurt im Bekanntenkreise erst sagen sollten, wenn erste Briefe von dort eingetroffen sein würden.
Am nächsten Abend am Westbahnhof gab es beim Abschied wohl feuchte Augen, aber meine tapferen Töchter hielten sich sehr gut. Daß unsere Köchin Käthe im Hause verbleiben und meine Töchter gut versorgen würde, war besprochen und ich durfte beruhigt abreisen.
FML Jansa in Erfurt 1945, Zeichnung von Michael Florer © 2004 by DMGG In Erfurt angekommen, deponierte ich meine Koffer am Bahnhof, wo ich erfuhr, daß sich die Gestapo-Stelle in der Alsenstraße befand. Auf dem am Bahnhof erstandenen Plan von Erfurt war das eine Straße im südlichen Villenteil der Stadt, die, einmal erreicht, mir durch eine Ansammlung von Juden gleich das richtige Haus zeigte. Ich sah auf die Uhr: es war dreiviertel zwölf, ich war also pünktlich zur Stelle. Ich überlegte, ob ich mich am Ende der Juden-Kolonne anreihen sollte, ging aber schließlich zum Hauseingang vor dem ein SS-Mann in der schwarzen Uniform stand. Ich ging auf ihn zu, stellte mich als General vor und fragte mit Rücksicht auf den unerbittlich vorrückenden Uhrzeiger, ob ich zum Chef der Staatspolizei kommen könne. Der SS-Mann schrie, in strammster Haltung salutierend: „Jawoll, Herr General, bitte einzutreten, 1.Stock, rechts, 1.Tür!”
Da war ich eben in Preußen; da galt der „General” und wirkte elektrisierend. Auf der angegebenen Tür im 1.Stock stand „Kommissar Fischotter.” Hier amtierte die Gestapo also nicht anonym! Ich klopfte an und trat ein. Vom Schreibtisch erhob sich eine große stattliche Figur in schwarzer Uniform. Ich stellte mich vor, wurde aufgefordert, Platz zu nehmen, und nach meinem Begehren gefragt. Ich staunte eine Weile, weil ich der Meinung war, daß mein Name hier schon bekannt sein würde, und erzählte dann kurz meine von der Gestapo in Wien erhaltene Anweisung, was die bisher zuvorkommend lächelnde Miene des sympathischen, jungen Kommissars ernst und verschlossen werden ließ. Er erklärtte, über mich noch keine Nachricht erhalten zu haben, und bat mich sehr korrekt und höflich, ihn am Montag wieder zu besuchen. Da der Mann nett war, fragte ich ihn gleich, wo ich billig logieren könnte? Er empfahl mir die Pension Lüttich in der Löberstraße. Nach äußerst korrekter Verabschiedung mit Handreichung ging ich zufrieden ins Freie.
In der angestellten Judenkolonne zeigte niemand Unwillen darüber, daß mir vor ihnen Einlaß gewährt worden war. Das letztangestellte Judenpaar fragte ich, weshalb sie da ständen? Achselzucken seitens des einen, vom anderen kam das Wort „Schikane”. Tatsächlich rief auch im selben Augenblick der vor dem Villeneingang postierte SS-Mann den Juden zu, daß sie heimgehen könnten, aber Montag um acht Uhr früh sich wieder anzustellen hätten.
Ich öffnete den Stadtplan, um die Löberstraße zu suchen. Die war nicht weit: den Gera-Fluß entlang bis zur Arnstädter Straße, dann über die Brücke stadtwärts, wo auf einem stattlich anzusehenden Haus die Aufschrift „Pension Lüttich” zu lesen war. Ich stieg in den ersten Stock und klingelte an der Tür. Eine schmächtige mittelgroße Frau von etwa 40 Jahren öffnete. Nach Vorstellung erbat ich das billigste Zimmer. Das treffe sich gut, wenn ich damit zufrieden sein wolle; es wäre auch kein anderes frei, da irgendeine Tagung in Erfurt stattfinde. Das Zimmer war groß, doch hofseitig dunkel, hatte ein sauberes Bett, einen Tisch mit Sessel und einen Kasten. Preis einschließlich Frühstück, Mittag und Nachtmahl rund 10 Mark pro Tag. Das entsprach mir. Mein Ruhegehalt betrug 1000 Mark; wenn ich hier mit rund 300-350 Mark leben konnte, so blieben für die Kinder in Wien rund 600 Mark, was erfahrungsgemäß ausreichend war. So mietete ich mich ein. Daß das Klo an meiner Bettwand lag und nach Benützung jedesmal einen Riesenspektakel machte, darauf kam ich erst später; für ein besseres Zimmer fehlte mir jedoch das Geld.
Es werde gerade serviert; ob ich gleich essen wollte. Oh gewiß! Ich war hungrig. Im Speiseraum fand ich einen Studienrat mit seiner belgischen Frau und einen Magistratsbeamten mit Frau. Beide Ehepaare waren erst kürzlich nach Erfurt gekommen und logierten in der Pension, weil sie noch keine passende Wohnung gefunden hatten. Köstlich war die servierende Stubenhilfe, die ein unverfälschtes „Sächsisch” sprach, das mich immer zum Lachen zwang, wenn sie den Mund auftat. Das Essen war nach Menge sehr bescheiden, aber ganz gut zubereitet.
Den Samstag-Nachmittag benützte ich zu einem ersten Gang durch Erfurts Hauptstraßen. Die Innenstadt gefiel mir durch die gute Erhaltung ihrer alten Bauten mit den vielen großen, prächtigen Kirchen. Die Orientierung in diesen alten Gäßchen war gar nicht einfach. Die Gera, kein großer Fluß, war durch Aufstauung und darauffolgende Teilung in viele Arme vom Gewerbe und der Kleinindustrie voll ausgenützt. Die vielen künstlichen Wasserläufe rechtfertigten die Benennung eines Stadtteiles als „Venedig.” So konnte ich meinen lieben Mädeln und meinem Bruder voll begründet schreiben, daß mir Erfurt gut gefalle und ich mich wohl fühle.
Am ersten Sonntag ging ich in die Frühmesse zu St.Wigbert, meiner auch für den folgenden jahrelangen Aufenthalt zuständigen Pfarrkirche, einem uralten Bau mit einem auch sehr alten Pfarrer. Anschließend nahm ich innerhalb des Stadtbereiches die großen, schönen Gartenflächen der Samenzüchterei Benary wahr, an die sich ein ganz besonders schönes, reichen Wohlstand zeigendes Villenviertel schloß. Am Nachmittag des Sonntages entdeckte ich den enorm großen, von schönsten alten Bäumen aller Art bestandenen Stadtwald „Steiger”, der, schon gegen den südlich von Erfurt gelegenen Thüringer Wald ansteigend, ein abwechslungsreich bewegtes, bergiges Gelände bedeckte und viele sehr schöne Ausblicke gewährte. Besonders der Blick auf den südlichen Stadtteil Hochheim, über die musterhaft schön angelegte und gepflegte Morellen-(Sauerkirschen-)Plantage der Familie Haage, beeindruckte mich sehr. Wenn ich hier in Erfurt wirklich unbehelligt leben könnte, so wäre meine Ausweisung aus Wien und Österreich wohl recht erträglich.
Am Montag gegen 11 Uhr vormittags machte ich meinen zweiten Besuch in der Villa der Staatspolizei, die kein die Nerven belastendes Eisengitter besaß. Kommissar Fischotter empfing mich wieder sehr achtungsvoll. Kaum hatte ich Platz genommen, trat eine Ordonnanz ein und reichte dem Kommissar ein zwei große Papierbogen füllendes Telegramm. Er machte einen Blick darauf und sagte gleich: „Ah, da erhalte ich eben die Sie, Herr General, betreffende Anweisung der Polizeistelle Wien. Bitte darf ich sie lesen?” Ich neigte zustimmend den Kopf und beobachtete die Gesichtszüge des Kommissars; sie ließen keine Änderung während des Lesens erkennen. Dann sagte er mir, daß die Weisung nichts anderes enthalte, als ich ihm am Samstag selbst gesagt hatte. Ich möge mich also in Erfurt zu längerem Aufenthalte einrichten und peinlichst alles vermeiden, was als feindliche Betätigung gegen den Nationalsozialismus gedeutet werden könnte, da im Gegenfalle meine Internierung im Konzentrationslager Buchenwald erfolgen müßte. Ich müsse mich - Sonn- und Feiertage ausgenommen - täglich bei ihm melden. Es wäre ihm recht, wenn ich in der Pension Lüttich in der Löberstraße wohnend bliebe. Die Verabschiedung war wieder sehr höflich und korrekt, doch entfiel nun begreiflicherweise der Handschlag.
Jetzt war ich also sicher, daß mein Zwangsaufenthalt in Erfurt echt, und nicht bloß Vorstation für eine schlimmere Behandlung war. Ich dachte mir, daß allergrößte Zurückhaltung allen Menschen gegenüber am Platz sein würde; ich durfte niemand durch eine öftere Begegnung mit mir kompromittieren, anderseits mußte ich aber damit rechnen, daß die Gestapo mir Lockspitzel aus verschiedensten Gesellschaftsschichten nahe kommen lassen würde, um meine Gesinnung dauernd zu überwachen. Unter mir fremden Menschen isoliert, hätte es keinen Sinn gehabt, sich als wilder Antinazi zu gebärden. Was wäre damit zu erreichen gewesen? Nichts. Anderseits sollte aber niemand im Zweifel bleiben, daß ich überzeugter Österreicher war und blieb. Das war natürlich in der Theorie leichter als in der Praxis; da waren einem überall Fußangeln gelegt, die einen zum permanenten Lügner machten. Der Magistratsbeamte in der Pension Lüttich trug zwar das Parteiabzeichen, war aber bei Tisch ein lauter Schimpfer über viele Parteiverfügungen. Wie gern hätte ich ihm sekundiert; da ich aber unterschrieben hatte, auch in Worten nichts gegen die Partei zu sagen, mußte ich schweigen. Das wurde von dem Magistratsbeamten mißdeutet; er äußerte die Meinung, daß ich als Österreicher doch noch mehr Anlaß zum Schimpfen hätte als er.
Dann kam die immer wieder gestellte Frage, was mich denn aus dem schönen Wien nach Erfurt führte. Den wahren Grund durfte ich nicht sagen. So mußten die blödesten Dinge herhalten: daß mir Wien für den Ruhestand zu laut sei; daß mich die Samenzucht besonders interessiere, wofür ja Erfurt Weltruf geniesse; daß die mütterlichen Vorfahren aus Fulda stammten, mir aber Fulda zu klein erscheine und mir Erfurt recht gut gefalle. Immer wieder etwas sagen müssen mit dem Gefühl, daß die Leute einen für ganz dumm halten müßten!
Auf der Gasse wurde ich immer öfter gegrüßt, oft von Leuten, die ich bestimmt nicht kannte, und zwar immer mit „Heil Hitler”! Ich dankte stets höflich, meist stumm, aber durch Abnahme des Hutes. Ein und das andere mal auch mit „Guten Tag” oder „Guten Abend”. Bei einer der täglichen Meldungen beim Kommissar Fischotter eröffnete mir dieser, daß meine beharrliche Verweigerung des „Hitler-Grußes” Ärgernis errege. Ich möge mit „Heil Hitler” grüßen, da ich bei wiederholtem Ärgernis Gefahr laufe, nach Buchenwald interniert zu werden. Was blieb mir übrig? Ich dachte an meine Kinder und erwiderte diese offenbar von Lockspitzeln getätigten Begrüßungen durch das vorgeschriebene Handheben; was ich mir dabei dachte, durfte ich nicht laut sagen.
Nach etwa drei Wochen Aufenthalt sandten mir meine lieben Mädeln ein Paket Bäckereien, die Käthe nach Rezepten meiner verstorbenen Frau besonders köstlich zubereitete. Ich wurde deshalb auf das Zollamt geladen und aufgefordert, das Paket zu öffnen. Ärgerlich äußerte ich, daß solche Paketkontrollen doch nur bei Auslandssendungen üblich seien! Wien wäre für Erfurt doch kein Ausland! Die Beamten wurden sehr verlegen, bestätigten die Richtigkeit meiner Aussage, bäten mich aber gleichwohl, das Paket zu öffnen. Nun begriff ich, daß da auch die Gestapo dahinter steckte, und öffnete das Paket, zeigte den Beamten den köstlichen Inhalt und bot ihnen an - zur Versicherung, daß es sich nicht um Bomben handle -, zu kosten! Sie probierten und lobten die Güte der ihnen unbekannten Ischler Krapfen. Nun konnte ich das Paket wieder schließen und heimnehmen.
Inzwischen hatte ich auch meine Gelddisponierung durch Anlage eines Girokontos bei der neben der Pension Lüttich gelegenen Filiale der Erfurter Sparkasse erleichtert. Mein Ruhegehalt wurde ordnungsgemäß auf mein Wiener Postscheckkonto eingezahlt, von dem ich sowohl die Kinder in Wien dotieren, wie auch den für mich benötigten Betrag an die Erfurter Sparkasse überweisen ließ. In dieser Sparkassenfiliale behob ich für mich immer nur kleine Beträge.
Einmal als ich 50 Mark abhob, zählte mir der Kassier zehn der riesengroßen, schweren Fünfmarkstücke auf den Tisch. Ich wies das ärgerlich zurück, wobei ich ungefähr bat, mir an Stelle dieses schweren Bleches Banknoten zu geben, was auch geschah. Bei einer meiner nächsten Meldungen beim Kommissar, sagte mir dieser, ich hätte in der Sparkasse die deutsche Währung als „Blech” bezeichnet, was einer unguten Kritik an der von der „Partei” gehaltenen Währung gleichkomme. Ich mußte dem Kommissar erklären, daß ich nicht die deutsche Währung, sondern die nicht aus Silber, vielmehr aus Eisen geprägten schweren Fünfmarkstücke zurückgewiesen habe; solche Eisenscheiben könne ich doch nicht Silbermünzen nennen, das sei doch wirklich Blech. Dem mußte Fischotter zustimmen, meinte aber, daß der Ausdruck „Blech” in Deutschland eine abwertende Bedeutung habe. Die ganze Geschichte war und blieb belanglos. Ich erzähle sie nur, um anschaulich zu machen, wie mich der gute Kommissar Fischotter mit Aufpassern so umgeben hatte, daß ich keinen Schritt machen und kein Wort unbeobachtet sagen konnte. Ein lästiger Zustand!
Das Dümmste aber ereignete sich, als der neu ernannte Kommandant des Erfurter Panzerregimentes bis zur Lösung seiner Wohnungsfrage mit seiner Frau in der Pension Lüttich Wohnung nahm. Dieser Oberstleutnant mußte mich von meiner Berliner Attachézeit gekannt haben und begegnete mir mit ganz besonderer Auszeichnung. Ich blieb sehr kühl und zurückhaltend, aber seiner Frau gegenüber gleich zuvorkommend wie gegenüber den andern am Mittags- und Abendtisch teilnehmenden Damen. Drei oder vier Tage darauf zog auch ein neuer Gestapokommissar namens Blomberg (ein ferner Neffe des gewesenen Wehrmachtsministers) in die Pension Lüttich, der, wie ich später erfuhr, dienstälter als Fischotter, Leiter der Dienststelle Erfurt wurde.
An einem der nächsten Tage kam der angebende Panzerkommandant strahlend auf mich zu. Er hätte mit seinen Offizieren besprochen, daß es für sein Regiment, angesichts meiner prominenten Stellung in Österreichs Wehrmacht, eine große Ehre wäre, sein Regiment zu besichtigen; die Offiziere möchten mir nachher die Stellung eines „à la suite Kommandeurs” im Regiment anbieten. Ich war peinlichst berührt, weil sich das Gespräch vor allen anderen Pensionsgästen abspielte. Ich erwiderte so ungefähr, daß ich umgotteswillen bäte, von so einer Ehrung Abstand zu nehmen, die ich in gar keiner Weise verdiene. Als jener aber weiter in mich drang, lehnte ich artig, aber bestimmt mit dem Beifügen ab, daß seine von mir sehr gewürdigte Absicht ihm und seinem Regimente nur Verlegenheit bereiten würde. Da bat Kommissar Blomberg den Oberstleutnant in ein Nebenzimmer, um ihm zu sagen, was ich nicht sagen durfte. Als beide zurück kamen, war der Offizier blaß und so betreten, daß ich mit den anderen Gästen besonders gesprächig wurde, um sie die entstandene peinliche Lage nicht merken zu lassen. Das gelang mir auch.
Folgenden Tags sagte mir Fischotter bei meiner Meldung, ich müsse mir raschestens ein anderes Quartier suchen und dürfe bis zu meinem Umzug nicht mehr an den gemeinsamen Mahlzeiten in der Pension teilnehmen. Ich konnte nicht an mich halten und erwiderte, daß er doch selbst gewünscht habe, daß ich bei Lüttich wohne. Es käme von der dummen mir aufgetragenen Geheimhalterei, daß so unmögliche Situationen entstünden. Fischotter zeigte sich betreten, bat mich sehr artig um Entschuldigung und fügte hinzu, sein neuer Chef Blomberg hätte das befohlen. Ich nickte und sagte zu ihm, daß die Gestapo die militärischen Stellen informieren möge, damit nicht noch einmal so eine peinliche Lage wie mit dem guten Panzerkommandanten entstehe.
Auf meinem Nachmittagsspaziergang fand ich in der Karthäuserstraße Nr.8 bei der geschiedenen Frau eines Eisenbahnbeamten ein kleines Schlafkabinet mit schöner freier Aussicht und freier Benützung der ganzen übrigen Wohnung untertags um 30 oder 35 Mark im Monat. Um von der Gestapo nicht noch einmal zu einem Quartierwechsel veranlaßt zu werden, gab ich dem Kommissar Fischotter bei meiner nächsttägigen Meldung das geplante neue Quartier bekannt, das übernächsten Tages von der Gestapo genehmigt wurde. Meine leibliche Versorgung zu Mittag verlegte ich in das in der Löberstraße gelegene Gasthaus zum Schwarzen Adler; abends aß ich billigst in einer der vielen vegetarischen Diätküchen.
In der Pension Lüttich, deren Inhaberinnen das mich umschließende Geheimnis mutmaßlich wußten, wurde ich „als sehr angenehmer Gast” mit großem Bedauern verabschiedet. Ich bat das Schwesternpaar, mich bei den Gästen zu empfehlen und der Frau des Oberstleutnants zu ihrem Geburtstag, dessen Feier vor ein paar Tagen besprochen worden war, einen von mir bestellten Blumenstrauß zu übergeben.
Um die Geschichte mit dem Panzerkommandanten zu Ende zu bringen, erwähne ich noch, daß ich nach etwa 14 Tagen seiner Frau auf der Straße begegnete. Sie hielt mich an und fragte, ob ihr Mann mir geschrieben und für die schönen Blumen gedankt habe, die ihr viel Freude bereitet hätten. Ich verneinte. Darauf sagte sie heftig: „Na, das habe ich mir gleich gedacht, daß mein Mann Angst haben würde, Ihnen zu schreiben! Sie werden schön von uns denken! Also sage ich Ihnen jetzt schönsten Dank. Alle in der Pension Lüttich, besonders auch der Studienrat, bedauern sehr, daß sie weg sind. Sie haben uns doch immer so viel Nettes aus Österreich erzählt.” Zum Abschied versicherte mir die gute Frau, daß sie den ganzen Hitlerismus nicht weniger verabscheue als ich. - Ich sah das Ehepaar später nie mehr; sie hatten ganz in der Nähe der Panzerkaserne eine Wohnung gefunden, in welche Gegend ich mich geflissentlich nie begab.
Bei einem Spaziergang in den nächsten Tagen traf ich mit Kommissar Blomberg zusammen, der mich ein Wegstück begleitete und mir dabei mitteilte, daß allen deutschen Offizieren durch einen Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht (Gen.Keitel) der Umgang mit mir verboten worden sei. Ohne eine Entgegnung von mir abzuwarten fügte er hinzu, ich möge das ja nicht tragisch nehmen: er kenne meinen Akt genau, darin sei kein einziger Vorwurf, der meine Ehre kränken könnte; nur, daß ich dem Nationalsozialismus feindlich gegenüber stünde und bereit gewesen wäre, auf die deutschen Truppen bei deren Einmarsch in Österreich schießen zu lassen. Das sei doch rein politisch! Heute sei ich der Leidtragende und morgen könne es umgekehrt sein; er habe vor der noblen Art, mit der ich mein Geschick trage, jedenfalls die größte Hochachtung! Dann verabschiedeten wir uns wie zwei Freunde. Ich bin Blomberg im Leben nicht mehr begegnet. Er wurde bald wieder von Erfurt abgezogen und Fischotter blieb Leiter der lokalen Gestapo-Stelle.
Das Verbot für deutsche Offiziere, mit mir Umgang zu pflegen, war mir ganz recht. Ich hegte keinerlei Bedürfnis nach einem solchen Verkehr. Da ich dies nun wußte und Blomberg mir diesbezüglich kein Schweigegebot auferlegt hatte, konnte ich alle, die an mich heran wollten, entsprechend warnen. In die Garnison Erfurt waren einige österreichische Offiziere versetzt worden. So traf ich einmal in einer Drogerie in der Neuwerkgasse die Frau des Artillerie-Majors Winiwarter aus Stockerau, die, hoch erfreut, mich begrüßte und gleich zu einem Tee in ihr Haus einlud. Als wir zusammen auf die Straße traten, sagte ich ihr, daß ich jetzt ein Verfemter sei und darum ihrer Teeeinladung nicht folgen könne. Auch Obstlt.Koske und anderen österreichischen Kameraden begegnete ich öfter. Sie grüßten mich stets mit unveränderter Hochachtung; ich erwiderte diese Grüße in gleicher Höflichkeit, vermied es jedoch, die Herren anzusprechen, um sie nicht zu kompromittieren.
Drei Persönlichkeiten lehnten es, allerdings in späterer Zeit, ab, dem deutschen Befehl zu gehorchen; das waren der damalige Leutnant und spätere Hauptmann Jaschke, der mich immer wieder besuchte, Obst.Krische, der als Kommandant mit seinem Regiment eine Zeit in Erfurt garnisonierte und in diesen Wochen seinen alten „Chef” oft besuchte, und der gute alte Brigadepfarrer Hofer, der auf seiner Reise nach Paris, wo er der deutschen Heeresseelsorge vorstand, in Erfurt Station machte, um mich zu besuchen und so seiner alten Treue Ausdruck gab. Vom Brigadepfarrer Tegel wird später die Rede sein.
Zu den besonderen Erlebnissen in meiner ersten Erfurter Zeit gehört auch meine Suche nach einem Nebenverdienst. Bei einer meiner täglichen Meldungen sprach ich Kommissar Fischotter daraufhin an. Der fand mein Wollen sehr begreiflich, eröffnete mir aber, daß ich als ein unter Gestapo-Aufsicht Stehender in keinem „geschützten” Betrieb angestellt werden dürfe. Als „geschützt” galt die gesamte Industrie und alle irgendwie mit Heereslieferungen befaßten Gewerbebetriebe. Aber er erklärte sich bereit, den Leiter des Erfurter Arbeitsamtes auf mich aufmerksam zu machen; ich möge dort nach einigen Tagen vorsprechen.
Als ich demgemäß den Leiter des Arbeitsamtes aufsuchte und mich auf die Empfehlung Fischotters bezog, sagte mir dieser Pg-Lümmel, daß er momentan keine Stelle wisse, aber da er „schon so viele Verbrecher untergebracht habe”, auch für mich etwas finden werde. Ich stand wortlos auf und verließ das Zimmer. Am nächsten Tag berichtete ich Fischotter das Benehmen dieses Mannes mit dem Zusatz, daß ich für jede behördliche Bemühung danke; ich würde mich allein umsehen. Fischotter zeigte sich betreten und sagte, daß er den Leiter des Arbeitsamtes zurecht weisen werde und fügte an, daß niemand ein Recht habe, mich irgendwie zu beleidigen. Wenn ich unter der Aufsicht der Gestapo stünde, so genösse ich auch deren Schutz. Er bäte mich, falls irgend jemand es versuchen sollte, mich zu verunglimpfen, dies abzuweisen und ihm sogleich zu berichten; er werde die Bestrafung des Schuldigen veranlassen. Also so weit hatte ich es gebracht, daß ich nun sogar unter dem Schutz der Gestapo stand! Ich will nicht leugnen, daß mir das damals einiges bedeutete. Denn alle vorangegangenen Umstände hatten eine bedeutende seelische Depression in mir hervorgerufen, die jede Stützung dankbar annahm.
Meine Vermieterin in der Karthäuserstraße, Frau Sablowski, war eine Ostpreußin. Überaus taktvoll und beflissen bemühte sie sich, mir das Wohnen bei ihr möglichst angenehm zu gestalten. Zweifellos war sie von der Gestapo über mich orientiert und mit einem Beobachtungsauftrag versehen worden. Sie brachte aber niemals das Gespräch auf die Politik, um mich auszuforschen. Hingegen erzählte sie mir das Leid ihrer Ehe, welche ihr Mann nach 20jährigem Zusammenleben nun zu trennen gedachte, um ein junges Ding zu heiraten. Dabei war es das einzige Mal, daß sie auf den Nazismus hinwies, der die Männer mehr oder weniger auffordere, sich junge Frauen zu nehmen. Sie werde aber nicht in die Scheidung willigen; auch die Dienstbehörde stütze sie, indem sie den Mann in eine kleine Station versetzt und die Dienstwohnung ihr belassen habe. Die Frau hatte eine Tochter, die an einen Vertreter der Oetker-Backpulverwerke wohlhabend verheiratet war, und einen außerordentlich netten Sohn, der gerade kurz nach meinem Einzug in das Kabinett, von seiner militärischen Dienstpflicht beim Erfurter Panzerregiment entlassen worden war. Er hatte nun in einer Hosenträger-Fertigungsfirma die kaufmännische Lehre angetreten. Er sowie seine Schwester und deren Mann begegneten mir mit der gleichen Zuvorkommenheit wie die Mutter. An Sonntagen luden sie mich ein, kleine Auto-Ausflüge mit ihnen zu machen, wodurch ich die sehr ansprechende Umgebung Erfurts kennenlernte.
Sehr erstaunte mich die unendliche Bescheidenheit dieser Familie in Essensfragen. Die einzige gemeinsame Mahlzeit von Mutter und Sohn war der Nachmittagskaffee. Der wurde wohl aus guten Bohnen ohne Zusatz bereitet. Dazu gab es zwei bis drei Cakes pro Kopf und für den Sohn ab und zu eine Scheibe Wurst. Nachtmahl gab es keines. Zu Mittag aß der Sohn in der Werkküche seines Betriebes, die Mutter jedoch, die daheim alle Arbeit allein machte, kaum je etwas Gekochtes. Ich revanchierte mich für die gemütliche nachmittägige Kaffeestunde mit Kaffee-, Cakes-, Käse- und Butter-Einkäufen, die aber niemals die Familie zu stärkerem Essen veranlaßten.
Mir stand in der Wohnung auch das Badezimmer zur Verfügung, was eine große Wohltat war. Während die Zimmer die Aussicht auf das Gelände des ehemaligen Hauptbahnhofes freigaben, lag das Fenster des Baderaumes zur Karthäuserstraße, in der unmittelbar neben unserem Wohnhause der schöne, solid aus Ziegeln erbaute Jüdische Tempel stand.
Am Morgen des 10.November 1938 sah ich beim Rasieren starken Rauch aus dem Tempel qualmen. Da ich noch nicht angekleidet war, rief ich laut aus dem Badezimmer: „Frau Sablowski, es brennt! Verständigen Sie die Feuerwehr!” Die Frau rief mir zurück, es hätte in der Nacht gebrannt; das sei jetzt nur mehr das Ende der Feuersbrunst; man habe mich in der Nacht nicht stören wollen; kein Grund zur Aufregung! Donnerwetter dachte ich mir, die Leute hier haben aber gute Nerven! Beim Frühstück stellte meine Vermieterin das Radio an, das unter anderem die Nachricht brachte, daß aus spontaner Volkswut über das Attentat, das ein Jude in der Schweiz an einem deutschen Gesandtschaftsbeamten verübt hatte, in ganz Deutschland alle jüdischen Tempel verbrannt worden waren. Ich sagte nichts. Kannte ich doch aus meiner Berliner Attachézeit am Beispiel des von Göring organisierten Reichstagsbrandes, wie der Nazismus „spontane Volkswut” zu arrangieren verstand!
Nachher besah ich mir den Tempel. Baulich war eigentlich nicht viel geschehen. Das solide Ziegelwerk hatte den Brand, zu dem - wie ich viel später nach Kriegsende erfuhr - ein Herr Beuchel das Benzin beizustellen hatte, gut überstanden. Die Vorhänge, Bücher und das Gestühl waren allerdings verbrannt. Trotzdem wurde kurz darauf das Betreten des Tempels „wegen Einsturzgefahr” verboten.
Während meiner Meldung bei Fischotter am späten Vormittag fragte er mich, ob ich durch den Tempelbrand gestört worden sei. Ich mußte verneinen, da meine Schlafkammer an der dem Tempel abgewandten Hausseite lag und Sablowskis mich nicht geweckt hatten. Anschließend wurde Fischotter angerufen und ich hörte ihn ins Telephon sagen, daß „das Unternehmen” in voller Ruhe abgelaufen und in der Stadt keinerlei Aufregung zu bemerken sei. Offenbar hatte die vorgesetzte Dienststelle aus Berlin angefragt. Ich sagte nichts dazu. Wie hätte ich den Juden durch einen Protest helfen können? Daß ich solche Nazimethoden nicht billigte, wußte Fischotter ja! So stand ich, nachdem er die Audienz für beendet erklärt hatte, wie an allen vorangegangenen Tagen wortlos auf und empfahl mich. In die Geschichte ist diese Schandtat der Tempelzerstörungen als „Reichskristallnacht” eingegangen.
Einer großen und schönen Überraschung während dieser Tage muß ich gedenken: Als ich vom Mittagessen heimkam, erzählte mir Frau Sablowski, daß eine türkische Dame aus Wien, Frau Teker, mich besuchen wollte; sie hätte sich erkundigt, wie es mir gehe und habe sich meine Schlafkammer und die Wohnung besehen, um meinen Töchtern berichten zu können; die Dame fahre mit dem kurz nach halb drei Uhr abgehenden Schnellzug nach Zella-Mehlis. Ich sah auf die Uhr: es war halb zwei, so daß ich Elfi, die liebe, noch von meiner guten Frau ausgesuchte Mathematik-Korrepetitorin, noch treffen konnte. Ich wußte, daß sie in Wien einen türkischen Waffen-Einkäufer namens Teker geheiratet hatte. Unterwegs kaufte ich einen Blumenstrauß und traf sie gleich am richtigen Bahnsteig vor dem Zug. Ich war ihr für ihren Besuch unendlich dankbar, denn sie konnte nun meine Kinder durch ihren persönlichen Augenschein beruhigen. Es ging mir tatsächlich so gut, wie ich das in meinen fast täglichen Briefen und Karten schrieb. Anderseits konnte sie mir bestätigen, daß die Mädel wohlauf seien und der Brigadepfarrer Tegel sie in schönster und bester Weise betreue; auch die Köchin Käthe sorge sehr ordentlich für die beiden. Frau Teker reiste ihrem Mann nach Zella-Mehlis nach, wohin dieser schon mit dem Morgenzug gefahren war.
Mich beschäftigte natürlich ununterbrochen der Gedanke, meine Kinder nachzuholen. Wie lange sich der Nationalsozialismus halten können würde, stand bei Gott. Daß aber Hitler mit Zustimmung von Frankreich und England das sudetendeutsche Gebiet von der Tschechoslowakei abtrennen und ohne Schwertstreich Deutschland einverleiben konnte, war ein gewaltiger Erfolg, demgegenüber ich meine Ablehnung des Nazismus' innerlich schwer verteidigen mußte. Jedenfalls suchte ich eine Wohnung in Erfurt, um dorthin zu übersiedeln, andernfalls mir die Kinder ganz aus der Hand kommen würden. Ich ließ mir auch Kostenvoranschläge für die Übersiedlung der Möbel nach Erfurt machen, die erstaunlich niedrig ausfielen. Jeden Pfenning zusammenkratzend, konnte ich finanziell durchkommen.
Um alles gut durchsprechen zu können, lud ich meine Mädel ein, über die Weihnachtsferien nach Erfurt zu kommen. Frau Sablowski war so entgegenkommend, meine Töchter während der Weihnachtsferien bei sich aufzunehmen. Und inzwischen hatte ich auch eine schöne preiswerte Wohnung in der Daberstedter Straße 5 ausfindig gemacht, die mit 1.April 1939 beziehbar war.
Mein eigenes Leben in Erfurt hatte sich folgendermaßen eingespielt: Gleich nach dem Frühstück ging ich in die Stadtbibliothek, die im Gebäude der alten Erfurter Universität, welche von Preußen aufgelassen worden war, ein schönes, durch praktischen Innenausbau ganz modernes Heim gefunden hatte. Dort las ich sehr viel wissenschaftlich-historische Werke, unter denen ich Delbrück ganz durchgearbeitet habe. Gegen Mittag meldete ich mich bei der Staatspolizei und nahm anschließend das Essen in der Löberstraße im Gasthaus „Schwarzer Adler” ein. Nachmittags schrieb ich im Hause Sablowski an meine Kinder und las viel Arbeitsannoncen.
Dabei fühlte ich mich jedoch recht unbeholfen. Da in meiner Familie außer einem Buchhändler in Fulda in keiner Linie Geschäftsleute aufgetreten waren, fehlte mir die Witterung dafür, was ich beginnen könnte. Kapital, um mich in irgendein Geschäft einzukaufen, fehlte mir. Überall wo ich wegen einer Warenvertretung hinschrieb, verlangte man bereitgestellte Geschäfts- und Magazinräume und eine Anzahlung für die Warenlieferungen. So schränkte sich die Betätigungsmöglichkeit nach und nach auf das reine Laufgeschäft eines Vertreters ein, zu welchem freilich auf technischem Gebiet große Warenkenntnisse Voraussetzung waren, die ich erst erwerben mußte. Das Versicherungsgeschäft war das einzige, das sich durch Studium gedruckter Prospekte rasch erlernen ließ. Aber die Notwendigkeit, hiebei von Tür zu Tür zu laufen und die Menschen in ihren Wohnungen zu stören, berührte mich erst einmal sehr unsympathisch. Meine hohe militärische Stellung in Österreich hatte in mir einen geistigen Sperrkomplex geschaffen, der sich nur nach und nach überwinden ließ. So hielt ich zunächst die Augen offen, erkundigte mich nach allen Seiten und gewann so langsam die Überzeugung, daß - besonders im geschäftlich regen Erfurt - keine Beschäftigung, wenn sie nur sauber betrieben wurde, einem aus der eingebildeten Krone einen Stein nehmen würde.
Anläßlich eines Besuch meines zuständigen römisch-katholischen Pfarrers, eines älteren, wohlwollenden Herrn, erzählte ich, ihn aufs Beichtgeheimnis verpflichtend, mein Geschick, meine Familienverhältnisse und meine Absicht mich geschäftlich zu betätigen. Er hörte mich zunächst ruhig an und forderte mich auf, ihn öfter zu besuchen. Ich verstand das sehr gut: nach dem Druck, der von nationalsozialistischer Seite auf die Seelsorger ausgeübt wurde, mußte er sich erst Sicherheit über meine Person und die Wahrhaftigkeit meiner Angaben schaffen. Bei einem meiner nächsten Besuche riet er mir, vor dem Versicherungsberuf nicht zurückzuscheuen. In Deutschland sei das Verständnis für die Notwendigkeit, den Widrigkeiten des Lebens durch den Abschluß von vielerlei Versicherungen zu begegnen, groß. Mit dem nebenberuflichen Versicherungswesen beschäftigten sich in Deutschland viele, sehr hoch gestellte Persönlichkeiten. Wenn ich begonnen haben würde, könnte er mir durch Angabe von Adressen Neugeborener und neu geschlossener Ehen helfen und mich auch seinen Amtskollegen in den anderen Pfarrsprengeln empfehlen. So angeregt, begann ich mich nun für die verschiedenen Versicherungsunternehmungen zu interessieren. Bevor ich aber zu einem Entschluss gekommen war, stand das Weihnachtsfest vor der Tür.
Am Morgen des ersten Weihnachtstages konnte ich meine Kinder am Bahnhof Erfurt begrüßen. Nach dem Frühstück legten sich beide gleich schlafen, so daß ich ihnen Erfurt erst bei Dunkelheit zeigen konnte. Für die Mädel war Erfurt natürlich ein kleines Kaff; alle meine Demonstrationen von Erfurts Schönheiten fanden wenig Gefallen. Ich zeigte ihnen das schöne Haus, in dem wir wohnen würden, aber auch das vermochte ihnen keinen Eindruck zu machen. Sie gaben die Notwendigkeit des Zusammenlebens wohl zu, aber gerne übersiedelten sie nicht nach Erfurt. Die gemeinsam verlebten Tage vergingen schnell und bald war ich wieder allein.
In der Erfurter Stadtbücherei hatte sich jeder Leser täglich in eine aufliegende Präsenzliste unter Angabe seines Berufes einzutragen. Ich schrieb daher in die entsprechende Rubrik wahrheitsgemäß: „Feldmarschalleutnant i.R.”. In Deutschland lautete die gleiche militärische Rangstufe Generalleutnant. Wer also meine Chargenbezeichnung las und mit militärischen Rangbezeichnungen vertraut war, wußte, daß es sich bei mir um einen Österreicher handelte.
Eines Tages trat in der Bücherei ein gedrungener Herr etwa meines Alters auf mich zu und fragte, ob ich nicht Österreicher sei. Ich bejahte. Da erst stellte sich der Mann vor: er heiße Florer, sei Altösterreicher aus Böhmen und k.u.k. Militär-Auditor in Czernowitz gewesen. Jetzt lebe er seit Jahren in Erfurt und würde sich freuen, wenn ich ihn in seinem Haus in der Cyriakstraße 44 besuchen würde. Der Mann war ärmlich gekleidet und sprach deutsch mit deutlich slawischen, aber nicht dem üblichen tschechischen Akzent. Ich nahm diese Einladung mit kühler Zurückhaltung zur Kenntnis. Daraufhin setzte er sich zu seinem Buch, und ich las in meinem weiter. Schliesslich sah ich auffällig auf die Uhr, stand rasch auf, gab mein Buch ab und ging. Denn ich liebte solche Stegreifbekanntschaften nicht. War das etwa ein Spitzel? Ich wollte Kommissar Fischotter befragen.
Die Gestapo war seit Jahresbeginn 1939 aus ihrer Villa in ein gerade fertig gewordenes Amtsgebäude in der Arnstädter-Straße übersiedelt. Dieses war mit allen erdenklichen Finessen gesichert: nach der Anmeldung beim Tor-Polizisten öffnete dieser durch Druck auf einen Schalter eine Glastür im Vestibül. Wenn man diese durchschritten hatte, stand man in einem Vorraum, dessen rechts und links abzweigende Gänge durch schwere eiserne Gittertüren abgeschlossen waren. Hinter jeder Gittertür saß ein SS-Mann in schwarzer Uniform mit einem Gewehr zwischen den Knien. Nach Auskunft des Torpostens hatte ich mich zur rechten Gittertür zu wenden. Nach Nennung meines Namens und Angabe, daß ich mich beim Kommissar Fischotter zu melden habe, öffnete sich die Eisengittertür und fiel nach meinem Durchgang sofort wieder ins Schloß. Das markante Geräusch, das ich nun durch sieben Jahre hören sollte, anfangs täglich, später jeden zweiten Tag, wirkte beim Eintreten stets wie eine Freiheitsberaubung; und beim Heraustreten atmete ich jedes Mal tief auf. Fischotter kannte ich wohl schon durch drei Monate. Aber sowohl er, wie auch die Türposten wurden im Laufe der Jahre ausgewechselt. Mir begegneten sympathische und unsympathische, höfliche und rauhe Männer. Die einen ließen mich beim Eintreten glatt passieren, andere verlangten eine genaue Legitimation und suchten in meinen Kleidertaschen nach Waffen. Zu Fischotter durfte ich ungeleitet gehen, zu seinen Nachfolgern wurde ich dann eskortiert. Wie im Wiener Hotel Metropol herrschte in diesem neu gebauten Haus Anonymität. Jede Tür zeigte nur eine Nummer statt eines Namensschildes. Der Kommissar amtierte in einem schönen großen Raum im ersten Stock, in den man nicht direkt, sondern durch einen Vorraum eintrat.
Fischotter gestand mir folgende Erleichterung zu: es werde künftig genügen, wenn ich mich beim inneren Torposten „zeige”. Dieser werde mir sagen, ob ich in den ersten Stock zu kommen hätte oder gleich umkehren dürfe. Wenn es in der Folge hieß, daß ich zum Kommissar zu gehen hätte, so bedeute das immer, daß er mich etwas zu fragen oder an meinem ihm hinterbrachten Verhalten auszusetzen hatte. Deshalb wurden meine Nerven für das Zuklappen der Eisentür besonders empfindlich.
Auf meine Frage also, wer jener Herr Florer sei, der mich in der Stadtbücherei zu sich eingeladen hatte, bekam ich nach zwei Tagen den Bescheid, mit diesem Manne könne ich unbedenklich verkehren, er sei harmlos.
An einem der folgenden Tage forderte mich Dr.Florer in der Stadtbücherei auf, mit ihm nach Hause zu gehen. Ich lernte dort seine Frau, eine sehr distinguierte Dame, und seine Tochter Trude kennen, die mit einem aus Böhmen stammenden Beamten des Erfurter staatlichen Finanzamtes, Dr.iur.Dick, verheiratet war. Ich wurde freundlich aufgenommen. Herr Florer zeigte mir seine große historisch-rechtswissenschaftliche Bibliothek und einige seiner Aquarelle und Zeichnungen. Er war ein altösterreichischer Patriot und Bewunderer der versunkenen österreichisch-ungarischen Monarchie. Er hatte einen Teil seiner Studien in Lemberg absolviert und sprach tadellos Polnisch, was seinem deutschen Sprechen den leichten slawischen Akzent gab. Nach einer Weile erhob ich mich, da ich ja bei der Gestapo meine Meldung machen mußte. Es war mir auch hier außerordentlich peinlich, den Grund meines Aufenthaltes in Erfurt verleugnen zu müssen. Die Familie war jedoch politisch desinteressiert, und da sie selbst aus Böhmen nach Erfurt gezogen waren, schien sie mein Zuzug nicht zu wundern.
In der nämlichen Stadtbibliothek sprach mich der Bibliotheksdirektor eines Tages darauf an, ob ich nicht den historisch-genealogischen Verein besuchen wolle, in dem jeden Monat, gelegentlich einer geselligen Zusammenkunft in einem Restaurant, ein Vortrag gehalten werde. Der Verein bestehe vornehmlich aus emeritierten Pastoren, die mir durch ihn sagen ließen, daß sie mich gerne in ihrem Kreise sehen würden. Ich dankte erfreut, weil das eine unverfänglich honorige Gesellschaft war und gab nur zu bedenken, daß ich Katholik sei. Das wisse man; Oberpfarrer Burow, der Präsident, hätte mich seinerzeit oft in Berlin in seinem Gotteshaus gesehen, wenn Pfarrer Niemöller dort gepredigt hatte. Nun wußte ich die Richtung der historisch-genealogischen Gesellschaft! Niemöller, im Ersten Weltkrieg deutscher Unterseebootoffizier, war nach den prachtvollen katholischen Bischöfen Graf Galen (Münster), Faulhaber (München) und Preysing (Berlin) der Protestant, der nicht minder mutig gegen Hitler und den Nationalsozialismus gepredigt hatte. Ich war mit meiner lieben Frau oft in Dahlems Kirche gewesen, um Niemöller zu hören, weil der katholische Pfarrer im Berliner Diplomatenviertel ganz in den nationalsozialistischen Segnungen schwamm.
Ich nahm die Einladung spontan an. Möglicherweise hätte ich durch eine Absage gar das Odium der Feigheit auf mich nehmen müssen. Um allen Aufpassern den Wind aus den Segeln zu nehmen, teilte ich Kommissar Fischotter einfach mit, daß ich vom Stadtbibliothekar zu den Vorträgen der historisch-genealogischen Gesellschaft geladen worden sei und teilnehmen werde. Fischotter erwiderte, er hätte sich schon früher gedacht, daß ich die gesuchte Nebenbeschäftigung vielleicht in der Stadtbücherei finden könnte. Als staatsgefährlich wurden die guten Pastoren also nicht gewertet!
Die Vorträge dieses Kreises befaßten sich wenig mit Genealogie, jedoch viel mit der neueren schöngeistigen und religiösen Literatur. Ich wurde von den Pfarrern und ihren Frauen sehr freundlich aufgenommen und habe in den folgenden Jahren viel mit ihnen verkehrt. In diesem klar orientierten, sehr bescheiden auftretenden Zirkel wurde ich nie gefragt, warum ich nach Erfurt gekommen war; das war angenehm. Aber auch über Politik wurde nie gesprochen und selbst die nach und nach immer stärker werdende antireligiöse Haltung des Nationalsozialismus' höchstens unter vier Augen beurteilt. Zu der katholischen Geistlichkeit bestanden vereinsmäßig keine Beziehungen. Meinen zuständigen katholischen Pfarrer Schulte von St.Wigbert orientierte ich. Der katholische Klerus bot zu Beginn meines Aufenthaltes nichts Ähnliches. Erst nach etwa drei Jahren organisierte der Domprobst ausgezeichnete Vorträge über historische Themen, die in der kleinen Propsteikirche unterhalb des mächtigen Domes gehalten wurden. Dafür bildete das damals gerade neu erschienene biographische Werk von Brandis über Kaiser Karl V. den Untergrund.
Die kirchlichen Verhältnisse in Erfurt waren eigenartig: die Stadt zählte etwa 165.000 Einwohner und 15 große Kirchen. 150.000 Menschen waren protestantisch und nur 15.000 katholisch. Trotzdem waren bloß 7 der großen Kirchen den Protestanten zugesprochen, während 8, darunter die beiden Wahrzeichen Erfurts auf dem Dom-Hügel, Dom und Severi, katholisch geblieben waren. Das Protestantentum erschien mir lau, während die Intensität der katholischen Diaspora in Glaubenssachen und Kirchenbesuch stark und während der ganzen Dauer des Nazitums ungeschwächt auffiel. Erfurt gehörte zu dem in der kleinen Stadt Fulda residierenden St.Bonifacius-Bistum und war unter seinem Domprälaten hervorragend organisiert: es betrieb ein eigenes schönes, großes Krankenhaus, ein Priesterseminar, eine hervorragende Mädchenschule im Ursulinenkloster, eine Kinderkrippe und noch eine Reihe caritativer Einrichtungen sowie katholische Mittagstische.
Einmal, nachdem meine beiden Töchter bereits nach Erfurt übersiedelt waren, hielt in der genealogischen Pastorengesellschaft ein mir ganz unbekannter Landgerichtsrat Bauer einen Vortrag unter dem tit „Ist Geschichte eine Wissenschaft?”. Der Vortrag wurde von den Pastoren so kühl, ja fast abweisend aufgenommen, daß ich mich verpflichtet fühlte, dem Vortragenden wenigstens mit ein paar verbindlich anerkennenden Worten zu danken. Zu meinem großen Erstaunen erschien der Landgerichtsrat zwei Tage später in unserer Wohnung, um mir einen Besuch abzustatten und zu danken: ich hätte als einziger den Sinn und Gedankengang seines Vortrages erfaßt. Zwischen diesem um zehn Jahre älteren Mann und mir entwickelte sich in der Folge eine Freundschaft, die sich auch nach meiner Heimkehr nach Österreich brieflich bis zu seinem 1959 erfolgten Tod fortsetzte.
Dr.Franz Bauer war einer jener nicht seltenen Juristen, die im späteren Leben ihre Liebe zur Geschichte entdeckten. Seine historischen Studien machten aus ihm einen begeisterten Bewunderer der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie und Verächter Preußens. Seine in Graz lebende Schwester hatte einen österreichischen Offizier geheiratet, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Durch diese Schwester zog er, wie er mir später gestanden hatte, Nachrichten über mich ein, die ihn über meine gegen Hitler gerichtete Tätigkeit als Chef des österreichischen Generalstabes bald voll ins Bild setzten. Er war ein bedingungsloser Feind aller Nationalsozialisten und nannte Hitler immer nur einen größenwahnsinnigen Narren, und das unbekümmert mit einer Lautstärke, die mir im Hinblick auf meine Aufpasser oft unangenehm war. Dagegen hing er mir mit einer hochachtenden Freundschaft an, deren Urgrund mir bis heute nicht klar geworden ist, da ich doch weder Jurist noch zünftiger Historiker war. Wir sprachen uns gut. Ich blieb bewußt bescheiden, trumpfte nie bramarbasierend auf, trotzdem forderte er mich immer wieder auf, den Ablauf meines Lebens aufzuzeichnen. Es war seine Triebkraft, die mich nach dem 73.Lebensjahr bewog, diese Aufzeichnungen zu machen. Nicht als Buch für die Öffentlichkeit gedacht, sondern für meinen Enkel und einen kleinen Kreis von befreundeten Interessenten wie Professor Hantsch und Dozenten Jedlicka. In Erfurt habe ich durch Ordnung und Beschriftung der vielen Photographien in sechs Alben meine Lebenserinnerungen gesammelt und als ansprechende Erinnerung für meine beiden Töchter zusammengestellt; sie sind mir für die vorliegende Niederschrift ein maßgeblicher Gedächtnisbehelf geworden. Dr.Bauer selbst war ein geistvoller Mensch, dessen sezierend scharfer Verstand mehr auf Sarkasmus, denn auf religiöse Vertiefung ausgerichtet schien. Seine Frau hingegen und besonders sein jüngerer Sohn und die mit ihnen in Freundschaft lebende Familie des Amtsgerichtsrates Mavors waren tief religiös und gütig.
Nachzutragen wäre jetzt, daß Ende April die Übersiedlung meiner Töchter nach Erfurt mit dem gesamten Mobiliar planmäßig erfolgte und sogar unsere Köchin Käthe mitkam. Der gute Pfarrer Tegel hatte es sich nicht nehmen lassen, meine Töchter in seinem Privatauto über München und Nürnberg zu mir nach Erfurt zu bringen.
Zwei Tage blieb Tegel bei uns, während der ich ihm und den Mädeln Erfurt zeigte. Nachdem ich ihm für sein hohes Maß an priesterlicher Hilfsbereitschaft von Herzen gedankt hatte, fuhr dieser nach Wien zurück im festen Glauben, daß es nur weniger Monate bedürfen werde, um Hitler mit seinem ganzen Nationalsozialismus zusammenbrechen zu sehen. Ich war anderer Meinung; ich glaubte, da die Welt Hitler alles konzedierte, daß noch einige Jahre des Unglücks über uns kommen würden. Ich war überzeugt, daß Hitler auf einen Krieg lossteuerte. Wie verständnislos, ängstlich und mutlos die Mächte dem Nationalsozialismus gegenüber handelten, hatte ich ja bei der Abrüstungskonferenz in Genf selbst Tag für Tag beobachten können. Hitler war bisher die Erfüllung aller seiner Begehrlichkeiten geglückt und zwar trotz seiner bereits seit 1933 offenen Judenverfolgungen:
die Wiedergewinnung des als Pfand nach dem Frieden von Versailles von Frankreich und England besetzt gehaltenen Rheinlandes,
die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und darüber hinaus eine massive Kriegsrüstung,
die Annexion Österreichs,
die Abtretung des Sudetenlandes und bedeutender Gebiete Mährens von der Tschechoslowakei und, kurz nachdem Tegel abgereist war, die Umwandlung der Tschechoslowakei in ein Deutschland unterstelltes Generalgouvernement auf Grund des Münchener Abkommens und
die Selbständigmachung der Slowakei unter deutscher Schutzherrschaft.
Immer wieder hatten die Westmächte gedroht, dies oder jenes wäre ihre letzte Konzession, um dann Hitler immer wieder nachzugeben. Mussolini war ein Bundesgenosse Hitlers geworden. Diese Kumpanei allerdings hatte Hitler durch seine Bestätigung der Zugehörigkeit des deutschen Südtirols zu Italien - nach seinen eigenen Kriterien durch einen glatten Volksverrat - gefestigt. Als es diesem im Spätsommer 1939 auch gelang, Sowjetrussland auf seine Seite zu bringen, da wurde ich an meiner Verurteilung dieses Mannes irre. Gott ließ diesen Mann glückhaft Dinge vollziehen, scheinbar ohne Schwertstreich, die niemandem vor ihm gelungen waren. Deutschland war mit Russland zusammen ein unbesiegbarer Block. Gäbe sich Hitler nun mit dem Erreichten zufrieden, dann hatte er Deutschland groß und stark gemacht wie niemand vor ihm, und alle bösen, von Clemenceau ersonnenen sogenannten Friedensverträge von Versailles, Saint-Germain und Trianon ausgelöscht. Allerdings war damit auch der künftige Weg Deutschlands in den braunen Bolschewismus vorgezeichnet. Sollte Gott wirklich diesen Mann zur Beseitigung des schweren Unrechts, das die Westmächte mit Amerika nach dem Ersten Weltkrieg Deutschland und Österreich-Ungarn angetan hatten, gewählt haben?
Im Mai des Jahres 1939 hieß es, daß alle österreichischen Offiziere, die sich gegen den Nationalsozialismus gestellt hatten, nicht würdig wären, ein deutsches Ruhegehalt zu beziehen. Deshalb wurden ihre Bezüge auf das alte österreichische Ausmaß gekürzt. Das bedeutete für mich die Verringerung meines Ruhegehaltes um rund 33 Prozent, eine Katastrophe, weil ich die Umzugskosten nach Erfurt beglichen hatte und deshalb keinen Pfennig Reserve mehr besaß. Mit dieser gekürzten Pension war es unmöglich, die Studienkosten meiner Kinder zu bedecken. Denn Erfurt besaß ja keine Hochschule. Ich mußte nicht nur die in Deutschland viel höheren Studiengebühren aufbringen, sondern auch für die Unterhaltskosten der Mädeln in den künftig in Betracht kommenden nächsten Universitätsstädten Jena oder Leipzig Vorsorge treffen.
Jetzt war also der Moment gekommen, da ich in den sauren Apfel beißen mußte. So ging ich denn in die nahe gelegene Erfurter Filiale des Rheinischen Gerling-Konzerns und bot meine Dienste als Versicherungsagent an. Der einfache, grundanständige Leiter, Herr Öhlers, nahm mich mit großem Entgegenkommen auf, weil ihm ein Vertreter fehlte, der nach Bildung und Auftreten für die Bearbeitung der Akademiker geeignet war.
Während ich in den nächsten Tagen die vielen Drucksorten über die verschiedenen Versicherungsmöglichkeiten studierte, erhielt ich eine Vorladung der geschäftlichen Vertrauens- und Auskunftsstelle. Damals hatte ich noch keine Ahnung, daß es so etwas gab, und ging neugierig hin. Von einer älteren Dame artig empfangen, wurde ich zu einem alten Herrn geführt, auf dessen Schreibtisch sich hohe Papierstöße stapelten. Auch dieser Herr zeigte sich zuvorkommend, bat mich Platz zu nehmen und begann ein Gespräch zu führen, dessen wenig geschickter Führung ich bald entnehmen konnte, daß der Gerling-Konzern Informationen über meine Vertrauenswürdigkeit erbeten hatte. Um meinen Geschäftsbeginn nicht zu verzögern, gab ich bereitwillig alle gewünschten Auskünfte und benannte als Referenzen meinen hofrätlichen Bruder in Wien, den zuständigen katholischen Pfarrer Schulte und dazu den protestantischen Pfarrer Burow; am liebsten hätte ich noch die Geheime Staatspolizei genannt, doch das durfte ich ja nicht. Wie erstaunt aber war ich, als der alte Herr mich bei der Verabschiedung fragte, ob ich praktizierender Katholik sei! Auf mein Bejahen änderten sich seine Miene und die seiner Sekretärin in freundliches Lächeln. Beide sagten, daß sie mich mit Adressenmaterial versorgen und mir unentgeltlich mit allen Auskünften, die ich über meine künftige Klientel benötigen würde, dienen wollten. Das war der erste praktische Beweis katholischer Hilfsbereitschaft in Erfurts Diaspora. Bald bekam ich auch von meinem guten Pfarrer Schulte und nach dessen Empfehlung auch von allen anderen katholischen Pfarrern Auskünfte über Geburten und Eheschließungen, die als beste Anknüpfungspunkte für Versicherungsgespräche galten.
Gleichwohl war es mir anfangs schrecklich peinlich, an fremden Privattüren klopfen und mich als Versicherungsvertreter vorstellen zu sollen, um dann in längerer oder kürzerer Rede die Vorteile einer Lebens-, Einbruchs- oder Diebstahlsversicherung beweiskräftig darzulegen. Zum Glück zeigte man sich in Deutschland für solche kommerzielle Gespräche viel aufgeschlossener als in Österreich. Die Leute verdienten alle mehr und konnten daher von ihren Einkommen leichter die Prämienbeträge zugunsten ihrer Familien abzweigen. Ein guter Grund für die Vorteile einer Versicherung war mir anfangs die Tatsache, daß ich sofort nach dem Tod meiner Frau mein Leben mit 20.000,- Schilling zugunsten meiner Töchter ebenso versichert hatte wie die Kosten meines allfälligen Begräbnisses. Ich konnte die Versicherungsscheine vorzeigen und dadurch beweisen, daß ich selbst wirklich von den Vorteilen einer Versicherung überzeugt war.
Als erste Kunden gelang es mir bald zwei Ärzte und einen Architekten zu gewinnen. Der anfängliche und auch später von mir gebrachte Erfolg war bitter genug errungen: auf etwa zehn bis zwölf Besuche fiel ein Versicherungsabschluß. Man mußte also fleißig herumlaufen und anfängliche Abweisungen nicht als endgültig betrachten, sondern den Besuch in entsprechenden Abständen wiederholen, immer sehr höflich und geduldig bleiben. Ich lernte dieserart viele Menschen und ihre Tätigkeit kennen: offene und abweisende, wenig rasch entschlossene, viele Zauderer, denen ich, nach vorheriger Aussprache mit ihren Frauen, die Einsparungsmöglichkeiten für die Prämien aufzeigen und erläutern mußte. Manche fanden erst nach Geschäftsschluß am Abend Zeit für solche Unterredungen. Im allgemeinen waren für Lebensversicherungen leichter die Frauen zu gewinnen; begreiflich, daß diese ihre Existenz und jene ihrer Kinder durch Versicherungen vorsorglich behütet sehen wollten, was sich nach Kriegsbeginn noch steigerte. Wegen der Einziehung anderer Vertreter zur Wehrmacht mußte ich in der Folge auch die Bearbeitung der Rayone außerhalb Erfurts übernehmen, was mir gegen meine Erwartung von der Gestapo zugestanden wurde. So lernte ich bald Arnstadt, Suhl, Zella-Mehlis, Meiningen, Jena, Gotha, Sangerhausen, Eisenach, Mühlhausen in Thüringen und andere Orte kennen.
Vom Gerling-Konzern bekam ich die Reisespesen, Verköstigungs- und Nächtigungskosten im vollen Umfang vergütet und außerdem bei Lebensversicherungen 25% vom abgeschlossenen Betrag als Provision. Das heißt also, daß ich für 10.000 Mark Versicherungssumme einmalig 250 Mark Provision erlöste. Auto-, Einbruchs- und andere Versicherungen hatten kleinere Provisionen, dafür jedoch 1-2 Prozent des Prämienbetrages für die ganze Laufzeit einer solchen Versicherung. Ich verdiente bald 500 Mark monatlich und mehr, wodurch nicht nur meine Gehaltskürzung ausgeglichen, sondern auch die so notwendige Rücklage für Ersparnisse als Notpfennig für Krankheit, Urlaubsreisen usw. möglich wurde. Mit der Zeit schuf ich mir in allen Orten Mitarbeiter, Männer und Frauen, denen ich bei Erfolgen einen Teil meiner Provision überließ.
Voll Dankbarkeit möchte ich hier auch unseren Hausherrn, Fleischhauer Kittel, und seine Familie hervorheben. Das waren herzensgute Menschen, welche in der Notzeit des späteren Krieges oft mit Fleisch und Wurst aus ihrem Laden halfen. Der Schwiegersohn Kittels war zwar SS-Offizier in Reserve, aber ebenso hilfsbereit wie seine Schwiegereltern.
Während Judith im Herbst 1939 in den Arbeitsdienst einrückte, besuchte meine jüngere Tochter die Königin-Luise-Schule. Im Klassenvorstand, Frl.Pohle, fand sie bald eine wohlgesinnte Lehrerin. Das ganze Milieu war jedenfalls weit günstiger als in Wien. Mit Frl.Pohle und ihrer verwitweten Mutter, die in der noblen Cyriakstraße eine sehr hübsche Gartenvilla zu eigen hatten, entspann sich in der Folge ein reger geselliger Verkehr, an dem auch Judith teilnahm. In der gleichen Klasse lernte ein Fräulein Inge, Tochter des a.o.Professors Zimmermann an der Universität Jena, der in Erfurt eine gynäkologische Praxis und eine Privatklinik betrieb.
Als einzige Österreicherin, Halbwaise und Generalskind fiel meine Tochter natürlich ihren Mitschülerinnen auf. Von deren Eltern kamen bald mehr oder weniger deutliche Aufforderungen zu einem geselligen Verkehr. Mit dem Hinweis auf mein Witwer-Dasein hielt ich mich sehr zurück. Eine direkte Einladung, die Frau Zimmermann bei einer zufälligen Begegnung mit unseren Töchtern in der Straßenbahn an mich richtete, konnte ich jedoch nicht ablehnen, ohne mir den Vorwurf der Unhöflichkeit zuzuziehen. In der Folge bildete sich eine rechte Freundschaft mit der Familie Zimmermann heraus. Prof.Zimmermann war fast auf den Tag genau gleich alt. Der Sonntag Nachmittag war für den schwer arbeitenden Mann die einzige Zeit zur Erholung, welche er in der Aussprache mit Freunden am besten fand. Wir konnten bald sehr gut miteinander sprechen. Häufige Gäste waren auch der Latein- und Französisch-Lehrer Dr.Becker mit Frau und eine verwitwete Frau Schulz. Diese Nachmittage begannen mit Kaffee und Kuchen, wurden mit einer Flasche guten Weines fortgesetzt, und oft wurde ich sogar zum Abendessen behalten. Zimmermann war als ehemaliger Marinearzt weit gereist und, obwohl selbst Parteigenosse, ein mächtiger Schimpfer auf Hitler, den er prinzipiell nur GröFaZ nannte, die ironische Abkürzung für „Größter Feldherr aller Zeiten”. In seinem von seiner liebenswürdigen Gattin nobel geführten Haus habe ich viele schöne Stunden verbracht. Gern hörte man mir zu, wenn ich von Österreich und seiner großartigen Geschichte erzählte.
Als ich 1946 Erfurt verließ um nach Österreich heimzukehren, kamen er und seine Frau zu meiner Verabschiedung zu mir in unsere Wohnung. Der Abschied war uns nicht leichtgefallen. Bis zum frühen Tod des Professors waren wir in Korrespondenz gestanden - er starb 1954 kurz nach der Vollendung des 70.Lebensjahres.
Unsere Wohnung in Erfurt war schön und groß. Die Aussicht nach Süden zeigte die hübschen Ausläufer des Thüringer Waldes. Sie verfügte über eine Etagenheizung, die leicht zu bedienen war und die Lebensführung sehr erleichterte, solange man Brennmaterial zu kaufen bekam. Käthe, unsere Köchin, war also aus Wien mitgekommen und leitete unseren Haushalt in Erfurt gut ein. Selbst fand sie leider keinen geselligen Anschluß, so daß sie bald Heimweh empfand und im Herbst nach Wien zurückkehrte. An ihre Stelle trat ein außerordentlich gewissenhaftes älteres Fräulein Emmy Bähr, das bis zum schrecklichen Kriegsende bei uns blieb. Die Wohnung hätte sich für größere Gesellschaften gut geeignet, doch der bald ausbrechende Krieg verhinderte dies. Auch brachte es mein Witwertum mit sich, daß ich öfter in die bekannten Familien geladen war, als daß diese zu mir kamen.
Unter den Familien, die großen Wert auf Verkehr mit uns legten, war auch ein junges Ehepaar Beuchel, das ich durch meine Versicherungstätigkeit kennengelernt hatte. Herr Beuchel war wohlhabender Repräsentant der Rüsselsheimer Opel-Werke in Erfurt mit einer unwahrscheinlich großen Autoreparaturwerkstätte.
Nun muß ich wieder zur Chronologie der Ereignisse zurückkehren. Im Herbst 1939 begann Hitler den unseligen Krieg gegen Polen und hatte damit das Maß dessen überschritten, was England ihm zu konzedieren bereit war. Dem Einmarsch in Polen folgte unmittelbar die Kriegserklärung Englands und Frankreichs an Deutschland. Das erkannte ich gleich als sehr gefährlich, doch schien mir die Feindschaft der Westmächte so lange nicht unbedingt tödlich für Deutschland, als dieses mit dem enormen Ländergebiet Russlands verbündet blieb. Natürlich drohte bei der Gemeinschaft mit Russland ganz Europa der braun-rote Bolschewismus.
Grenzenlos erstaunte mich dann, daß England und Frankreich nicht sofort nach der Kriegserklärung in Deutschland einmarschierten. Das war strategisch ein schwerer Fehler, der es Hitler in seiner Übermacht ermöglichte, Polen in kurzer Zeit völlig unbehindert vernichtend zu schlagen und zwischen Nazideutschland und Sowjetrussland aufzuteilen. Er konnte nachher seine ganze militärische Macht völlig ungestört und gestärkt durch die in Polen mit den Panzern gewonnene Kriegserfahrung gegen die Westmächte konzentrieren.
Der im Frühjahr 1940 errungene vernichtende Erfolg Hitlers gegen Frankreich und England im Verein mit der England zuvorkommenden Besetzung ganz Norwegens als erweiterter Basis für den Luftkampf gegen England ließ mich zu diesem Zeitpunkt glauben, daß Gott - für meinen Verstand unfaßbar - alle Erfolge Hitler zusprach. Das bewirkte bei mir eine schwere Wertespaltung: einerseits verabscheute ich den Nationalsozialismus mit seiner Verlogenheit und Grausamkeit, andererseits bewunderte ich die grandiosen militärischen Leistungen des deutschen Heeres, für das ich ja seit dem Ersten Weltkrieg hohe soldatische Anerkennung im Herzen trug. Mit Stolz erfuhr ich, daß sich unsere österreichischen Soldaten in diesen Kämpfen überall hervorragend schlugen; das war nämlich der Beweis dafür, daß die von meinen Kameraden und mir in den 18 Jahren, die das Bundesheer bestanden hatte, trotz kargster finanzieller Mittel geleistete Ausbildungsarbeit richtig und gut gewesen war. - Umso enttäuschender waren die Italiener. Der Angriff Deutschlands gegen Frankreich ließ ihrer Eifersucht keine Ruhe. Sie griffen Frankreich in den Seealpen an und kamen keinen Schritt vorwärts. Ihre Expedition über Albanien gegen Griechenland endete ebenso mit einer Niederlage, wie ihr Vorgehen in Nordafrika gegen Ägypten. Auch Mussolini hatte aus den neuzeitlichen Italienern keine römischen Legionen machen können!
Im Herbst 1939 rückte Judith zum Arbeitsdienst in die Gegend von Wittenberg an der Elbe ein. Dort erlitt sie wenigstens keinen Schaden und bekannte sich tapfer zu ihrer katholischen Überzeugung. Das war vielleicht vom ganzen Nationalsozialismus die beste Institution.
Bei der Gestapo wurde Kommissar Fischotter abgezogen und durch eine unsympathische Persönlichkeit ersetzt. Gelegentlich meiner regelmäßigen Meldung von dem Torposten wurde ich wieder einmal zum Kommissar beordert. Nachdem ich das ominöse Gittertor durchschritten hatte und zum ersten Stock aufgestiegen war, erwartete mich vor der Tür zum Kommissar ein kleiner, unscheinbarer Mann, der sich als Polizeisergeant Pope vorstellte und mir die Mitteilung machte, daß Fischotter nicht mehr da sei und der neue Kommissar mich kennenzulernen wünsche. Von Pope begleitet, trat ich in das bekannte Zimmer ein, wo ein untersetzter, weißblonder Mann hinter dem Schreibtisch saß. Auf meine Vorstellung hin hob er leicht sein Gesäß vom Sessel und forderte mich auf, Platz zu nehmen.
Nach einigen Fragen, wie ich mich in Erfurt fühle und beschäftige, verlangte er mein Urteil über die Kriegslage. Damals war gerade der Krieg in Polen beendet und England und Frankreich hatten den Krieg erklärt. Die Frage zu beantworten war heikel. So beschränkte ich mich darauf, daß ich die Lage solange für erfolgmöglich ansähe, als Russland bei Deutschland stehe. „Sie glauben also, daß Deutschland ohne Russland den Krieg verlieren würde?” Ich vermied ein klares „ja” zu antworten, um mir nicht den Defaitisten-Strick um den Hals legen zu lassen. Ich zuckte die Achseln und sagte etwa, daß ich ja keine Ahnung hätte, welche neuen Waffen Deutschland bereit halte, um seine Feinde in kürzester Zeit niederzuzwingen. Darauf der Kommissar: „Neue Waffen werden sicher kommen, aber warum sollten wir nicht ohne Russland siegen können?” Jetzt ging es um meine militärische Reputation. Ich konnte doch diesem Idioten nicht darin zustimmen, daß Deutschland mit Italien an der Seite gegen England, das wieder die ganze Welt gegen Deutschland zusammenbringen würde, zu siegen vermöchte. So sagte ich ihm ungefähr, daß er doch an den Ersten Weltkrieg zurückdenken möge. Da hatte Deutschland das mächtige Österreich-Ungarn an seiner Seite und trotzdem ging der Krieg an der Absperrung durch die Seemächte infolge Hungers und Mangels an allem verloren. Darauf erwiderte dieser Kommissar leichthin: „Ja, der Krieg ging verloren, weil Österreich keine deutsche Politik gemacht und Deutschland im Stich gelassen hatte!”
Das war zuviel an Unverschämtheit einem österreichischen General gegenüber! Mich übermannte der Zorn, und ich fuhr ihn heftig an, daß das eine niederträchtige Geschichtsverfälschung sei. Österreich-Ungarn habe nach Königgrätz mit seinen 11 Millionen Deutschen gegen 42 Millionen Slawen und Magyaren keine deutsche Politik mehr machen können, habe aber gleichwohl bis zur Selbstauflösung zu Deutschland gestanden. Mir könne er das glauben: ich hätte von Gen.v.Below noch 1917, als die Verleihung an Ausländer schon verboten war, das Eiserne Kreuz 1.Klasse erhalten! Die österr.-ungarischen Divisionen hätten 1918 in Frankreich noch mit Auszeichnung gekämpft, als die deutschen Divisionen bereits zurückfluteten. Und da wolle er angesichts der 1,000.000 Kriegstoten Österreich-Ungarns sagen, daß die Monarchie Deutschland im Stich gelassen habe?
Da blieb dem Kommissar die Rede weg. Er stand auf. Auch ich erhob mich und verließ das Zimmer. Auf dem Gang meinte ich zu Herrn Pope: „Na, jetzt hat der Herr Kommissar einen Grund für meine Verbringung ins KZ Buchenwald”. „Oh nein”, antwortete dieser: „Sie haben nur gesagt, was ein österreichischer General sagen mußte!” Ich sah Herrn Pope groß an. Er merkte mein Erstaunen und fuhr fort, daß er ein Frontdiener aus dem Ersten Weltkriege sei und seine Einteilung zur Gestapo nur aus Existenzgründen hingenommen habe. Es sei sehr gut, wenn jemand einmal diesen jungen Herren sage, daß nicht alles richtig ist, was man ihnen jetzt anlerne. Ich sprach ihm meine Hochachtung und drückte ihm kräftig die Hand. Zum Abschied versicherte er mir, daß er immer zu Diensten stünde, wenn ich etwas benötigte, und zeigte mir die nahegelegene Tür seines Büros.
Nach jener heftigen Auseinandersetzung mit dem Kommissar passierte tatsächlich nichts. Er wurde übrigens bald wieder von Erfurt abgezogen, und seine Nachfolger zeigten wenig Interesse für mich.
Eines schönen Tages bekam ich eine Ansichtskarte mit der Mitteilung, daß meine Konfinierung in Erfurt bekannt sei und der Schreiber mit anderen gemeinsam mir in Hochachtung verbunden bleibe. Eine Unterschrift fehlte, der Poststempel trug die Umschrift Weimar. Ich zerbrach mir eine Weile den Kopf, wer der Schreiber sein könnte; dann kam mir die Erleuchtung, daß es die Handschrift von Mjr.Marincovich sein könnte. Er war im Ersten Weltkrieg Flieger gewesen und zu der Zeit, als ich in St.Pölten die 3.Brigade führte, Kommandant der Kraftfahrkompanie. Diese Karte mußte ich als einen Hilferuf deuten. Marinkovich war ein energischer Mann, der im KZ Buchenwald stecken mußte, denn sonst hätte er sich klarer ausgedrückt und die Karte unterschrieben. Ins Konzentrationslager schreiben durfte ich nicht; das hätte ihn kompromittiert. Nach langem Wägen und Überlegen begab ich mich schließlich zu Herrn Pope und fragte, ob er feststellen könne ob ein Major Marinkovich im Konzentrationslager wäre und mit welchen anderen österreichischen Offizieren, ob sie etwas brauchten, wobei ich helfen könnte. Ich erklärte ihm, daß ich wisse, etwas Ungebührliches zu erbitten; er möge jedoch würdigen, daß ich mich bemühen müsse, einem österreichischen Kameraden zu helfen. Herr Pope überlegte eine Weile und sagte schließlich zu.
Nach etwa 14 Tagen beschied mich der Torposten zu Herrn Pope. Dieser gab mir einen Hughes-Telegrammstreifen zu lesen, daß an österreichischen Offizieren nur mehr Mjr.Marinkovich und ein Hauptmann Gatnar aus Graz in Buchenwald säßen; der Gesundheitszustand der Herren sei gut. Tief gerührt dankte ich Herrn Pope. Anschließend fragte ich ihn, ob er mir einen Brief, den ich ihm offen bringen würde, mit ein paar Zigaretten an den Major besorgen könnte. Auch das sagte der Brave zu. Kurz darauf war Pope verschwunden. Ich machte mir die schwersten Vorwürfe, daß ich diesen hochachtbaren Mann durch meine Bitten kompromittiert hatte. Für mich erwartete ich ebenfalls irgendeine Maßregelung. Dem war aber gottlob nicht so; nach etwa einem halben Jahr war Pope wieder in seinem Amt, allerdings nur mit einem Bein. Er war ein starker Raucher gewesen und das Nikotin hatte ihm ein Bein so völlig gelähmt und zum Absterben gebracht, daß es amputiert werden mußte. Als ich Erfurt im Frühjahr 1946 endgültig verließ, war unsere Verabschiedung von herzlicher Kameradschaft und allen guten Wünschen getragen.
Weniger erfreulich war eine Verfügung eines der Kommissare - es dürfte Ende 1943 gewesen sein -, wonach ich meine Versicherungstätigkeit wegen eines „vom Führer” erlassenen Reiseverbotes für Vertreter einstellen sollte. Glücklicherweise hatte ich angesichts meines guten Einkommens aus der Versicherungstätigkeit so eine Möglichkeit immer ins Kalkul gezogen. Durch das Versicherungsgeschäft begünstigt, hatte ich eine Reihe großer Erfurter Firmen kennengelernt und mir diese in Hinblick auf eine eventuelle Betätigung besehen. So fragte ich nun beim großen Autoteile-Vertrieb Richard Klein an, die außer dem Erfurter Hauptgeschäft, je eine Filiale in Warschau und Wien unterhielt. Der Firmenchef, ein Herr Erhardt, hieß mich auf meine Anfrage sogleich willkommen, gab mir ein Fixum von 250 Mark und eine nach den einzelnen Artikeln schwankende Verkaufsprovision von zwei bis fünf Prozent, die nach kurzer Einarbeitungszeit monatlich auch rund 400 Mark betrug. Herr Öhlers, der Geschäftsführer des Gerling-Konzernes, dem ich vertraulich den Einspruch der Gestapo mitgeteilt hatte, bat mich, wenigstens im Stillen für seinen Konzern weiter zu arbeiten. Da beide Tätigkeiten geschäftlich nicht kollidierten und auch Herr Ehrhardt einverstanden war, so blieb ich stiller Mitarbeiter im Gerling-Konzern, was mir nicht mehr soviel wie früher einbrachte, aber mein Gesamteinkommen, über die gekürzte Pension hinaus, auf rund 1300 und mehr Mark im Monat wachsen ließ, was ich sehr gut brauchen konnte.
Das Studium der Töchter außerhalb des Vaterhauses kostete viel Geld. Wohl dankte ich Gott täglich, daß ich es erarbeiten konnte, leicht war der Anfang im Autoteile-Vertrieb jedoch nicht. Ich stand bereits im 58sten Lebensjahr und das Auf- und Abklettern auf den Leitern, um die unzähligen Teile in den hohen und tiefen Regalen kennen zu lernen, zu schlichten, zum Verkauf herauszuholen und neu eingetroffene Ware an den richtigen Orten zu deponieren, machte mich bis zum Abend immer totmüde. Dazu kam der innere Zwiespalt, den ich nach außen nie zeigen durfte, ja nicht einmal meinen Kindern zeigen wollte, um sie nicht zu belasten.
Seitdem Hitler im Sommer 1941 den Krieg mit Sowjetrussland begonnen hatte, war mir klar, daß der Krieg nicht zu gewinnen war. Meine Abneigung gegen Hitler und seinen Nationalsozialismus gewann wieder ihre ursprüngliche Kraft. Wie Recht ich gehabt hatte, dieses verderbliche System zu bekämpfen! Aber was war jetzt zu tun? Raunzen und Schimpfen half nichts, barg lediglich die Gefahr in sich, als Defaitist in ein Konzentrationslager verbracht zu werden. Verbindung zu irgendwelchen Widerstandskreisen zu bekommen, war in meiner Isolierung nicht möglich. Erfurt und ganz Thüringen waren eine nationalsozialistische Hochburg. In meiner aussichtslosen Lage erschien es mir richtig, die Zähne zusammenzubeißen und um meiner Kinder willen bis zum bitteren Ende durchzuhalten in der Hoffnung, daß Gott unser liebes kleines Österreich nicht verlassen werde. Wenn meine Kinder mich das eine oder andere Mal fragten, ob und wie lange Hitler und der Nationalsozialismus sich würden halten können, gab ich ihnen die Antwort, daß ich das nicht wisse; ich könne nur sagen, daß Gott noch niemals die Bäume in den Himmel wachsen gelassen habe.
Die Kriegsereignisse selbst konnte ich nur so wie jeder andere Bürger beurteilen. Weder erhielt ich besondere Informationen, noch strebte ich solche an. Ich hatte große Hochachtung vor der Führungskunst des deutschen Generalstabes und den Leistungen des deutschen Heeres, war mir aber im Klaren, daß diese bei der hoffnungslosen außenpolitischen Lage, die Hitler geschaffen hatte, nicht würden durchhalten können. Die immer intensiver werdenden feindlichen Fliegerangriffe bewiesen, daß Görings Großmäuligkeit von der Überlegenheit der deutschen Luftwaffe Unsinn war.
Von meinem in Berlin lebenden Freunde, k.u.k.Obst.Nießner, wurde mir der im Erfurter Kriegslazarett liegende deutsche Major Püschel zur Betreuung empfohlen. Dieser Panzeroffizier hatte in Russland ein Bein verloren. Er war ein begeisterter Soldat und erzählte mir, wie hart, tapfer und zäh sich die Russen schlügen, wie schwer die deutschen Verluste an Menschen und Material waren und wie die Ersätze nicht mehr ausreichten, die Ausfälle zu decken. Ich tat für den Armen, der infolge schlechter Amputation an großen Nervenschmerzen litt, und für dessen von Berlin herangeeilte Frau gern alles, was in meiner Möglichkeit lag. Seine Frau informierte mich mehr über die Stimmung in den Berliner Kreisen, als ihr so kriegsbegeisterter Mann wahrhaben wollte. Die ungünstige Berliner Beurteilung der Kriegslage stimmte mit meinen Eindrücken überein. Die seinerzeitige Begeisterung für den Nationalsozialismus war auch in Berlin verflogen.
Böser jedoch als diese Stimmungsberichte waren für mich die Mordgreuel, die ich durch Zufall über die bisherigen Gerüchte hinaus, bestätigt erhielt. Artritis und Ischias begannen, mich unter dem arbeitsreichen, bedrückenden Leben heftiger zu beschweren. Der junge Zivilarzt Dr.Gerhards verordnete mir Kurzwellentherapie, die ich im Katholischen Krankenhaus erhielt. In dem Saal für physikalische Behandlung waren die Liegestätten nur durch leichte Vorhänge voneinander getrennt, so daß jeder jedes gesprochene Wort hören konnte. Als ich in meinem Abteil zur Behandlung lag, hörte ich wie zwei oder drei Betten weiter ein Soldat der Ordensschwester seine Herzensnot erzählte. Er sei der schwarzen SS zugeteilt worden und müsse in Russisch-Polen unmenschliche Grausamkeiten mitansehen: gefangene russische Soldaten, die man „Kommissare” nannte, würden kurzerhand erschossen, deutsche und andere zur Arbeit verwendete Juden geschlagen, getreten und beim geringsten Widerstand erschossen. Niemand komme gegen die schwarze SS auf; Offiziere des Heeres, die versuchten einzuschreiten, wurden ebenso einfach erschossen. Als die Schwester meinte, er übertreibe wohl, solches Verhalten deutscher Männer sei doch undenkbar, stöhnte der Arme, er übertreibe nicht, im Gegenteil, es kämen noch viel ärgere Dinge vor. Kurz darauf verließ der Soldat den Behandlungssaal. Zu einem anderen Patienten hörte ich die Schwester noch sagen, daß die jungen Leute immer mit ihren Schauermärchen übertrieben.
Dann rasselte meine Behandlungsuhr und ich verließ das Krankenhaus. Mein Gewissen drückte mich schwer. Ich glaubte alles, was jener junge Mann erzählt hatte, konnte aber nicht helfen. Wie oft zieh ich mich der Feigheit, den jungen Soldaten nicht gestellt zu haben und ... Da war es wieder, dieses „und”! Was hätte ich tun können? Bei wem hätte ich die vom Soldaten geschilderten Zustände anzeigen sollen? Auch die Presse war ja geknebelt und durfte über Regierung und Nazismus nur Erbauliches schreiben. Ich besprach mich mit dem mutigen Landgerichtsrat Bauer. Aber auch er sah keine Möglichkeit zur Hilfe. Wir waren einfach alle aktiv oder passiv hilfslos in eine große Schuld verstrickt, der nicht zu entkommen war. Das Maximum des Möglichen bestand in der Ablehnung, selbst solche Untaten zu begehen und alle Folgen solcher Ablehnung im konkreten Falle auf sich zu nehmen. Gewiß waren die englischen und amerikanischen Bombenangriffe auf die Wohnvierteln der Städte, wo nur Frauen und Kinder grausamst getötet wurden, nicht geringer schuldhaft. Aber vermochte dies das eigene Gewissen zu entlasten?
Anderseits war ich der Meinung, daß gegenüber der Härte aller Feinde, die von einem Frieden ohne „bedingungsloser Kapitulation” Deutschlands und Italiens nichts mehr wissen wollten, niemand den schweren Kampf unserer Soldaten durch zaghafte Reden und Handlungen noch schwieriger machen sollte. Mein soldatisch-militärisches Fühlen stand mit meinem Verstand und meinem Herzen in dauerndem Konflikt. Unter solchen Umständen war ich froh, mit militärischen Dingen nichts zu tun zu haben. Ein einziges Mal wurde ich in Sömmerda vom Direktor der Rhein-Metall-Borsig-Fabrik gelegentlich einer Vorsprache in Versicherungssachen darauf angesprochen, ob ich nicht die Betreuung der vielen russischen und polnischen Kriegsgefangenen-Arbeiter der Fabrik übernehmen wollte; als österreichischer Offizier brächte ich diesen Leuten gewiß mehr Verständnis entgegen, als der jetzt der Fabrik zugewiesene preußische Oberst das vermochte. Darauf antwortete ich kühl, daß die Fabrik ein „geschützter Betrieb”, während ich ein schwarzes Schaf sei; er müsse sich an die Gestapo wenden. Der gute Direktor tat dies natürlich nicht. Wer wollte schon ohne Not mit der Gestapo in Verbindung kommen?
In der Familie überraschte mich im Spätherbst 1941 Judiths frohe Botschaft aus Leipzig, daß sie sich dort mit dem Sohn des Ehepaars Florer, Karl, einem Doktor der Philosophie, verlobt hatte. Er war zur Wehrmacht eingezogen und erhielt dort seine erste militärische Ausbildung. Karls Mutter suchte mich in Erfurt sofort auf und wir konnten bald einvernehmlich feststellen, daß alle Voraussetzungen für eine gute Ehe beiderseits gegeben waren. Karl plante, sich an der Prager deutschen Universität als Dozent für Geschichte zu habilitieren.
Im Februar 1942, an Judiths Geburtstag, erfolgte in Erfurt vormittags in der St.Martins-Kirche die Trauung. Nachmittags fuhr das junge Paar nach Wien, um sich bei meinem Bruder vorzustellen und dann in sein schönes Heim nach Prag. Da mir die Gestapo keine Reiseschwierigkeiten machte, konnte ich im Frühsommer 1942 Judith und Karl erstmals in Prag besuchen. Es war für mich eine große Freude, meine geliebte Tochter als glückliche Ehefrau in einer entzückend schönen und praktisch gegliederten Wohnung wiederzusehen. Auch die alte, wunderschöne Stadt Prag, in der man von Fliegerangriffen ganz verschont blieb, war ein angenehmer Aufenthalt, der manche Jugenderinnerungen wachrief. Hatte ich doch zwei Jahre meiner Bubenzeit hier erlebt und konnte nun die kindhaften Erinnerungen neu beleben. Ich nützte diesen Aufenthalt, um für die Firma Richard Klein, die mir den Aufenthalt in Böhmen nobel finanzierte, Eisenwaren zu beschaffen. Der Erfolg war nicht groß und ich gewann einen Einblick, wie sehr der Mangel an allem auch schon Böhmen erfaßt hatte.
Später besuchte ich auch meine zweite Tochter im reizvollen Tübingen und machte mit ihr eine anregende Urlaubsreise in das obere Main-Tal.
Bereits im Dezember 1942 wurde mein Schwiegersohn zu einer Feldformation eingezogen. Und am darauffolgenden 14.Februar erhielt meine Tochter die Meldung, er sei nach einem winterlichen Gefecht bei Darjewka, 30 km von Alekssewka, vermißt. Das war in der Zeit der von mir damals sofort als militärischem Wahnsinn erkannten Aufopferung der 6.Armee unter Gen.Paulus bei Stalingrad. Judith gebar am 17.Juni 1943 in Erfurt ihren Buben Christoph an der Privatklinik des befreundeten Prof.Zimmermann.
Durch eine eigenartige Fügung konnte mir der treue österreichische Artillerieoffizier Jaschke eine Abschrift des Gefechtsberichtes von Karls Kompanie beschaffen. Aus diesem ging hervor, daß Karl mit einem Zug Maschinengewehren bei der Nachhut eingeteilt war, die den Rückzug der Kompanie zu decken hatte. Diese ging vor einem sie umfassend bedrohenden russischen Panzerangriff zurück und verlor dabei die Fühlung mit ihrer Nachhut, die wahrscheinlich von den russischen Panzern einfach in den Schnee gewalzt worden und darin erfroren war.
Mein Gesundheitszustand war damals so elend, daß mir daran lag, beide Töchter bald zu eigenen Verdienstmöglichkeiten zu bringen. Die übergroße Nervenbelastung durch den Krieg, meine Abhängigkeit von der Gestapo im Verein mit der völlig unzureichend gewordenen Ernährung schwächten mein Herz und nahmen mir die Widerstandskraft gegen Infektionen. Ich erkrankte an einer bösartigen Furunkulose, die mich weiter schwächte. Wenn ich trotzdem halbwegs arbeitsfähig blieb, so danke ich das in erster Linie dem mich behandelnden Arzt Dr.Gerhards, der mir mit den damals so schwierig beschaffbaren Leber-Injektionen halbwegs auf die Beine half.
Nachdem Judith mit ihrem Sohn gemeinsam mit ihrer Schwägerin Trude vor den immer häufiger und schwerer gewordenen Bombardierungen Erfurts durch feindliche Flugzeuge nach Weipert im Erzgebirge ausgewichen war, bekam ich durch Flüchtlinge aus West- und Ostdeutschland eine Invasion in meine Wohnung, die mir auch noch den kargen Hausfrieden nahm.
Nach der gelungenen Landung der Engländer und Amerikaner in Frankreich und dem unaufhaltsamen Vordringen der Sowjetarmee war der Krieg im Spätsommer 1944 für Deutschland eindeutig verloren. Der Starrsinn Hitlers war mehr als Wahnsinn, er war das größte Verbrechen, das jemals am deutschen Volk begangen worden war.
Ich legte Wert darauf, daß meine zweite Tochter aus dem entlegenen Tübingen wieder in meine Nähe nach Jena studieren komme. Zu Ostern 1945 dann, als ich sie in Jena besuchte, erlebte ich dort mit ihr gemeinsam den völligen Zusammenbruch Deutschlands und den Einmarsch der Amerikaner.
Mit ihr nach Erfurt zurückgekehrt, wurde mir eine einzigartige Ehrung zuteil: unter Führung von Mjr.Marinkovich kamen alle dort inhaftiert gewesenen Österreicher aus dem nahen KZ Buchenwald in ihren Sträflingsanzügen mit einem Lastauto vor mein Wohnhaus gefahren und schleppten in meine Wohnung ungeahnte, seit Jahren nicht mehr gesehene Mengen an Konserven und Getränken, Brot und Zwieback, Kleider, Schuhe, Wäsche, Zucker, Kaffee und Rauchmittel heran, die sie den Vorratskammern der geflüchteten Lagerwache entnommen hatten. Sie baten lediglich darum, bei mir wieder einmal an einem gedeckten Tische essen zu dürfen. In den nächsten Tagen waren diese Leute öfter bei uns und es wurde unsere Heimkehr nach Österreich besprochen.
Erfurt war zunächst ebenfalls von den Amerikanern besetzt worden. Bald hieß es allerdings, daß sich die Amerikaner dem Abkommen von Jalta gemäß nach Westen zurückziehen würden und Erfurt den Sowjets zugesprochen sei. Diese Nachricht löste eine Panik aus. Alle Leute die Möglichkeiten hatten, d.h. eigene Last- und sonstige Autos besaßen, flohen in den Westen. Meinerseits sorgte ich nur dafür, daß meine Tochter mit dem Schmuck und ein paar sonstigen Wertsachen von den KZ-Österreichern mitgenommen und zu meinem Bruder nach Wien gelangen würde, um sie den Gefahren russischer Frauenschändungen zu entziehen. Selbst blieb ich in Erfurt, um unsere Wohnungseinrichtung nicht zu verlieren und um Judith abzuwarten, die ihr Kommen aus Weipert avisiert hatte. Ihr war es durch den Aufstand der Tschechen und deren Wüten gegen die deutsche Bevölkerung unmöglich, ihr Hab und Gut in ihrer Prager Wohnung zu sichern. Wie so viel tausend andere traf sie auf einem Fahrrad mit ihrem Kleinkind und ein paar Habseligkeiten eines Abends in Erfurt ein.
Die russische Verwaltung begann staunenswert ruhig. Ich wurde bei den vielen Hauskontrollen nicht belästigt, weil jedermann bezeugen konnte, daß ich kein Nazi war. Irgendeine Bestätigung über meinen Zwangsaufenthalt in Erfurt konnte ich allerdings nicht vorweisen, weil ja die Gestapo sich noch vor Kriegsende verflüchtigt hatte und auch vorher niemandem etwas Schriftliches in die Hand gab. Meine Zeugen aber waren Landgerichtsrat Bauer und aus der Firma Richard Klein der dort angestellte jüdische Kaufmann Stein, dem ich oft beigestanden war. Vor einer russischen Einquartierung bewahrte mich die polnisch-ruthenische Frau des bei mir nach Kriegsende eingezogenen deutschen Industriebeamten Dr.Stephan. Sie vermochte - sich und die Ruhe ihrer Kleinkinder vorschützend - den russischen Major beim Rayonskommando zu bewegen, meine Wohnung von jeder Einquartierung freizuhalten. Das rettete den Besitzstand der Möbel vor Beschlagnahme und Verschleppung, als später die Familie Stephan in eine eigene Wohnung verzog. An ihrer Stelle gewann ich als neuen Untermieter den sehr distinguierten Chemiedoktoringenieur Weigner. Dieser hatte wie alle Deutschen aus Prag flüchten müssen. Gemeinsam mit seinem Vater begann er sich durch eine Penicillin-Bakterienzüchtung eine neue Existenz aufzubauen. Da die Russen an diesem neuen Medikament sehr interessiert waren, genoß er bald deren Unterstützung.
Ursprünglich gedachte ich, solange in Erfurt zu bleiben, bis ein Abtransport der Möbel nach Wien möglich würde. Aber die Lebensbedingungen wurden immer schwieriger, da sich genügend Deutsche fanden, die in bedingungslosem Gehorsam gegenüber den Sowjets bereit waren, Deutschlands Osten ebenso kommunistisch einzurichten, wie sie es vorher im Gehorsam zu Hitler nationalsozialistisch gemacht hatten. Dementsprechend war auch in der Firma Klein die Arbeit immer schwieriger geworden.
Der Eigentümer, Herr Erhardt, war an Erschöpfung gestorben. Seine ältere Tochter versuchte die Firma durch die Wiener Filiale vor der Verstaatlichung zu retten. Sie fuhr deshalb mit mir nach Berlin zu der sogenannten neuen österreichischen Vertretung. Das waren aber im Spätherbst 1945 noch ohnmächtige Männer, über die man keinerlei Geschäfte abwickeln konnte. Wir wohnten in dem berühmten Hotel Adlon, von dem der palastartige Vordertrakt völlig ausgebrannt und nur ein Teil des Hoftraktes bewohnbar, sogar mit echt deutscher Präzision tadellos hergerichtet war. Zu Essen gab es freilich auch dort nur das kraftlose Zeug nach Karten. Wir waren mit dem Auto nach Berlin gefahren, so daß wir uns die Stadt kreuz und quer ansehen konnten. Der Eindruck war niederschmetternd: die Vernichtung durch Fliegerbomben und die letzten irrsinnigen Kämpfe war grauenhaft. Von dem im Zentrum Berlins gelegenen Tiergarten war nur eine öde Sandwüste geblieben. Der reiche Baumbestand wurde, soweit die Kriegshandlungen noch etwas übrig gelassen hatten, von den Anrainern verheizt. Beide Häuser, in denen ich während meiner Attachézeit gewohnt hatte, waren Trümmerhaufen - so wie übrigens auch unser Wohnhaus in Wien in der Liebiggasse. Die Berliner Frauen, die wir sprachen, waren durchwegs der Meinung, daß keine einzige der jüngeren Frauen von den russischen Schändungen verschont geblieben wäre. Berlin war das Sinnbild des namenlosen Unglückes, das der GröFaZ über das ihm freiwillig hörig gewordene Deutschland gebracht hatte. Erschüttert inmitten dieser entsetzlichen Vernichtung fand ich zum eindringlichsten Mal die volle Rechtfertigung meiner Bereitschaft, die Pest des Nationalsozialismus' in Österreich mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Nach Erfurt zurückgekehrt, mußte ich im geschäftlichen Leben immer deutlicher Neid und Mißgunst anhören: „Gehen Sie doch zurück nach Österreich, wo Sie hingehören!” Daß ich mein Hab und Gut nicht im Stich lassen wollte, blieb natürlich unverstanden.
Einer Dame muß ich hier in Dankbarkeit besonders gedenken: der verwitweten Frau Schulz. Sie war nur wenig jünger als ich. Ich hatte sie im Hause von Prof.Zimmermann kennengelernt. Frau Schulz hatte gleich zu Kriegsbeginn ihren einzigen Sohn verloren. Sie stand dem ganzen Hitlerismus ablehnend gegenüber und lebte, völlig alleinstehend, in wohlhabenden Verhältnissen. Sie bat mich, ihr bei der reichen Ernte in ihrem Obstgarten zu helfen und lud mich gelegentlich zum Essen. Als sich mein Gesundheitszustand einem Hungerödem zu nähern begann, lud sie mich mindestens dreimal in der Woche zum Abendessen ein. Ihren nahrhaften Gerichten verdanke ich nicht zum geringsten, daß ich, doch schon im 62.Lebensjahr stehend, das Kriegsende und die nachfolgenden Monate lebend überstanden habe. - Mein Bruder in Wien erlag zu dieser Zeit seinem Hunger.
So kam das Jahresende 1945 heran, ohne daß eine Aussicht bestand, unsere Möbel transportieren zu können. Meine Hoffnung richtete sich aufs Frühjahr. Am 25.Dezember starb mein Enkel Christoph an einer toxischen Diphterie im katholischen Krankenhaus. Seine Beisetzung auf dem schönen Erfurter Berg- und Waldfriedhof fand eine ansehnliche Trauergemeinde vereinigt. Alle unsere in Erfurt gewonnenen Freunde waren anwesend und tief ergriffen.
Das Frühjahr brachte keine Besserung der Transportlage. Im Gegenteil, die Sowjets bauten sogar bei allen zweigleisigen Strecken einen Schienenstrang ab und verschleppten das Material als Kriegsbeute nach Asien. Die Lebens- und Geldverhältnisse wurden immer schwieriger. Österreich hatte begonnen, sich als selbständiger Staat neu aufzubauen. Kurz, es zog mich heim.
Die Amerikaner hatten ihre Besatzungsgrenze in Deutschland völlig gesperrt. Daher war eine Ausreise nur über englisch besetztes Gebiet möglich. Die Engländer gewährten Reisebewilligungen nach Österreich jedoch lediglich in die von ihnen besetzte Zone, also nur nach Kärnten und Steiermark. Also wählte ich Graz als mein Reiseziel. Es dauerte bis Anfang April, bis ich alle nötigen Ausweise beisammen hatte.
Natürlich konnte ich nur das Notwendigste mitnehmen, schon weil mein damals so sehr geschwächter Gesundheitszustand das Tragen schwerer Lasten ausschloß. Einem Rat Herrn Ehrhardts folgend hatte ich alle Ersparnisse an die Zentralsparkasse nach Wien überwiesen. Das Giroheft dieser Sparkasse und einige wenige Dollar und deutsche Mark trug ich bei mir. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wie ich die Eisenbahnkosten bedeckt hatte, ob in Erfurt oder ob ich als Heimkehrer freie Fahrt hatte. Jedenfalls fuhr ein langer Heimkehrer- und Flüchtlingszug nachmittags von Erfurt nach Nordwesten bis Friedland an der Leine, dem Übertrittspunkt von der russischen Besatzungszone in die englische. Wir nächtigten noch auf russisch besetztem Gebiet in sehr sauberen Holzbaracken und bekamen ein warmes Nachtmahl.
Die Kontrollmaßnahmen für den Übertritt in die englische Zone währten den ganzen Vormittag. Mein Eindruck von den Engländern war nicht gut. Armselige Wellblech-Notunterkünfte, durch die man vier bis fünf verschiedene Kontroll- und Desinfektionsstellen passieren mußte, an deren Ende man eine Konservenration als Tagesverpflegung bekam. In Tübingen sah ich meine Tochter wieder. Überdies stieß ich auf den aus meiner 3.St.Pöltner Brigade stammenden Dr.Meschendörfer, der Oberst geworden und Stadtkommandant von Tübingen gewesen war. Er lebte dort mit seiner Frau und wartete die Klärung der Verhältnisse in Österreich ab. Ich machte meine Tochter mit Meschendörfers bekannt und bat das Ehepaar, ihr notfalls zu helfen. Tübingen gehörte zur französischen Besatzungszone. Nach Austausch aller Nachrichten während unserer Trennung lud ich meine Tochter ein, die Hochschulsommerferien bei mir in Graz zu verbringen, wo ich inzwischen für uns Quartier machen wollte. Die Terminisierung meines Grenzüberttrittes nach Österreich ließ mir nur wenig Zeit für Tübingen und ich reiste bald weiter nach Lindau.
Dort angekommen hatte ich nicht mehr genügend Geld, um in einem Hotel zu nächtigen. Eine Rotkreuz-Schwester wies mich an das Lehrlings- und Arbeiterheim, wo ich tatsächlich ganz gut schlafen konnte. Der folgende Tag, ein Samstag, verging mit langen Verhandlungen beim französischen Grenzoffizier, der mir nur gegen einen roten amerikanischen Stempel den Übertritt nach Österreich gestatten wollte; die englische Genehmigung erschien ihm nicht ausreichend. Nach langem Hin-und-Her fand ich schließlich auf irgendeinem Papier so einen roten Stempel aus der Zeit, da die Amerikaner Erfurt besetzt hatten, der zwar mit meiner Reise nichts zu tun hatte, jedoch das Gewissen des französichen Offiziers beruhigte. Am nächsten Morgen durfte ich nach Bregenz. Keine Bank oder Sparkasse hatte an diesem Sonntag geöffnet, so daß ich ohne einen Heller Bargeld blieb.
Eine österreichische Rotkreuz-Schwester riet mir, mich in den Gemeindearrest zu begeben, der auch als Transit-Unterkunft diene. Sie selbst versorgte mich mit Suppe und etwas Brot. Wie glücklich war ich, in Österreich zu sein! Ich deponierte mein Gepäck in dem netten, sauberen Gemeindearrest und begab mich in die nächste Kirche, um Gott für meine glückliche Heimkehr zu danken. Dann stieg ich bei strahlender Sonne auf den Pfänder hinauf. Lange liess ich die wunderbare Rundsicht auf mich wirken. Später erfuhr ich dort oben von einem Einheimischen, daß mir meine Sparbücher nichts nützen würden: Österreich habe alle Guthaben in Mark gesperrt, eine für mich äußerst unangenehme Überraschung. Nach einiger Überlegung stieg ich wieder nach Bregenz hinunter. Die hilfreiche Rotkreuz-Schwester am Bahnhof streckte mir das neue österreichsche Geld für ein Telegramm an Mjr.Marinkovich in Innsbruck vor. Die Kameradschaft der in Buchenwald Gewesenen war prachtvoll: schon am nächsten Morgen war eine telegraphische Geldanweisung für mich am Bahnhof mit der Nachricht, daß für mich in Innsbruck ein Hotelzimmer reserviert sein werde.
So konnte ich der guten Schwester meine Schuld begleichen und mit dem nächsten Zug nach Innsbruck fahren, wo ich schon eine staunenswerte Ordnung fand. Marinkovich ging mir bei der Beschaffung der nun in Österreich nötigen Ausweise, Reisebewilligungen usw. an die Hand. Er lud mich, seinen alten Kommandanten mit überströmender Herzlichkeit zu einem Essen in sein Haus, das eine ganz ungewohnt reiche Tafel aufwies, weil alle in Konzentrationslagern inhaftiert Gewesenen reiche Lebensmittelpakete aus amerikanischen Hilfsaktionen bekamen.
Hier erhielt ich auch die erste ausreichende Orientierung über die politischen, durch die vierteilige Besetzung des österreichischen Landes schwierig gewordenen Verhältnisse. Die neue Regierung des wieder erstandenen Österreich unter Ing.Figl als Bundeskanzler, der selbst fast durchwegs in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern eingesessen war, zeigte viel Hilfsbereitschaft für alle durch den Nazismus Geschädigten, die nunmehr, gut in ihren Heimatorten zusammengeschlossen, einen hilfsbereiten Machtfaktor bildeten. Marinkovich zum Beispiel versorgte mich in Innsbruck bis zur Regelung meiner Gebühren mit einem Darlehen aus den Mitteln des KZ-Verbandes.
Zu meinem weiteren Staunen vollzog sich meine Reise nach Graz glatt. In dieser schönen alten Stadt begab ich mich vom Bahnhof direkt ins Büro des steirischen KZ-Verbandes. Dessen Präsident, Gatnar, war auch in Buchenwald und bei mir in Erfurt gewesen; sofort sagte er mir jegliche Hilfe zu.
Zunächst wies er mich an einen neben ihm stehenden Herrn Ambros. Mit vertraulichem „Du” eröffnete mir dieser, daß ich bei ihm ein möbliertes Zimmer beziehen könne. Auf meine Frage, ob er ebenfalls Offizier gewesen wäre, sagte er schlicht: „Nein, ich bin nur ein Kommunist, aber ein anständiger Mensch.” Also fuhren wir in die Ruckerlberggasse 2, wo seine okkupierte, einem geflüchteten nationalsozialistischen Arzt gehörende Wohnung im 3.Stock lag. Frau Ambros, eine ehemalige Krankenschwester von einfacher Herkunft, nahm mich freundlich auf und wies mich in ein sauberes, neben dem Badezimmer gelegenes Kabinett, das Sonne und eine freundliche Aussicht auf den Ruckerlberg besaß. Die Bettwäsche hatte die Gattin von Obst.Oliva beigestellt, der vor Jahren bei mir in St.Pölten in der Generalstabsabteilung tätig gewesen war. Ambros hatte irgendeine Anstellung bei der Stadtverwaltung, während seine Frau anderenorts halbtägig tätig war. Fürs erste konnte ich mich in diesem Quartier sehr wohl fühlen.
Auch hier in Graz war ein Gelaufe nach Identitätsausweis, polizeilicher Anmeldung und Lebensmittelkarten nötig. Das ließ sich jedoch rasch erledigen, weil der KZ-Verband überall seine Vertrauensleute hatte, die mir nicht nur halfen, sondern mich auch mit Verpflegungszubußen und Karten für ausnahmsweisen Wäsche-, Kleider- und Schuhbezug ausstatteten.
Bald erhielt ich eine Tee-Einladung von Obst.Oliva und Frau, die mir eine Reihe wertvoller Ratschläge gaben, darunter für einen ausgezeichnet geführten Mittagstisch. Eine andere Einladung zu Gatnar, der mit einer Baronin Söll verheiratet war, machte mich mit Univ.Prof.Konschegg und der Familie Quiquerant bekannt. Quiquerant war penionierter Kunstreferent der steirischen Landesregierung, seine Gemahlin eine Gräfin Tacoli aus Birkfeld.
Meine Österreich als Chef des Generalstabes 1935 bis 1938 bewiesene Treue wurde mir überall durch größte Hochachtung und Hilfsbereitschaft vergolten. Das ging so weit, daß mir der Kreditdirektor der Grazer Sparkasse auf meine Charge als Feldmarschalleutnant hin ohne jede Sicherstellung einige tausend Schilling Darlehen gewährte. So konnte ich nicht nur meine Schuld an den KZ-Verband Innsbruck zurückzahlen, sondern auch neben den Kosten meiner Lebensführung in Graz, die so dringend nötige Reise nach Wien unternehmen, um dort das mir gebührendes Ruhegehalt zur Auszahlung bringen zu lassen.
In Wien führte mich mein erster Weg zu meiner Nichte Anni. Ihr Vater, mein guter Bruder Heinrich, war wie erwähnt im Oktober des Vorjahres an einem Hungerödem gestorben. Anni erzählte mir dazu Einzelheiten, die mir unbekannt gewesen waren, so besonders, daß mein Bruder zu seiner großen Befriedigung noch die Rehabilitierung des ihm von den Nazis angetanen Unrechtes durch die neue österreichische Regierung erlebt hatte. Da bei Heinrichs Tod die städtische Bestattung nicht funktionierte, habe der prächtige Militärpfarrer Tegel, den sie um Hilfe gebeten hatte, persönlich den Leichnam meines Bruders die vier Stockwerke hinunter getragen und in seinem Auto zur Grabstätte am Zentralfriedhof gebracht. Anni selbst war als Professorin für Naturwissenschaften an einer Schule in einem Wiener Außenbezirk tätig. Sie berichtete mir auch, daß Obst.Liebitzky schon wiederholt bei ihr angefragt habe, ob ich bereits aus Erfurt zurück sei. Er möchte auch meine Rehabilitierung von den mir angetanen Schädigungen durch die Nazis einleiten; er amtiere in der Singerstraße, ich möge ihn bald aufsuchen.
Gleich am nächsten Tag fand ich mich bei Obst.Liebitzky im heutigen Zentralbesoldungsamt ein. Unverändert verband uns trotz der neun Jahre währenden Trennung die alte Freundschaft. Er war von Bundeskanzler Figl beauftragt, die ersten Schritte für die Aufstellung eines neuen Bundesheeres zu machen; dies müsse allerdings äußerst geheim geschehen, weil die Sowjets jegliche militärische Betätigung verboten hätten und dauernd Verhaftungen vornähmen. Ich versicherte Liebitzky meiner Freude über seine wohlverdiente Berufung, die bei ihm in den besten Händen läge. Er wiederum sagte mir, daß Figl öfters nach mir gefragt hätte. Ich nahm das gern, aber ohne tieferes Interesse zur Kenntnis und teilte Liebitzky mit, daß ich in Graz zu bleiben gedächte. Angesichts meines elenden Schwächezustandes und Alters verspürte ich keinerlei militärischen Ambitionen; ihm stünde ich freilich immer mit Rat und Tat zur Verfügung.
Danach sprach ich bei der Filiale des Erfurter Autoteilevertriebs vor, die in Wien Siems & Klein hieß und in der Fichtegasse Nr.5 etabliert war. Ich hatte einige Geschäftspapiere aus Erfurt mitgebracht. Herr Klein erzählte mir, daß ihm als Reichsdeutschen von den Branchenkollegen viel Schwierigkeiten bereitet würden und fragte, ob ich nicht Lust hätte, in der Firma mitzuarbeiten; meine Person würde der Firma besonders viel helfen können. Gern sagte ich zu.
Wien selbst sah noch viel trostloser als nach dem Ersten Weltkrieg aus. Alles Schöne war zerstört: Theater, Parlament, Stephansdom, der ganze Franz Joseph-Kai, wozu noch die ungezählten Schäden an den Bahnhöfen, Fabriken und Wohnhäusern kamen.
Demgegenüber war Graz verhältnismäßig glimpflich davongekommen; dort waren eigentlich nur der Bahnhof und seine Umgebung der Zerstörung anheim gefallen. Die Stadt gefiel mir gut. Nicht umsonst war sie schon in kaiserlicher Zeit ein beliebter Pensionisten-Aufenthalt gewesen. Die herrliche Lage mit den vielen Wäldern ringsum, die guten Theater und die billigere Lebensführung ließen in mir den Gedanken immer fester werden, dauernd hier zu bleiben und deshalb für meine beiden Töchter und mich eine entsprechende Wohnung zu finden. Das gelang früher, als ich gehofft hatte. Baron Quiquerant strebte nach Wien, wo ihm im unteren Belvedere am Rennweg eine Wohnung zur Verfügung stand. Durch Gatnars Vermittlung boten mir Quiquerants ihre schöne Grazer Vierzimmerwohnung, die mit allem Komfort ausgestattet war, an. Diese lag nahe dem Gaidorfplatz in der Körblergasse 8. Das Haus gehörte dem adeligen Damenstift. Ein Besuch bei der Obfrau des Stiftes, einer alten Aristokratin, gewann mir deren Zustimmung. Das notwendige Einverständnis des städtischen Mietamtes besorgte mir der KZ-Verband, so daß ich die Wohnung schon im Spätsommer beziehen konnte. Möbel bekam ich aushilfsweise von der Witwe eines politischen Beamten, den die Nazis ermordet hatten. Wohlhabend, wie sie war, bedurfte sie in ihrer Fluchtwohnung nur einen Teil ihrer Einrichtung; durch mich ersparte sie sich deren kostspielige Einlagerung beim Spediteur.
Aus dem nahen Köflacher Kohlengebiet konnte ich den Heizbedarf für den Winter sicherstellen. Meine ausländischen Freunde, unter denen die amerikanische Botschafterin Mrs.Flack besonders freigebig war, versahen mich laufend mit Lebensmittelpaketen, so daß ich nicht nur gesundheitlich wieder aufzuleben begann, sondern auch Reserven für meine erwarteten Töchter zurückzulegen vermochte. Rührend fürsorglich erwies sich auch die verwitwete Gutsbesitzerin aus Wetzdorf, Frau Fichtel, geb. Baronin Neudeck. Nach Wetzdorf war ich allein und später auch mit meinen Töchtern wiederholt eingeladen. Dort liegt die Grabstätte des Feldmarschalls Grafen Radetzky, an der ich 1930 Deputationen meiner Brigade zusammengeführt hatte. Dieses Gedenken an den Retter Österreichs in den Jahren 1848/49, bei dem ich zu meinen Truppen gesprochen hatte, hatte in der patriotischen Dame eine Erinnerung hinterlassen, die ihre Zuneigung zu mir sich 16 Jahre später in großzügiger Hilfsbereitschaft äußern ließ.
Von Graz aus bereiste ich namens der Firma Siems & Klein die ganze Steiermark, Kärnten, Salzburg und Oberösterreich, um Waren zu beschaffen. Das ließ mich diese bisher nur vom militärischen Gesichtspunkt gekannten Länder, industriell und kommerziell kennenlernen. Ich brachte, besonders mit den von Porsche in Gmünd fabrizierten Mercedes-Brennern einen so guten Verkaufsartikel zustande, daß die Firma mir aus freien Stücken meinen neben den Reisespesen und Verkaufsprivisionen laufenden Fixgehalt erhöhte.
Seit dem Tod meiner Frau und meiner Pensionierung habe ich mein Leben ganz dem Wohlergehen meiner Kinder gewidmet. Wenngleich ungern, begann ich doch den Kindern zuliebe, die Heimkehr nach Wien zu erwägen. Dazu kam, daß die Chefs der Firma Siems & Klein mich bei jedem Besuch drängten, nach Wien zu kommen, wo mich die Firma viel nötiger bräuchte als in Graz. Mitbestimmend für meine schließliche Übersiedlung nach Wien Mitte Februar 1947 war allerdings auch meine von Bundeskanzler Figl in Aussicht genommene Berufung zum Minister für Landesverteidigung. Die nachfolgende Darstellung gründet auf den von mir damals gemachten Tagebuchaufzeichnungen.
Am 2.Januar 1947 kam Hptm.Metzner nach Graz und brachte eine Studie der Obersten Liebitzky und Neugebauer über die Aufstellung eines neuen österreichischen Heeres mit der Bitte um ihre Durchsicht. Daran knüpfte er die Mitteilung, daß ich von Bundeskanzler Figl für dessen Fachberatung in Heeressachen in Aussicht genommen sei. Am 10. riefen mich von Wien zuerst Hptm.Metzner und kurz danach der Sekretär des Kanzlers, Dr.Mais, mit der Mitteilung an, der Kanzler lasse mich bitten, ihn Anfang nächster Woche zu besuchen.
Der schlechten Verkehrslage wegen konnte ich erst am Dienstag mit einem Autobus nach Wien reisen. Am Semmering, an der steirisch-niederösterreichischen Grenze, kontrollierten die Engländer ganz flüchtig, die Sowjets jedoch übergenau alle Reisenden und nahmen jedesmal ohne warum einige fest. Das machte solche Reisen unangenehm. Obst.Liebitzky und Hptm.Metzner erwarteten mich beim Verkehrsbüro mit der Mitteilung, daß der Kanzler mich für den folgenden Tag um 16 Uhr zu sich auf den Ballhausplatz bitte. Für meine Nächtigung war wegen der Unauffälligkeit die geheizte Wohnung Metzners in Penzing gewählt worden. Lebensmittel hatte ich aus Graz mitgebracht.
Am Mittwoch, den 15. hatte ich vormittags in der Singerstraße eine Aussprache mit Liebitzky. Sein Entwurf war sehr gut, doch in seinen Forderungen viel zu bescheiden. Überdies fiel mir die panische Angst aller Unterorgane vor den Russen auf. Diese hatten alle militärische Betätigung streng verboten und den Generalstabsobersten Diakow, der einen Arbeitsdienst aufzuziehen versuchte, festgenommen und nach Rußland abgeschoben. Ich kannte die Russen von Erfurt und bemühte mich die Ängstlichen zu beruhigen: wenn man ehrlich und offen mit den Russen sprach, drohe wenig Gefahr.
Um 16 Uhr sodann, fast genau nach neun Jahren, betrat ich erstmals wieder das Bundeskanzleramt. Dessen zum Minoritenplatz reichender Trakt wies schwere Bombenschaden auf. Sofort wurde ich zu Bundeskanzler Ing.Figl vorgelassen, bei dem sich schon Außenminister Gruber und Staatssekretär im Innenministerium Graf, befanden. Die Herren begrüßten mich überaus zuvorkommend.
Der Bundeskanzler, eine schmächtige Erscheinung, meinte, er könne sich gut daran erinnern, wie ich, mit der goldenen Feldbinde geschmückt, mich bei Bundespräsident Miklas abgemeldet und ihn an die Kampfbereitschaft des Heeres erinnert hatte. Figl muß damals als Präsident des niederösterreichischen Bauernbundes zugegen gewesen sein. Er fuhr fort, daß, aus Anlaß des bevorstehenden Friedensvertrages, von allen Seiten, besonders aber den Sozialdemokraten, an einer Armeeorganisation gearbeitet werde. Er wolle alle diese Ambitionen durch zähe Facharbeit gegenstandslos machen. Er erblicke in mir die Persönlichkeit, die durch ihre Kapazität und Leistung als Chef des Generalstabes zu seinem Berater prädestiniert sei: ich wäre 1934 in Berlin gewesen, deshalb an der Niederwerfung des roten Aufstandes nicht beteiligt oder sonstwie kompromittiert gewesen; für den militärischen Widerstand und bereit gewesen, auf Hitlertruppen zu schießen; darum aus Österreich verbannt und konfiniert worden; arbeite zudem seit Jahren in der Wirtschaft; habe mich nie parteipolitisch betätigt und genösse bei den Offizieren ein so hohes Ansehen, daß meine Persönlichkeit alle Gleichrangigen und die Ambitionen Jüngerer glatt überdachen werde. (Daraus klang mir Liebitzkys Einschätzung meiner Person entgegen.) Also habe er in der Jahresversammlung der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) meinen Namen genannt. Nach mehreren Nachfragen, ob ich noch und wo ich lebe, habe die Partei der Wahl des Kanzlers zugestimmt, wobei es ihr eine angenehme Sache war zu wissen, daß bei mir zum Fachmann auch die Gesinnung für die Ideale und Ziele der ÖVP trete. Nach einigen Ausführungen über den damals rasch erhofften Staatsvertrag und seine zu dessen Finalisierung bevorstehende Reise nach London meinte der Kanzler, daß uns nach amerikanischer Einschätzung 66.000, nach englischer 55.000, nach französischer 33.000 Männer unter Waffen zugebilligt werden sollen. Wenn er von diesen 25.000 bis 30.000 für Gendarmerie und Polizei abrechne, so blieben für das Heer etwa 30.000 Mann.
Nun begann ich zu sprechen. Zunächst erklärte ich die Zahlen für ganz und gar unannehmbar! Unsere militärpolitische Lage sei durch die Einbeziehung Ungarns in den Sowjetbereich wesentlich ungünstiger als 1918. Wir sollten daher 100.000 Bewaffnete und die allgemeine Wehrpflicht verlangen, die ich ja schon vor zehn Jahren mühselig erkämpft hätte. Das neue Heer solle unpolitisch sein und neben sich keinerlei paramilitärische Formationen dulden; es müsse hohe Friedensstände haben, pro Kompanie etwa 175, pro Batterie etwa 70 Mann, und sehr stark an durchwegs motorisierter Artillerie sein - auf jede Infanteriekompagnie hätte eine Batterie zu entfallen. Dazu seien Pioniere und Flieger sowie Sonderformationen (z.B. Panzer) vonnöten. Als Heeresbudget müsse von Haus aus 1/5 aller Staatsausgaben gefordert werden, weil erfahrungsgemäß die österreichische Volksvertretung später nur sehr selten Budgeterhöhungen für militärische Zwecke genehmige. Bekleidung, Bewaffnung und Ausrüstung sollen von den Allierten, am besten von den Amerikanern, gefordert werden uzw. gleich für 8 Infanterie- und 2 schwere Divisionen.
Die drei Herren folgten meinen Ausführungen sehr aufmerksam und ich hörte von ihnen nur Zustimmung. Dann ergriff wiederum der Bundeskanzler das Wort und äußerte die Meinung, daß vor diesem großen Ziel, sozusagen als Wachablösung der Besatzungstruppen, Einheiten formiert werden müßten, die imstande wären nach außen jugoslawische Partisanen und nach innen kommunistische Terrortruppen abzuwehren.
Ich antwortete, daß dies innerhalb von drei Monaten möglich wäre, wenn wir
a) mit den geistigen Vorarbeiten sofort begönnen,
b) die Allierten uns erlaubten, dies später öffentlich zu tun und uns durch Materialabgaben unterstützten,
c) die im deutschen Heer gedienten, politisch unbelasteten Offiziere einschließlich der Majore heranziehen könnten und
d) die jüngsten zwei Assentjahrgänge einziehen dürften.
Nichts soll auf der Basis von „Freiwilligen” geschehen, weil sonst die Roten beider Parteien gleich mit ihren Sturmformationen auftreten würden.
Lediglich über mein Verlangen nach den im deutschen Heer gedienten Offizieren entstand eine Wechselrede, weil die Russen angeblich dagegen wären. Ich riet dem Kanzler, Obst.Liebitzky zu den Beratungen nach London mitzunehmen.
Nachdem unsere Unterhaltung geschlagene zwei Stunden gedauert hatte, wurde noch für den folgenden Vormittag eine Zusammenkunft bei Außenminister Dr.Gruber zur Festlegung von Einzelheiten vereinbart. Der Bundeskanzler machte auf mich einen sehr guten Eindruck: überlegt, zielklar, konnte gut und aufmerksam zuhören und war in seinen Repliken zurückhaltend. Gegen Ende wurde der Bundeskanzler wärmer und erwiderte meinen Rat mit der Hoffnung, ich würde die Uniform gern noch einmal anlegen.
Am folgenden Tag, dem 16. machte ich mit Liebitzky um halb 10 Uhr einen Besuch beim Generalsekretär der ÖVP, Burda. Wir waren alte Bekannte: Burda hatte mich 1938 namens der damaligen christlichsozialen Partei gebeten, in meiner Stellung als Chef des Generalstabes zu bleiben. Im Ersten Weltkrieg war er ein hervorragender Generalstabsoffizier gewesen. Burda begrüßte mich als den erwählten Führer des neuen Heeres. Als ich erwiderte, daß der Kanzler mich nur zu seiner Beratung berufen habe, sagte Burda, daß Figl seinem Wesen entsprechend vielleicht zurückhaltender gesprochen habe. In der anfangs Januar stattgefundenen Versammlung der ÖVP-Führer habe er mich als den von ihm „erwählten Organisator und Befehlshaber des neuen Heeres” beantragt, was die allgemeine Zustimmung der Parteiführer gefunden habe. Burda bat mich um volles Vertrauen zu ihm und versicherte mich seines Wirkens als Generalsekretär der Partei dahin, daß diese mich in allen Sachen unterstützen werde. Er machte mich weiter darauf aufmerksam, daß ich einen sozialistischen Staatssekretär beigeordrnet erhalten würde, weil ein Übereinkommen bestünde, wonach Minister und Staatssekretäre in jedem Ministerium, der Kontrolle wegen, verschiedenen Parteien angehören sollen. Mit meinen Forderungen nach einem unpolitischen Heer, auf Basis der allgemeinen Wehrpflicht, mit hohen Friedensständen usw. war Burda vollkommen einverstanden. Wir trennten uns mit der nochmaligen Versicherung gegenseitigen Vertrauens und Hilfeleistung in allen schwierigen Fragen. Hernach begaben Liebitzky und ich uns wieder auf den Ballhausplatz zum Außenminister, in dessen Amtsraum uns auch Generalsekretär Wildner und Legationsrat Schöner erwarteten.
Die Besprechung galt der Festlegung aller Einzelheiten, wie sie bei den bevorstehenden Verhandlungen in London zur Sprache kommen konnten, nach
Wehrsystem,
Gesamtzahl der Bewaffneten,
Offiziersergänzung,
aktiver Dienstzeit (normal 18 Monate mit folgenden Pflicht-Waffenübungen),
Bewaffnung,
Ausrüstung,
Bekleidung und
Befestigungen;
sodann über die erste Zwischenlösung, um sofort nach dem bald erwarteten Abzug der allierten Truppen österreichische militärische Verbände verfügbar zu haben.
Zwei Stunden Unterredung, über die Legationsrat Dr.Schöner das Protokoll führte, waren vergangen. Wir trennten uns mit dem guten Gefühl, einander verstanden zu haben. Dr.Gruber machte einen ausgewogenen Eindruck auf mich; er konnte ebenfalls gut und aufmerksam zuhören.
Den Nachmittag verbrachte ich in der Firma Siems & Klein, zu deren Chefs ich in einem ausgezeichneten Verhältnis stand. Herr Klein stammte aus Norddeutschland und war ein tüchtiger, hochkorrekter Kaufmann. Herr Siems war Wiener, ebenso korrekt wie Klein, aber er fühlte sich in der Bearbeitung kleinerer Dinge wohler als bei den großen Entscheidungen über den Einkauf. Beide Herren drängten mich, meinen Wohnsitz nach Wien zu verlegen. Unter dem Eindruck der Besprechungen mit dem Bundeskanzler zeigte ich mich diesem Gedanken zugänglicher und äußerte die Meinung, wenn mir die Firma in Wien eine Wohnmöglichkeit finden könnte, ich den Wunsch beider Herren ernstlich überlegen wollte.
Für den 18.Jänner, einen Samstag, war ich allein für 12 Uhr zum Bundeskanzler gebeten worden. Diesmal mußte ich eine halbe Stunde warten, ehe ich eintreten durfte. Der Kanzler begann das Gespräch mit der Mitteilung, daß er soeben die Einladung zur Konferenz in London erhalten habe, wohin er sich am 26. begeben wolle. Dann sagte er mir sichtlich guter Laune, daß Minister Gruber ihn über die Aussprache mit mir am Donnerstag sehr zufrieden berichtet habe; es freue ihn, daß Gruber sich mit mir gut gesprochen hätte.
Ich machte den Kanzler darauf aufmerksam, daß wir für die Aufstellung des Heeres ein Gesetz benötigen werden, bei dessen Beratung möglicherweise ein langwieriger Parteienkampf entstehen könnte. Der Kanzler war diesbezüglich optimistisch und der Meinung, sobald er den Friedensvertrag auch in Moskau bestätigt haben werde, er nach einer Festsitzung im Parlament einfach ein Ermächtigungsgesetz für die rasche Aufstellung „der Wachablöse” für die allierten Truppen einbringen und in einer Sitzung erledigt haben würde.
Dann sagte er, daß den Sowjets mein Name schon bekannt geworden sei und diese Erkundigungen über mich einzögen. Das lasse ihn aber ganz kalt, denn er müsse für die Verhandlungen über den Staats-(Friedens-)Vertrag Vorbereitungen treffen. Dazu brauche er auf dem militärischen Sektor einen Berater, der in meiner Person nach jeder Beziehung hieb- und stichfest sei. Er habe Landeshauptmann Gorbach in Graz die Weisung gegeben, mir in der Folge nach meinem Bedarf mit einem Auto auszuhelfen; Minister Gruber habe es übernommen, meine jeweiligen Reiseauslagen aus seiner geheimen Dotation zu bedecken, damit mein Name vorerst nicht durch Rechnungen geschleift werde. Darauf wurde das Gespräch herzlich und persönlich; der Kanzler erzählte, wie gern er Offizier geworden wäre, seine Leute ihm das aber ausgeredet hätten, weil er „nur ein einfacher Bauernbub” gewesen sei. 1923 hatte er wohl maturiert, aber da war es mit der k.u.k. Armee schon vorbei gewesen. Schließlich bat er mich noch zweimal um Entschuldigung, und zwar in nettester Weise, daß er durch die Berufung mein Leben gestört habe; aber er hoffe, daß ich in der Folge genau so gern wieder Staatsarbeit leisten würde, wie sie ihm Freude bereite. - Unsere Unterredung hatte eine Stunde gedauert.
Am 20.Jänner fuhr ich wieder nach Graz zurück, wo ich mich auch deswegen besonders wohl fühlte, weil ich noch im vergangenen Spätherbst den Anschluß an die katholischen Kreise der Universität gefunden hatte und gerne die philosophischen Vorlesungen des ausgezeichneten Professors Fischl hörte.
Unerwartet rasch traf bereits am 28. ein Telegramm von Siems & Klein mit der Nachricht ein, daß sie für mich in Hietzing ein schönes Zimmer gefunden hätten. Dem Telegramm folgte am 30. ein Brief, der mir eine komplette, möblierte Wohnung zusicherte, in der auch meine Töchter Platz finden könnten. Der Schlußsatz enthielt die Anfrage, ob die Miete für mich abgeschlossen werden könne. Obwohl ich gehofft hatte, in Graz noch das schöne Frühjahr abwarten zu können, mußte ich die prompte Bemühung der Firma annehmen. Ich sagte zu, regelte ein paar Angelegenheiten, darunter die Rückstellung der Wohnung an Quiquerants, und fuhr am 11.Februar wieder nach Wien, wo die Firma so nett war, das große Zimmer in der Wattmanngasse Nr.8 mit von ihr beigestelltem Brennmaterial vorzuwärmen.
Mittlerweile war auch Judith angekommen. Für sie bekam ich ein zweites Zimmer zur Verfügung gestellt. Beide Räume waren behaglich und gut eingerichtet, sogar ein Baderaum stand zur Verfügung. Wir konnten das Herankommen der Möbel aus Erfurt und das Finden einer definitiven Wohnung ruhig und umso leichter abwarten, als sich schräg gegenüber bei einer Frau v.Hartel auch für meine zweite Tochter ein eigenes möbliertes Zimmer fand.
Nachdem Judith in Wien eingerichtet war, fuhr ich mit ihr nach Graz, um ihr diese mir liebgewordene schöne Stadt zu zeigen, mich dort zu verabschieden und für die mir in den vergangenen Monaten allseits so reich gebotene Hilfeleistung zu bedanken.
Für den 21.Februar 1947 hatte mich Hofrat Burda zu sich gebeten, um mir die folgende Mitteilung zu machen. In der am 20.Februar stattgehabten Vorstandssitzung der ÖVP habe der von London zurückgekehrte Ing.Figl über die kommende österreichische Armee berichtet, daß
1) an ihre Spitze ich zu treten habe, was einstimmige Billigung mit Akklamation gefunden habe,
2) das Heer auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht aufgestellt werden solle (fand einheitliche Zustimmung),
3) das Heer weitestgehend unpolitisch organisiert und geleitet werden solle (Zustimmung) und
4) das Maximum an politischer Ingerenz, das die Partei zugestehen sollte, in Parlamentskommissaren bestehen dürfe, wobei
5) es noch zur Erwägung offenbliebe, ob ich die Leitung des Heeres als Minister oder, um von der Politik verschont zu bleiben, als Staatssekretär zu führen hätte.
Hofrat Burda beglückwünschte mich nochmals zu der einhelligen Zustimmung, welche die Nennung meines Namens gefunden habe.
Der chronologischen Erzählung vorgreifend möchte ich dieses Kapitel meiner Berufung zur Leitung des Heeres zum Abschluß bringen. In der Folge sprach ich alle Vorarbeiten mit Liebitzky durch und legte auch die Notwendigkeit eines besonderen Grenzschutzes mit Befestigungen fest. Nach diesen Richtlinien ist das neue Bundesheer schließlich nach Abschluß des Staatsvertrages im Jahre 1955 errichtet worden. Im selben Jahr erlebte ich als 71jähriger, also überaltert, die Genugtuung, daß der alte General Stiotta als Sprecher aller (auch der nationalsozialistisch eingestellt gewesenen) Offiziere in meiner Wohnung erschien und mich bat, an die Spitze des Heeres zu treten.
Es ist mir eine liebe Erinnerung, wie mein erster Kompaniekommandant im k.u.k. Infanterieregiment Nr.72 mir nach einem Jahr Dienstleistung unter ihm zwei Ereignisse meines Lebens erstmals und in der Folge immer wieder prophezeit hat: „Sie werden einmal meine Nichte heiraten und Sie werden einmal Kriegsminister werden.” Seine Nichte, die liebe und schöne Judith v.Reviczky habe ich geheiratet - Kriegsminister bin ich nicht geworden, dafür jedoch Chef des Generalstabes. Meine Berufung durch Bundeskanzler Figl und die einstimige Zustimmung der Partei sind natürlich nicht geheim geblieben, obwohl ich selbst bewußt geschwiegen habe.
Unsere sonnige Wohnung in der Uraniastraße wurde mir von Hofrat Bodenstein zur Verfügung gestellt. Mein treuer Freund Liebitzky hatte mir dazu die Wege geebnet. Seine Treue habe ich ihm dadurch vergolten, daß ich ihm unbeschadet meiner kommerziellen Tätigkeit stets mit Rat und Tat zur Verfügung gestanden bin. Endlich hat er, so wie ich es ihm von ganzem Herzen gewünscht habe, die militärische Aufstellung des Bundesheeres ab 1955 von der Planung in die Tat umsetzen können. Lange konnte er sich seines rastlosen Wirkens leider nicht erfreuen. Im April 1961 hat Gott ihn zu sich berufen. Mit ihm ist ein gutes Stück von mir hinübergegangen. Möge Gott der Allmächtige ihm sein mustergültiges Soldatenleben lohnen, denn er war getreu bis in den Tod!
In den ersten Märztagen 1947 erhielt ich nach einem Voraviso eine Tee-Einladung zu Staatsanwalt Dr.Meyer-Maly. Er fragte mich, ob ich in dem gegen den Außenminister im Kabinet Schuschnigg, Dr.Guido Schmidt, laufenden Hochverratsprozeß eine Aussage über den Stand der militärischen Verteidigungsfähigkeit Österreichs zu leisten in der Lage wäre. Ich orientierte ihn über meine gewesene Stellung im Bundesheer und in großen Zügen darüber, daß ich Vorbereitungen für einen militärischen Widerstand gegen Hitler getroffen hatte. Der Staatsanwalt stellte mir eine Ladung als Zeuge in Aussicht.
Daraufhin war ich bemüht, mein Gedächtnis über die doch schon zehn Jahre zurückliegende Materie durch Einsicht in die Akten des Bundesministeriums für Landesverteidigung aufzufrischen. Meine diesbezügliche Anfrage beim damaligen Leiter des Kriegsarchives, Hofrat Dr.Regele, beantwortete dieser dahin, daß sich die Akten des Landesverteidigungsministeriums nicht im Kriegsarchiv befänden. Deshalb nahm ich an, daß sie von der deutschen Wehrmacht entweder vernichtet oder nach Berlin ins Reichsarchiv verschleppt worden waren. Später, bei Aufzeichnung meiner Lebenserinnerungen und deren Dokumentation, konnte ich allerdings feststellen, daß mit Ausnahme des Mobilisierungsaktes doch alle gesuchten Unterlagen im Kriegsarchiv abgelegt waren.
So mußte ich mich bei der Vorbereitung meiner Zeugenaussage ganz auf mein Gedächtnis verlassen, das schließlich alles richtig rekonstruierte. Nur bei der Bereitstellungszeit des Heeres durch den Aufmarsch an der Traun glaubte ich ein rascheres Ergebnis erzielt zu haben, als es die Aktenlage ergab; da muß ich meinen Wunsch als Chef im Kopf behalten haben. Das führe ich hier zur Erklärung der Zeitdifferenzen zwischen meiner Aussage vor Gericht und der sechs Jahre nachher auf Grund teilweiser Akteneinsicht ausgearbeiteten Niederschrift des Kapitels X dieser Erinnerungen an, welche freilich für das schließliche Urteil (Freispruch des Angeklagten) belanglos blieb.
Bei dieser Zeugenaussage lag es mir völlig fern, den gewesenen Bundeskanzler Schuschnigg oder den gewesenen Außenminister Schmidt zu belasten. Mir war die Verpflichtung zur Zeugenaussage insofern eine Befriedigung, als dadurch der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden konnte, daß das Bundesheer und sein Generalstab das Menschenmögliche zum Schutz Österreichs vorbereitet hatten. Das Echo in der Presse war entsprechend günstig. Das Druckwerk über diesen Prozeß heißt übrigens «Der Hochverrats-Prozess gegen Dr.Guido Schmidt». Und einer der Journalisten, Herr Andics, hat sieben Jahre später, also 1954, in der Druckschrift »Bildtelegraph«, ohne von mir irgendeine Anregung oder gar Material erhalten zu haben, lediglich auf Grund meiner Zeugenaussage im Prozeß eine Artikelserie in Fortsetzungen gebracht.
In der nächsten Zeit galt meine Haupttätigkeit dem Autoteilevertrieb. Der lange und erbarmungslose Krieg hatte alle Vorräte erschöpft. Für den Neuaufbau der Wirtschaft war die Lösung der Transportfrage eine der wichtigsten Voraussetzungen, gleich ob es sich um Eisenbahn, Straßenbahnen oder Kraftfahrzeuge handelte. Solange die Fabriken nicht wiederaufgebaut waren, konnte nichts neues erzeugt werden. Die Reparatur vorhandener Vehikel war daher eine große Notwendigkeit, was für den Ersatzteilhandel die Konjunktur schlechthin bedeutete. Die schwierige Kunst lag darin, diese Ersatzteile zu beschaffen. Die vielen fremden Kraftfahrzeuge, die der Krieg nach Österreich gebracht hatte, verlangten ausländische Ersatzteile, für die von der Nationalbank nur äußerst beschränkte Devisen zur Verfügung gestellt werden konnten. Um deren Zuweisung entbrannte ein scharfer Konkurrenzkampf.
Da die Firma Siems & Klein tatsächlich eine reichsdeutsche Neugründung in Österreich war, strebte der Gremialvorstand mit allen Mitteln ihre Liquidierung an. Es war das Verhängnis der Reichsdeutschen, daß sie sich in Österreich in den sieben Jahren der staatlichen Vereinigung in hohem Maße unbeliebt gemacht hatten. Normalerweise hätte ich mich der herrschenden Tendenz, die deutschen Firmen zurück nach Deutschland zu verweisen, nicht entgegengestellt. Da mir aber die Firma in Erfurt meine Existenz erleichtert hatte, sah ich es - einmal abgesehen von dem für unsere Lebensführung notwendigen Verdienst - als meine Anstandspflicht an, jetzt in Wien der Firma zu helfen.
Als erstes galt es, Herrn Klein die österreichische Staatsbürgerschaft zu verschaffen. Sein diesbezügliches Ansuchen lag seit Monaten unerledigt beim Wiener Magistrat, weil ein Konkurrent es verstand, das Ansuchen zu hintertreiben. Die Lösung konnte nur eine Vorsprache beim Bürgermeister bringen. Zu diesem hatte die sozialistische Partei den General Theodor Körner erwählt. Herr Klein bat mich inständig, bei Körner in seiner Staatsbürgerschaftssache vorzusprechen. Das war mir sehr unangenehm, denn ich stand mit Körner schlecht, seitdem er Sozialist und Führer des Republikanischen Schutzbundes geworden war. Als er mich einmal in der Zeit, da ich Chef des Generalstabes gewesen war, auf meinem Weg ins Ministerium auf der Ringstraße angehalten hatte, um ein Gespräch zu beginnen, und mir seine Hand entgegenstreckte, hatte ich seine Hand übersehen, kurz salutiert und war einfach weitergegangen. Seine bekannt abfälligen Äußerungen über die unglückliche Dynastie und die bürgerlichen Parteien, die er als Arbeitermörder zu bezeichnen liebte, wollte ich nicht anhören. Und jetzt sollte ich, obwohl diese Brüskierung schwere Jahre zurücklag, bei dem gleichen Mann als Bittsteller vorsprechen! Natürlich war mir das äußerst peinlich. Da aber die Existenz der Familie Klein (die Frau war Wienerin) von der Gewährung der Staatsbürgerschaft abhing, meldete ich mich schließlich bei Körners Sekretär im Rathaus an, dem ich auch sagte, worum es sich handle. Der Sekretär beschied mich schon für einen der nächsten Tage zum Bürgermeister.
Als ich bei diesem eintrat, erhob sich Körner nicht von seinem Schreibtisch, sah mich frostig an und fragte: „Was wünschen Sie, Herr Feldmarschalleutnant?” Ebenso antwortete ich: „Ich komme zum Bürgermeister der Stadt Wien, Gerechtigkeit für einen ehrlichen, korrekten Kaufmann zu erbitten; eine schmutzige Konkurrenz hintertreibt seit Monaten eine Erledigung des Staatsbürgerschaftsansuchens, wie sie in vielen hundert anderen Fällen längst erfolgt ist.” - „Was geht Sie der Kaufmann Klein überhaupt an, Herr Feldmarschalleutnant?” - „Seine Firma in Erfurt hat mir, trotz meiner Konfinierung dort, durch Jahre eine Existenzmöglichkeit geboten. Es ist eine selbstverständliche Dankespflicht, daß ich mich für den Menschen, der jetzt meiner Hilfe bedarf, einsetze.” - „Wenn das so ist, dann will ich mir den Fall ansehen.” -„Danke Herr Bürgermeister.”
Darauf fragte Körner weiter: „Schön, na und was wollen Sie jetzt für sich?” Erstaunt erwiderte ich: „Für mich? Garnichts! Im Gegenteil, wenn der Magistrat für seine Autos Ersatzteile benötigt, kann ich vielleicht helfen.” Da brummte Körner: „Wenn Du für dich nichts willst, dann setz Dich nieder, dann können wir ja als alte Kameraden miteinander reden!” Und nun erkundigte er sich, wie es mir in der Nazizeit ergangen war und kam auch auf meine Zeugenaussage vor Gericht im Prozeß gegen Guido Schmidt zu sprechen. Ich stellte eine ähnliche Gegenfrage, empfahl mich jedoch bald. Meine Brüskierung Körners vor Jahren wurde nicht erwähnt und galt somit als überwunden. - Eine Woche später hatte Herr Klein seinen österreichischen Heimatschein in der Hand.
Acht Jahre, bis zu meinem 70.Lebensjahr, habe ich der Firma immer wieder gegen die anstürmende Konkurrenz helfen können, wobei ich tiefen Einblick in das wirtschaftliche Leben im Handel, im Gewerbe, in der Industrie und im Bankwesen gewinnen konnte. Ich habe viel einflußreiche Persönlichkeiten kennengelernt und bin in den österreichischen Normenausschuß berufen worden. Bei dieser Arbeit habe ich mich nie auf meine militärische Stellung berufen, vielmehr stets als Kaufmann mit meinen Partnern gesprochen und alles in allem genommen mehr Erfolge als Mißerfolge geerntet. Aber ich habe auch die Erkenntnis gewonnen, daß der korrekte Kaufmann, selbst bei großer Befähigung, wie Herr Klein sie besaß, wohl seinen bescheidenen Lebensunterhalt, nie aber Reichtümer erwerben kann. Das so oft wahrnehmbare schnelle Reichwerden ist mit ganz seltenen Ausnahmen immer durch irgendwelche Unkorrektheiten bedingt. Als junger Mensch habe ich am Frühschoppentisch meines Vaters von irgendwem einmal die Äußerung gehört, daß jeder Millionär mindestens einmal mit dem Ärmel das Zuchthaus gestreift habe. Als alter Mann vermag ich auf Grund meiner fünfzehnjährigen Betätigung im geschäftlichen Leben die Richtigkeit dieser Äußerung im Wesentlichen zu bestätigen.
Als ich nach Vollendung meines 70.Lebenjahres aus der Firma ausschied, verabschiedeten mich die beiden Chefs mit Bedauern bei einem Heurigen-Ausflug nach Gumpoldskirchen. Der Bestand der Firma erschien damals bereits gesichert. Meine physischen Kräfte hingegen waren den Anstrengungen eines täglichen 8-10stündigen Außen- und Reisedienstes nicht mehr gewachsen.
Zwei Jahre vorher war ich mit einem sich von selbst öffnenden Zwölffingerdarm-Geschwür zum erstenmal in meinem Leben gezwungen gewesen, mich in Spitalsbehandlung zu begeben. Ich lag bei den Barmherzigen Brüdern in der Taborstraße, wo mich Primar Dr.Scharf nach vierzehn Tagen geheilt entlassen konnte. An diesen hervorragenden Internisten hatte mich der Chef der Bundeskrankenkasse, Dr.Maller, gewiesen, den ich noch als Knaben gekannt hatte und mit dessen Eltern mein Vater und Bruder befreundet gewesen waren.
Die langen Entbehrungen der Zeit des Zweiten Weltkrieges hatten in mir das Bedürfnis nach besserer Verpflegung geweckt, das viele Alleinsein jenes nach abendlichen Ausgängen mit Bekannten. Bis etwa 1952 beschäftigten wir eine Köchin, die aber wegen Altersbeschwerden nach vier Dienstjahren ausschied. Ein Ersatz war nicht zu bekommen, so daß wir nur mehr Bedienerinnen zur Pflege der Wohnung anstellten. Den Mittagstisch nahm ich seit dieser Zeit gut und günstig im benachbarten Regierungsgebäude. Kaffeehaus- und Kinobesuchen sagten mir wenig zu, dafür hatte ich je zwei Abonnements für Oper, Burgtheater und Musikverein genommen, die meiner Tochter und mir eine stete Freude bereiteten.
Wegen der beruflichen Beanspruchung meiner beiden Töchter war ich in diesen Jahren oft allein. In diesen Zeiten habe ich mich um die Erweiterung meines Wissens bemüht und viele ausgezeichnete Vorträge an der Universität, der technischen Hochschule (besonders im Verein für Vermessungswesen) und an der hervorragend geleiteten katholische Akademie bei den Schotten gehört. Ich gewann Interesse an der vom Freiherrn Schneider von Arno unvollendet gelassenen «Geschichte des k.u.k Generalstabes» und habe in dreijähriger Archivarbeit das Werk durch die Abschnitte „Der Generalstab in den acht letzten Friedensjahren unter Conrad” und „Der Generalstab im ersten Weltkriege” vollendet.
Die Lektüre von Professor Hantschs «Geschichte Österreichs» hat mich mit diesem bedeutenden Gelehrten zusammengeführt, auf dessen Aufforderung hin ich dann in der Historischen Arbeitsgemeinschaft der Wiener Katholischen Akademie zwei Vorträge über „Die Einheit der Handlung in der Politik” gehalten habe. Sie sind in den Mitteilungen der Katholischen Akademie (Religion, Wissenschaft, Kultur) im Januar-Februar-März-Heft 1956 erschienen.
Schon früher hatte ich die Erinnerungen über meine Tätigkeit von 1935-38 als „Chef des Generalstabes für die Bewaffnete Macht” niederzuschreiben begonnen. In der Katholischen Akademie lernte ich Dr.Jedlicka als einen sympathischen, sehr gut vortragenden Historiker kennen, der mich dringend bat, ihm diese für seine Habilitationsschrift zum Dozenten an der Wiener Universität zur Verfügung zu stellen. Ich habe es gern getan, und bin von ihm durch sein Buch: «Ein Heer im Schatten der Parteien» recht geehrt worden. Das Buch hat viel Widerhall und durchwegs gute Rezensionen erfahren. Ich habe die Freude, im Dozenten Dr.Jedlicka, der sich zu einem immer bedeutenderen Historiker formt, einen treuen, dankbaren Freund gewonnen zu haben, der auch anläßlich meines 75.Geburtstages eine biographische Skizze verfaßt hat, die in der Zeitschrift »Religion, Wissenschaft, Kultur« 10.Jahrgang 1959, Folge III, in der Festschrift für Professor Kisser gedruckt wurde.
So habe ich in meinen alten Tagen nicht nur in militärischen Kreisen eine meiner ehemaligen Stellung entsprechende Geltung, sondern ich gewann auch Freunde im akademischen Kreis der Professoren, unter denen ich aus der Katholischen Akademie Walter, Nowak, Schöndorfer und Krones besonders nennen darf, aus dem Vermessungswesen Neumaier, Lego, Ackerl und Barvir.
Eine besondere Ehrung ist mir im Dezember 1960 durch meine Berufung durch den Kardinal zum Konsultor der Wiener Katholischen Akademie zuteil geworden. In einer harmonischen Parallelität hierzu überreichte mir kurz vor seinem Tode Gen.d.Art.Liebitzky im März 1961 eine Ehrennadel als Zeichen meiner Erhebung zum Ehrenmitglied der Österreichischen Offiziersgesellschaft.
Nach dem Tod dieses lieben Freundes trat im Oktober 1961 das Bundesheer durch Gen.Rüling an mich heran, ich möge die Führung der Offiziersgesellschaft übernehmen. Mein geschwächter Gesundheitszustand zwang mich, dieser auszeichnenden Berufung zu entsagen. Dafür kam ich mit meinen sechs Kriegsschulkameraden Brantner, Schubert, Schöner, Pager, Hirsch und Bálványi jeden Monat im Kaffee Imperial zusammen, sowie viermal im Jahr mit allen anderen Generalstabskameraden.
Durchs Familien-Zusammenleben mit meinen beiden Töchtern und seit 1958 einem Enkel wurde mir noch eine mein Leben bis zum letzten Tag erfüllende Aufgabe geschenkt. Dies empfinde ich tief und dankbar als eine große Gnade.
Ich schreibe keinen Epilog zu diesen Lebenserinnerungen. Ich bin der Meinung, daß ich Gott und den Menschen denen ich begegnet bin, immer nur zu danken habe, was wohl durch alle von meiner Hand geschriebenen zweitausend Seiten zu fühlen ist. Möge der Allmächtige mir auch Seine Gnade nicht entziehen, wenn er mich in Seinen Frieden nehmen wird!
27./II.62
Ja [e.h.]
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG