FML JANSA
«Aus meinem Leben»
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NACHWORT
Die vorstehenden Erinnerungen gelten vornehmlich dem Bundesheer und seinem Generalstab. Darum steht es mir ganz fern ein Werturteil über die Politik von Bundeskanzler Dr.Kurt Schuschnigg abzugeben. Wenn da und dort in der Darstellung mein Mißmut über dies oder jenes Ausdruck findet, so kann das nicht als Werturteil über die persona des Kanzlers genommen werden, vielmehr sollten Eindrücke und Stimmungen, die mich damals bewegten, verbildlicht sein. Nach sechzehn und mehr Jahren der Ruhe und Abklärung durfte ich diese Niederschrift wagen, weil der Gedanke, ob durch einen Einsatz des Bundesheeres der grausige Ablauf der Ereignisse nicht eine andere Wendung hätte nehmen können, mir zu einer großen Gewissensnot geworden ist, die mich nie losläßt. Ich habe das Geschehen immer wieder durchdacht und darum entscheidende Wendungen und Gespräche unauslöschlich in Erinnerung behalten.
Stand Österreich damals, wie Stefan Zweig es nennen würde, in einer Sternstunde der Menschheit? Ich weiß es nicht. Jedenfalls steht das Bild des leidgeprüften Kanzlers persönlich, durch sein reines Wollen, seinen tiefen Glauben und seine Liebe zu Österreich untadelig vor meinen Augen. Ich wage es nicht zu sagen, er hätte so und so handeln sollen; denn die große Verantwortung für den Entschluß hatte er nach der Verfassung ganz allein zu tragen. Ich hätte nur raten, mitreißen können; aber die Verantwortung lag letzten Endes bei ihm. Überhaupt bin ich der Meinung, daß niemand gerecht zu urteilen vermag, der nicht die zerreibende Abnützung durch sechs Minister- und Kanzlerjahre im ununterbrochenem Ringen gegen drei Fronten: der inneren, der außenpolitischen und der wirtschaftlichen Not unter dem vereinsamenden Druck der Verantwortung selbst erlebt hat. Daher werde ich abschließend auch keine Wenn-und-Aber erörtern; es wäre auch sinnlos. Meine Aufgabe war nicht die Führung der Politik, sondern das Heer als Werkzeug für die Politik so zu schärfen, daß es - falls sie sich seiner bedienen wollte - entsprach.
In das Heer sind im Lauf der Jahre immerhin Millionen investiert worden, die aus schwer erarbeiteten Steuergeldern kamen. Das Volk hat ein Anrecht zu wissen, ob diese Investitionen richtig oder falsch waren. Ich hoffe, daß die Darstellung der Tätigkeit des Chefs des Generalstabes für die bewaffnete Macht den Nachweis bringt, daß der Generalstab in Treue, mit heißem Herzen und starkem Wollen präzise und saubere Generalstabsarbeit geleistet hat, die das organisatorisch richtig gebaute, ganz hervorragend durchgebildete Bundesheer und die Frontmiliz zu klaglosem Einsatz und vernünftig zweckbedingter Kampfführung gebracht hätte, wenn die Politk ihrer nur bedurft hätte.
Über die Chancen des Einsatzes sollen die nachstehenden Tatsachen sprechen, die 1938 natürlich nicht alle bekannt waren, sondern zum Teil erfühlt werden mußten (worin ja die eigentliche Kunst der politischen und militärischen Führung liegt), und dem Leser die Möglichkeit schaffen, sich selbst ein Bild zu machen:
1. Nach Clausewitz ist der Krieg eine Fortsetzung des politischen Verkehres, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln.
2. Gab es einen erkennbaren Zeitpunkt, an dem die Politik die Mitteln wechseln sollte? Ja! Bundespräsident Miklas hatte den Moment erfaßt, als er dem Bundeskanzler den Rat gab, die Welt über das Mikrophon von der Berchtesgadener Erpressung in Kenntnis zu setzen.
3. Wie standen die Erfolgsaussichten - war das österreichische Volk zum Widerstand mit der Waffe in der Hand bereit? Jawohl; in diesem Punkt stimmen im Hochverratsprozeß gegen Dr.Guido Schmidt (Wien, Staatsdruckerei) alle Zeugenaussagen überein: Richard Schmitz Seite 193, Leopold Figl Seite 85/86, Karl Seitz Seite 231, Josef Kimmel Seite 234, und die Denkschrift des Gewerkschaftsbundes vom April 1937 nach Aussage Hillegeist Seite 268.
4. War genügend Zeit und Kraft für die Bereitstellung vorhanden? Der Grenzschutz benötigte 6 Stunden, das Bundesheer zum kompletten Aufmarsch mit seinem Alarmstand 4 Tage, die Ersätze auf vollen Kriegsstand weitere 6 Tage.
a) Laut SCHUSCHNIGG: «Ein Requiem in Rot-Weiß-Rot» (Seite 48) sagt Hitler zuerst zu Schuschnigg: „... Wir sind zu keinem Ergebnis gekommen; ich werde dann im Laufe der Nacht meine Entschlüsse zu fassen haben.” Nach Rücksprache mit seinen Generälen (Seite 49) aber: „Ich habe mich entschlossen - zum erstenmal in meinem Leben - von einem gefaßten Entschluß noch einmal abzugehen. Also! Ich wiederhole Ihnen: es ist der allerletzte Versuch. Innerhalb von drei Tagen erwarte ich die Durchführung!” Was bedeutet dieses „erstmalige Abgehen” von einem schon gefaßten Entschluß? Offenbar, daß die Generäle einen sofortigen Einmarsch in Österreich für undurchführbar erklärten. Österreich hätte also bei sofortigem Entschluß des Kanzlers nach seiner Rückkehr aus Berchtesgaden für seine militärische Bereitstellung Zeit gehabt. (Siehe auch BURKHART-MUELLER-HILLEBRAND: «Das Heer 1933-1945», Bd.I: Das Heer zu Kriegsbeginn; E.S.Mittler&Sohn, Darmstadt 1954, S.62 ff.)*
b) Wie war das Kräfteverhältnis? Laut Dokumentation über den Hochverratsprozeß gegen Dr. Schmidt (Seite 576/577) und Görlitz: «Deutscher Generalstab» (Seite 265) waren für die Operation „Otto” das 8.AOK, 2 Armeekorps mit zusammen 4 Divisionen, 1 Panzerdivision, 1 Landwehrdivision und 40000 Mann Polizei bestimmt, dazu starke Luftstreitkräfte.
Österreich hätte in Tirol bereitgestellt: 1 Division, dazu Grenzschutz und Miliz sowie 50 Geschütze; zwischen Inn-Salzach und Traun: rund 5000 Mann Grenzschutz gestützt auf Befestigungen, Hindernisse und Sperrungen mit über 100 Geschützen und Minenwerfern, dann 6 Infanteriedivisionen, 1 schnelle Division, 1 Gebirgsbrigade, 1 mittleres Artillerieregiment mit zusammern 284 leichten, 24 mittleren Geschützen, 300 Panzerabwehr- und 40 Fliegerabwehr-Kanonen; von Italien: 5 schnelle Divisionen.
Der deutschen Polizei entsprachen die Verbände der Frontmiliz, der Gendarmerie und Teile des sozialdemokratischen Schutzbundes.
An Luftstreitkräften hätte trotz unserer 72 einsatzfähigen Jagdflieger und italienischer Hilfe eine starke Unterlegenheit bestanden, aber: Polen kämpfte nach Zertrümmerung seiner Luftwaffe 18 Tage, Deutschland selbst nach der eingetretenen grauenvollen Inferiorität seiner Luftwaffe noch 2½ Jahre.
Die österreichische Munitionslage war unbefriedigend; immerhin reichte sie für zwei Großkampftage, gerechnet bei gleichzeitigem und gleichmäßigem Einsatz aller Kräfte; bei der angestrebten hinhaltenden Kampfführung hätte die Munition wesentlich länger gereicht. Genaue Detailzahlen stehen mir heute leider nicht zur Verfügung.
c) Wie stand es mit der Qualität der Truppen? Nach den Erfahrungen aus dem II.Weltkrieg waren die österreichischen Truppen denen aus dem Reich mindestens ebenbürtig.
5. Wie beurteilte Hitler persönlich die militärische Lage im März 1938, nachdem die deutsche Wehrmacht seit Berchtesgaden einen Monat Zeit für die Bereitstellung gehabt hatte? Im Telephongespräch, das Hitler am 11.3.1938 um 22h25 mit seinem Bevollmächtigten in Rom, dem Prinzen Philipp von Hessen, führte (Schuschnigg, op.cit.; Seite 103) sagte Hitler nach wiederholten Danksagungen an Mussolini, aus denen man den auf Hitler gelegenen Angstdruck deutlich entnehmen kann: „Passen Sie auf, ich mache jetzt jedes Abkommen. Ich fühle mich jetzt nicht mehr in der furchtbaren Lage, die wir eben noch militärisch gehabt hätten im Fall, daß ich in den Konflikt gekommen wäre. Sie können ihm (Mussolini) das nur mal sagen: ich lasse ihm wirklich herzlich danken. Ich werde ihm das nie vergessen! Ich werde ihm das nie vergessen!”
6. In Deutschland gab es Männer (Geschichte und Vorgeschichte des 20.Juli 1944), die nur auf eine Gelegenheit warteten, um Hitler zu fassen. Nur daraus sind die erbitterten Fragen einzelner deutscher Generäle und Offiziere beim Einmarsch in Österreich zu verstehen: „Warum habt Ihr denn nicht geschossen?!”
Das Bundesheer als solches ist im II.Weltkrieg nicht in Erscheinung getreten.
Bis Österreich befähigt sein wird, ein neues Heer aufzustellen, dürfte der Tod die meisten Überlebenden des alten Bundesheeres hinweggerafft haben. Die kommenden österreichischen Soldaten sollen sich, wenn sie in der Geschichte nachblättern, ihrer Vorgänger nicht zu schämen brauchen:
Im Februar 1938 waren Bundesheer und sein Generalstab voll bereit zum schwersten Kampf anzutreten.
Ehre ihrem Andenken!
Wien, am 1.November 1954
Jansa FML [e.h.]
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*) Am 26.1.1955 habe ich von Dr.Ludwig Jedlicka folgendes erhalten:
betrifft deutsche Bereitstellung für den Fall „Otto”
BURKHART-MUELLER-HILLEBRAND, op.cit.; S.62 ff.: Für das Oberkommando des Heeres wurde im März 1938 völlig überraschend die Auslösung der Mobilmachung der beiden bayrischen Wehrkreise VII und XIII und weiterer Truppen aus anderen Wehrkreisen gegen Österreich angeordnet. Große Reibungen traten sofort dadurch ein, daß es sich hierbei um eine Mobilmachung nur von Teilen des Heeres handelte; bis dahin war aber nur eine allgemeine und keine teilweise Mobilmachung vorbereitet. Ihre nachträgliche Erweiterung auf das Gesamtheer hätte zu einer heillosen Verwirrung geführt. Die hierauf aufmerksam gemachte politische Führung nahm jedoch das hierin liegende Risiko in Kauf. Ferner zeigte sich, daß zwar die aktive Truppe des Friedensheeres mobil gemacht werden konnte, daß aber die Mobilmachung von den neu aufzustellenden Kräften innerhalb der geforderten Fristen meist gar nicht durchführbar und daß sie für manche Teile überhaupt noch nicht ausreichend vorbereitet war. Die Verwirrung wurde noch dadurch gesteigert, daß auf eine Unterrichtung der zivilen Dienststellen über die Mobilmachung verzichtet wurde.
HOSSBACH, FRIEDRICH: «Zwischen Wehrmacht und Hitler»; S.147: Die Eintragung im Tagebuch des GO.Jodl vom 31.1.38 lautet: „Führer will die Scheinwerfer von der Wehrmacht ablenken, Europa in Atem halten und durch Neubesetzung verschiedener Stellen nicht den Eindruck eines Schwächemomentes, sondern einer Kraftzentralisation erwecken. Schuschnigg soll nicht Mut fassen, sondern zittern.” Weiter: Wir waren uns völlig klar darüber, daß der Überfall auf Österreich von Hitler als Ablenkungsmanöver in Szene gesetzt war, um die Erschütterungen im Gefüge des Offizierskorps, die die Fritsch-Krise hervorgerufen hatte, durch einen außenpolitischen Erfolg zu überdecken. Die militärischen Aktionen bei der Einverleibung Österreichs im März 1838 zeigten die Unvollkommenheit des deutschen Machtinstrumentes in bedenklicher Weise. An dem Entschluß zum Einmarsch in Österreich war der Generalstab des Heeres nicht beteiligt gewesen. Ich entsinne mich noch deutlich des Augenblickes, als der General Wilhelm Keitel den endgültigen Befehl Hitlers für das Unternehmen gegen Österreich dem General Beck am 10.3.1938 überbrachte und mit eisiger Kälte empfangen wurde. Dieser Tag erhöhte die seit Wochen anhaltende Spannung und Arbeit außerordentlich.
GÖRLITZ: «Der Deutsche Generalstab», Verlag der Frankfurter, Hefte 2.Aufl. (gekürzt); S.265: Am 10.3.1938, 18h30 erging überraschend für das Armee Ob Kdo 8, Gl.v.Bock, der Mob.Befehl. An der österr.Grenze in Bayern wurden Täuschungsmaßnahmen befohlen, um die österr. Staatsführung einzuschüchtern. Keitel begab sich zu Beck und erkundigte sich, welche Maßnahmen für den Fall eines Einmarsches in Österreich, den Fall „Otto” vorbereitet seien. Beck erwiderte, es sei nichts, garnichts vorbereitet. Für die Ausgabe der notwendigen Befehle standen Beck knapp 5 Stunden zur Verfügung. Beck betonte, er könne nur improvisieren und verlangte Verhaltensmaßregeln für den Fall des Einmarsches italienischer oder tschechischer Truppen in Österreich. Gleichzeitig gab Hitler bekannt, daß keinesfalls die vollziehende Gewalt in Österreich beim Einmarsch an Gl.v.Bock fallen dürfe. Das war ein neuer Beweis seines Mißtrauens. Brauchitsch nahm die Nachricht mit Bestürzung auf; er fürchtete Krieg mit Italien und der Tschechei. S.266: Am 1.4.38 hatte Deutschland 24 Inf., 1 Panzer, 1 Kv., 1 Geb.Div.- Tschechei 45 Divisionen.JEDLICKA, L.: Abschrift der Photokopie „Der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Nr.55/37 G.K. Chefsache L Ia, Berlin den 24.6.37. Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht vom 1.7.37 bis 30.9.38” S.19: Folgende „Sonderfälle” sind innerhalb der Oberkommandos im allgemeinen ohne Beteiligung von Außenstellen zu durchdenken: I.) Sonderfall „Otto”: „Bewaffnete Intervention gegen Österreich für den Fall, daß dieses die Monarchie wiederherstellen sollte.” Ziel dieser Intervention wird sein, Österreich mit Waffengewalt zum Verzicht auf eine Restauration zu zwingen. Hierzu ist unter Ausnützung der innerpolitischen Spaltung des österr. Volkes in allgemeiner Richtung auf Wien einzumarschieren und jeder Widerstand zu brechen. Teile der Luftwaffe sind zur unmittelbaren Unterstützung des Heeres einzusetzen. Jede weitergehende Verwendung von Kampfverbänden der Luftwaffe unterliegt meiner Entscheidung. Ob außer der bewaffneten Macht Verbände der Partei eingesetzt werden, bleibt der Entscheidung des obersten Befehlshabers der Wehrmacht vorbehalten. Die Bearbeitung des Sonderfalles „Otto” ist vorzusehen: a) als Aktion für sich ohne gleichzeitigen Aufmarsch an anderen Fronten. b) im Rahmen des Aufmarsches „Rot” [Anm.: Fall „Rot” bedeutet Zweifrontenkrieg mit Schwergewicht im Westen]. Als gleichzeitige Aktion sind Sonderfall „Otto” und Aufmarsch „Grün” nicht vorzusehen. [Anm.: Fall „Grün” bedeutet Zweifrontenkrieg mit Schwergewicht gegen die Tschechoslowakei.] Sollten sich die politischen Voraussetzungen für beide Fälle zur selben Zeit ergeben, so wird der Sonderfall „Otto” bis zum Abschluß der Aktion „Grün” zurückgestellt werden. Mit der Möglichkeit, daß sich aus dem Sonderfall „Otto” der Fall „Grün” entwickeln könnte, muß gerechnet werden; dies ist in den Kreis der Überlegungen mit einzubeziehen. Gezeichnet v.Blomberg
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG