FML JANSA
«Aus meinem Leben»
IX
MILITÄR- und LUFTATTACHÉ
für Deutschland und die Schweiz
1.VII.1933 - 31.V.1935
Mit der Verleihung der alten österreichischen Uniform an das Bundesheer wurde der Bundesminister für „Heerwesen” in einen solchen für „Landesverteidigung” verwandelt, und Karl Vaugoin in Anerkennung seiner in zwölf Jahren ununterbrochener Ministerschaft erworbenen Verdienste zum General der Infanterie ernannt. Von diesem Moment an sprach er mich, der alten von der Armee Radetzkys hergeleiteten Tradition gemäß, mit „Du” an.
Ende Juni 1933, anläßlich meiner Meldung von der Beendigung der Frühjahrstagung der Abrüstungskonferenz in Genf und meinem Abgang nach Berlin, sagte mir Minister Vaugoin, daß ihn zu meiner Bestellung für Berlin zwei Momente bewogen hätten: zunächst, um mich „als seinen besten General” vor dem sonst unvermeidlichen Abbau in den Ruhestand zu bewahren, und dann wünsche der Kanzler eine absolut zuverlässige Persönlichkeit in Berlin, von der er sicher sein könne, daß sie dem deutschen Einfluß nicht erliegen werde. Darum mache er mich auf die hohe Bedeutung meiner Mission mit der Versicherung seines Vertrauens aufmerksam. Ich möge unbedingt auch noch beim Kanzler vorsprechen. Ich dankte für die Beweise seiner Anerkennung. Wer hätte beim Abschied gedacht, daß Vaugoin selbst nur mehr zwei Monate Minister sein werde?
Bei Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß konnte ich schon nach zwei Tagen der Anmeldung persönlich vorsprechen. Es war eine nicht sehr lange, mir jedoch umso eindrucksvoller im Gedächtnis gebliebene Begegnung, weil er fast genau ein Jahr später ermordet wurde und ich ihm nicht mehr persönlich begegnet war.
Dr.Dollfuß ließ sich die bei der Abrüstungskonferenz gewonnenen Eindrücke schildern und zeigte sich sehr befriedigt, als ich ihm das Manöver von der Freistellung der Heimwehren im Hinblicke auf das künftige österreichische Heeresfriedenskontingent von 60.000 Mann erläuterte. Seine Frage, ob eine vorzeitige Zustimmung zu einer Ausweitung des Bundesheeres erhofft werden könnte, bejahte ich mit der Einschränkung, daß zunächst nur eine kurzfristige Dienstzeit statt der bisherigen zwölfjährigen verlangt werden sollte, was einerseits ausgebildete Reserven für die Kriegsformation des Bundesheeres schaffen und anderseits durch Einsparung der hohen Lohnsätze Langdienender Gelder für den Sachaufwand freistellen würde. Da erhob sich der kleine Kanzler, ging nachdenklich ein paarmal auf und ab und blieb schließlich vor mir stehen; auch ich stand auf. Das weitere Gespräch wurde stehend geführt, wobei Dr.Dollfuß den rechten Fuß auf einen Sessel stellte und dadurch eine verkrümmte Körperhaltung annahm. Er hob den Kopf zu mir empor, sah mich mit seinen großen Augen lange von unten herauf an und sagte schließlich: „Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Herr General: bitte helfen Sie unserem Gesandten, mit Deutschland ein vernünftiges Verhältnis herzustellen!” Hierauf reichte er mir die Hand. Ich hatte den Eindruck gewonnen, mit einem äußerst intelligenten Mann gesprochen zu haben, der das Ziel eines selbständigen, freien Österreichs klar vor Augen hatte, aber den Weg hierzu noch suchte. Ja, es erfüllte mich mit aufrichtiger Freude, in Dollfuß einen Mann erkannt zu haben, in dem sich zur Klugheit auch Energie und Mut gesellten, so daß ich gern und aus Überzeugung bereit war, seine politische Linie angesichts des eingetretenen „Staatsnotstandes” als richtig anzuerkennen und ihr - soweit es in meinen Möglichkeiten lag - zum Erfolg zu verhelfen.
Die wenigen Tage, die ich noch in Wien verbringen durfte, kürzten sich um die Zeit des Besuchs bei meinen Schwiegereltern in Ungarn, denen meine Frau und ich unsere Töchter über den Sommer zur Obsorge lassen konnten. Da meine Frau - wie das bei den Töchtern der ungarischen Adelskreise stets geschah - in England und in der Schweiz erzogen worden war, beherrschte sie die englische Sprache in gleicher Vollkommenheit wie die deutsche und ungarische; dazu sprach und schrieb sie auch Französisch in einer den üblichen Durchschnitt überragenden Weise. Tochter eines ungarischen, auf Landbesitz fußenden Generals, hatte sie sehr viel politisches Feingefühl ererbt. Österreich, von Kindheit kennend, hatte sie durch unseren zwölfjährigen glücklichen Aufenthalt in St.Pölten unendlich liebgewonnen. Mit dem richtigen Gefühl fürs Auftreten in großer, internationaler Gesellschaft war sie eine ideale Diplomatenfrau und mein bester, verständigster und treuester Kamerad. Sie verstand es, im Handumdrehen Sympathien zu gewinnen, was für Berlin umso mehr Bedeutung hatte, als unser Gesandter und der erste Legationssekretär, ein gewisser Seemann, unverheiratet waren.
Nach unserer Rückkehr nach Wien veranlaßte der seit dem Frühjahr 1933 in Wien bestellte deutsche Militärattaché, Glt.Muff, meinen Besuch bei dem deutschen in Wien amtierenden Gesandten Rieth, dem eine Dejeunereinladung mit meiner Frau folgte. Bei dem vorangehenden offiziellen Besuch, dem der deutsche Militärattaché beiwohnte, sprach ich mich mit Rieth sehr schlecht. Dieser entstammte kommerziellen Kreisen und hatte statt angeborener Alluren eines Grandseigneurs jenes hochnasige Gehaben, das sich aus eingelernter Formalistik und schnoddriger Grundanlage ergibt. Er begann mich sofort zu belehren, wie ich mich in Berlin zu verhalten hätte, um die „Fehler” der österreichischen Regierung auszugleichen. Diese hatte nämlich schon früher Hitler die österreichische Staatsbürgerschaft abgesprochen und am 19.Juni die nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei wegen ihrer fortgesetzten Terrorakte in Österreich verboten sowie dem deutschen Naziminister Frank bei seiner Ankunft in Wien am Flugplatz sagen lassen, daß sein Kommen unerwünscht sei; darauf hatte Hitler mit der 1000-Mark-Sperre für deutsche Reisende geantwortet. Ich hörte ihn eine Weile an, dann sagte ich ihm, daß ich bedauere, seinen Ausführungen zu entnehmen, wie gering sein Einfühlungsvermögen in die österreichische Seele und wie fehl darum sein Urteil sei; ich sei mit unserer Regierungspolitik voll einverstanden und er könne und solle nach Berlin melden, daß ich dort nur österreichische Interessen uzw. mit allem Nachdruck vertreten werde; denn bei der jetzt geübten deutschen Politik könne es zu dem von Dollfuß erstrebten „vernünftigen Verhältnis” nicht kommen. Darauf bekam Rieth einen roten Kopf, und es war nur dem vermittelnden Dazwischentreten von Glt.Muff zuzuschreiben, daß die Unterredung nicht noch schärfere Formen annahm. Das folgende Dejeuner verlief bedeutungslos in frostiger Höflichkeit. Minister Vaugoin machte ich vor meiner Abreise aufmerksam, in wie unguten Händen die deutsche Gesandtschaft in Wien liege.
In unserem Amt für Auswärtige Angelegenheiten war ich aus meiner bisherigen Tätigkeit bereits mit dem Generalsekretär Peter und den maßgeblichen Leitern der politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten, Hornbostel und Wildner, bekannt. Ich versicherte alle drei, daß ich angesichts der schwierigen Lage verläßlich keine Extratouren tanzen, vielmehr mich bemühen werde, unserem Gesandten - den ich persönlich noch nicht kannte - im Sinne des Kanzlerauftrags zu helfen, „ein vernünftiges Verhältnis mit Deutschland” herzustellen.
Am 16.Juli reisten meine Frau und ich nach Berlin. In dieser Stadt waren wir noch nie gewesen. Ihre ungeheuren Entfernungen und das Trennende des großen, im Zentrum gelegenen Tiergartens fielen mir als Ersteindrücke so auf, daß ich nach einer der Gesandtschaft und dem Reichswehrministerium möglichst nahe gelegenen Wohnung Ausschau hielt; denn weder hatte ich einen Dienstwagen mitbekommen, noch gestatteten die knapp erstellten Auslandsgebühren die Haltung eines Wagens aus eigenen Mitteln. Wir gaben also eine Notiz in die Zeitung, die etwa lautete: „Gesandtschaftsattaché sucht Wohnung”. Die darauf in sehr großer Zahl eintreffenden Angebote ergaben das erste Bild, mit dem sich mir das nationalsozialistische Berlin vorstellte: unter ganz lächerlich geringen Mietzinsforderungen wurden luxuriös eingerichtete Wohnungen und ganze Villen angeboten, der Schlußsatz aller Angebote lautete fast übereinstimmend: „Bitte übernehmen Sie meine Wohnung; es wäre dies die einzige Chance, mein Besitztum zu erhalten!” oder „... die einzige Hoffnung, meine Möbel nicht als Kleinholz wiederzufinden”, ein übereinstimmender Notruf der gequälten Kreatur zumeist jüdischer Abstammung, aber auch von Christen mit scharfer Antinazi-Einstellung. Wir wählten schließlich eine in unmittelbarer Nähe des Reichswehrministeriums und unserer Gesandtschaft gelegene Wohnung in der vormaligen Hohenzollernstraße, die später in Graf Spee-Straße umbenannt wurde. Dabei ahnten wir noch nicht, daß sich kurz nachher im mit seiner Gartenfront anschließenden Haus ein hoher SA-Funktionär mit Anhang einmieten werde, dessen Trinkgelage die Nachtruhe aller Anrainer dauernd störten; wir zogen nach einiger Zeit in die Burggrafenstraße um, wo wir von den braunen Parteiorgien unbelästigt blieben.
Die erste Wohnung mieteten wir von einer Engländerin, die, mit einem Deutschen verheiratet gewesen und nachher von ihm geschieden, ihre Zeit viel auf Reisen verbrachte. Das Haus war nahe dem Kriegsministerium, sowie nahe dem die Mitte Berlins ausfüllenden Tiergarten gelegen. Die Wohnung war nicht mit pompöser Eleganz, wie viele von Juden angebotene Wohnungen, eingerichtet, hatte aber eine meine Frau ansprechende Note englischer Gediegenheit und viele ganz ausgezeichnete Schlafgelegenheiten. Die Bauart der alten Berliner Wohnungen war ganz eigenartig: durch die Trennung der Wohnung in einen an der Straßenseite gelegenen Repräsentationsteil und den theoretisch ruhigen Hofteil war als Verbindung ein unlüftbarer, immer nur künstlich beleuchteter langer Gang nötig. Sie besaß nur eine Ofenheizung, aber der Hausbesorger füllte die Öfen um 7h Morgen außerordentlich leise und wohlerzogen mit Antrazit, was die Wohnung dann ohne weitere Bedienung bis zum nächsten Morgen warm hielt.
Aus Herzogenburg, wo sie bei ihren Eltern auf Urlaub gewesen, war auch unser geschicktes und repräsentatives Dienstmädchen Grete nachgekommen.
In einem großen Plan Berlins suchte ich an einem der ersten Sonntage, wie man am leichtesten ins Grüne gelangen könnte. Der mächtig grün gemalte Grunewald wurde natürlich unser erstes Ausflugsziel. Heute weiß ich nicht mehr, wie und in welchen Teil des Grunewalds wir gelangten, jedenfalls war er gelbsandig, mit dünnen, weit voneinander gepflanzten Kiefern und machte einen trostlosen Eindruck. Als Judith diesen „Wald” sah, bekam sie einen regelrechten Weinkrampf aus Enttäuschung; der Gedanke, in so einer „Wüste” leben zu müssen, erdrückte sie einfach.
Für den Ausflug am nächsten Sonntag hatte ich den Plan beiseite gelegt und mich beim Gesandschaftspersonal erkundigt, wo der Grunewald ersprießlicher anzutreffen sei. Dann fuhren wir mit der ausgezeichnet eingerichteten und schnellen U-Bahn bis zur Endstation „Krumme Lanke”. Dort entstand damals eine neue Wohnsiedlung, weshalb die dort umliegenden Kiefernbestände einen gepflegteren, waldähnlichen Eindruck machten. Froh beschlossen wir, den Abend draußen zu verbringen, und marschierten nach dem schönen, am Waldrand gelegenen Dahlem.
Dort fanden wir einen nett aussehenden Gastgarten mit der für uns ungewohnten Anschrift: „Hier kann man Kaffee kochen.” Nach Erkundigung schmunzelten wir über die sparsamen Berliner, die sich ihren Kaffee zum Selbstkochen auf ihre Ausflüge mitnahmen. Judith bestellte sich irgendein alkoholfreies Getränk. Ich bat die Kellnerin, mir ein bierähnliches Getränk zu bringen, das ich an den Nebentischen in riesigen, ganz flachen Pokalen serviert sah, worauf sie fragte: „Also eine Weiße; mit oder ohne?” Verständnislos erwiderte ich, daß ich dachte, das in den Pokalen sei Bier. Sie bestätigte und fragte wieder, „Mit, oder ohne?”, darauf ich: „Was heißt das? Ich bin Wiener und verstehe nicht, was mit oder ohne sein soll.” „Ach so”, meinte die Kellnerin, „ich frage, ob mit oder ohne einen Schuß Himbeersaft?” Ich glaubte an einen Ulk und fragte wieder, während Judith langsam zu lachen begann: „Aber das ist doch Bier, zu dem kann man keinen Himbeersaft nehmen!” „Oh doch”, schloß die Brave, „mit Himbeersaft schmeckt es viel schöner!” Da rang ich mich zu einer „Weißen” durch und bat um den Himbeersaft extra in einem Fläschchen. Sie brachte ein ganz leichtes, ungegorenes Getränk, das man in Wien „Abzugbier” oder „Fensterschwitz” nannte und etwas bitter schmeckte. Da goß ich den Himbeersaft dazu und tatsächlich wurde das Getränk dadurch etwas trinkbarer. Schließlich kamen die ebenfalls bestellten „Frankfurter” Würste mit Senf. Bei derem Aufschneiden leuchtete meiner lieben Frau ein abgerauchter Zigarettenstummel mit Goldmundstück entgegen. Ein anderes von der Kellnerin nachgebrachtes Paar Würste konnte ihren Ekel nicht mehr besänftigen. Hungrig zogen wir heim und begannen zu begreifen, daß sich die Berliner unter solchen Umständen lieber ihre Kuchen und ihren Kaffee selbst mitnahmen und gern dort Platz nahmen, wo stand „Hier kann man Kaffee kochen.”
In der Folge fanden wir die Umgebung von Berlin nicht mehr ganz so trostlos. Nach einer Besichtigung Potsdams entdeckten wir an den Ufern der vielverzweigten Havel nette Kaffee- und Wein-Restaurants, wo man normale Speisen und Getränke bekam und sich am Anblick zahlloser Segel- und Ruderboote erfreuen konnte. Aber es hätte eines Autos bedurft, um die großen Entfernungen rasch und bequem zu überwinden. Die an sich vortrefflichen öffentlichen Verkehrsmittel ermüdeten meine Frau durch die Wartezeiten und das Treppensteigen leider zu sehr. Für ein eigenes Auto reichten die Mittel nicht, denn Österreich zahlte seinen Militärattachés wenig: obwohl man wußte, daß eine Ehefrau in der Diplomatie eine bedeutende Rolle zu spielen hat, durfte man für die Frau - die erste Übersiedlung nach Berlin und die definitive Rückkehr nach Wien ausgenommen - keine Gebühren berechnen. Alles in allem erhielt ich in Berlin 4.000,- Schilling, von denen das Pensionat für die Töchter und der Zins für die Wiener Wohnung bereits rund 1.000,- beanspruchten.
Mit unserem Gesandten Stephan Tauschitz, einem Kärntner Landbündler, der im ersten Weltkriege als Artillerie-Reserveoffizier mit Auszeichnung gedient hatte, kam ich sehr bald in ein gutes, kameradschaftliches Vertrauensverhältnis, das sich in der Folge zu einer lebenslangen Freundschaft ausbaute. Tauschitz, eine große, kräftige, sehr gute Erscheinung, mit viel Witz und Humor begabt, war von der Bedeutung Österreichs im Donauraum und von der Überzeugung durchdrungen, daß ein freies, selbständiges Österreich für die gesamtdeutschen Interessen weit mehr leisten könne, als wenn es eine Eingliederung in das deutsche Reich erführe. Er vertrat deshalb die von Dollfuß und dann von Schuschnigg im ersten Halbteil seiner Kanzlerschaft mit Zielklarheit geführte Unabhängigkeitspolitik aus eigener Überzeugung mit zweifelfreier Deutlichkeit für jedermann. Das ging auch im Innern soweit, daß er das reichsdeutsche Personal der Gesandtschaft (Sekretärin, Hauswart und Chauffeur) nach kurzer Zeit durch Österreicher ersetzte. Tauschitz war aber auch eine kluge und besonders an wirtschaftlichen Staatsfragen mit großer Sachkenntnis interessierte und sehr fleißige Persönlichkeit, die sich sowohl im deutschen Auswärtigen Amt wie auch im diplomatischen Korps eine angesehene Stellung schuf. Das Vertrauensverhältnis zwischen uns war so gut, daß wir uns wechselseitig unsere Berichte nach Wien zum Lesen gaben, wodurch wir am besten erkennen konnten, wo Lücken in dem von uns regelmäßig gegebenen Bilde bestanden, die auszufüllen wir uns sodann bemühten.
In Berlin waren nämlich die Militär-, Marine- oder Luftattachés ein selbständiger, geschlossener Kreis, ebenso wie der rein politische Teil des diplomatischen Korps: hatte dieser Kreis seine amtlichen Beziehungen vornehmlich zum Auswärtigen Amt, so hatten die Waffenattachés die ihren zum Reichswehr- und Luftfahrt- Ministerium. Zur zweifelfreien Klarheit möchte ich hier ausdrücklich festhalten, daß den Militärattachés der k.u.k. öst-ung. Armee die Erbringung von Nachrichten auf dem Weg der heute gar so viel erörterten Spionage ausdrücklich untersagt war. Da die Republik noch keine Dienstvorschrift für die Waffenattachés geschaffen hatte, hielt ich mich in allen Belangen an die Bestimmungen aus der Monarchie, die vollkommen genügten. Zudem war eine besondere, der Spionage bedürftige Information über geheim gehaltene Einzelheiten der deutschen Wehrmacht und ihres Ausbaues für das österreichische Staatsinteresse belanglos. Die nach Wien berichteten Nachrichten ergaben sich aus den Antworten auf fallweise den deutschen Wehr- und Luftmachtministerien gestellten Anfragen, aus eigenen Beobachtungen, Reisen und Besichtigungen, aus der Verfolgung aller militärischen Nachrichten in der deutschen und ausländischen Tages- und militärwissenschaftlichen Fachpresse, dem Studium von deutschen Dienstvorschriften, aus den Gesprächen mit deutschen Offizieren und Beamten und schließlich in der Erörterung einzelner interessanter Fragen mit den Waffenattachés der verschiedenen Mächte, sowie auch durch Besprechung mit unserem eigenen militärisch sehr interessierten Gesandten.
Beim Gedankenaustausch pflegte ich bald mit meinem belgischen Kollegen Glt.Schmit, dem schwedischen Mjr.Juhlin Danfelt, aber auch mit dem englischen Colonel Thorne und seinem Gehilfen, dem amerikanischen Luftattaché Obst.Wuest und dem italienischen Obstlt.Mancinelli guten Umgang, zu dem auch unsere Frauen viel beitrugen. Der belgische General war allerdings Junggeselle, dafür aber ein guter Kenner der gemeinsamen österreichisch-belgischen Geschichte, aus der er viel Sympathie für Österreich ableitete. Auch zu einzelnen Diplomaten, besonders dem Schweizer Gesandten Dinichert, dem Peruaner Gildemeister, dem Argentinier Labougle, dem Litauer Saulys, dem amerikanischen Botschaftsrat Flack sowie dem amerikanischen Bankfachmann de Roth, unterhielt ich, gefördert durch die Sympathien der Frauen, freundschaftliche Kontakte.
Darüberhinaus habe ich mich von Haus aus bemüht, zu den in Berlin in einer Tafelrunde vereinigten österreichischen Offizieren der ehemaligen kaiserlichen Armee und zu dem Traditionsverein des ehemaligen Kaiser Franz-Gardegrenadierregimentes, dessen Inhaber auch Kaiser Franz Josef I. gewesen war, in ein Verhältnis vertrauensvoller Kameradschaft zu kommen, was auch durchaus gelang.
Weniger glücklich ließen sich die Beziehungen zu den aktiven deutschen Offizieren an. Dem in Berlin üblichen Brauch folgend, wonach militärische Attachés durch ihre zuständigen Botschafter beim Reichskriegsminister eingeführt wurden, trat ich in Begleitung unseres Gesandten zu meinem Antrittsbesuche bei dem nachmaligen Generalobersten v.Blomberg an. Blomberg war eine elegante, große, sprachgewandte Persönlichkeit von weltweiter Schau und weltmännischen Umgangsformen. Er begrüßte unseren Besuch herzlich, drückte sein Bedauern darüber aus, daß er zu der gerade in Wien stattfindenden 250-Jahrfeier der Befreiung dieser Stadt von der Belagerung durch die Türken keine Deputation entsendet habe, weil festgestellterweise dem Reichsheere damals kein Brandenburgisches Truppenkontingent zugehört hatte. Als ich darauf antwortete, daß Österreich die Einladung zur Teilnahme an der Feier trotzdem übermittelt habe, weil es hoffe, daß die im Weltkrieg besiegelte Kameradschaft deutscher und österreichischer Truppen durch die seither eingetretene politische Spannung keine Einbuße erleiden werde, erwiderte Blomberg, daß dies sicher nicht der Fall sein werde und er es begrüße, daß die österreichische „Wehrmacht” wieder ihre schönen historischen Uniformen angelegt habe. Ich sprach darauf noch aus, daß ich das Schwergewicht meiner Tätigkeit in Berlin in der Hilfe erblicke, die ich nach Dr.Dollfuß' ausdrücklichem Wunsche unserem Gesandten leisten solle, damit zwischen Deutschland und Österreich das alte gute Verhältnis wiederhergestellt werde.
Der dieserart sehr verbindliche Besuch hatte sowohl mich wie unseren Gesandten sehr befriedigt. Als wir uns trennten, konnte ich nicht ahnen, daß dieser den Besuch und das zwischen Blomberg und mir geführte Gespräch dem österreichischen Presseattaché Herrn Benjamin Schier mitteilen und dieser die Geschmacklosigkeit haben werde, ohne vorausgehender Anfrage bei mir, ganz aus dem Zusammenhange gerissen, nach Wien zu depechieren, Gl.Blomberg habe es begrüßt, daß Österreich seinen Soldaten an Stelle der bis vor kurzem noch getragenen deutschen, die altösterreichische Uniform gegeben habe. Diese Nachricht, in großer Aufmachung in der österreichischen Presse gebracht, war eine Taktlosigkeit, die GO.v.Blomberg in seinem Verhältnis zu Hitler peinlich sein mußte. Die Antwort in der deutschen Presse blieb auch nicht aus. Interessant war dabei, daß Blombergs tatsächlich gemachte Äußerung vollständig abgeleugnet wurde, was die Gefahr einer Pressepolemik heraufbeschwor.
Nachdem ich dem Presseattaché meine Meinung unverhohlen ausgedrückt hatte, beschloß ich, die Sache durch eine offizielle Entschuldigung bei Blomberg aus der Welt zu schaffen, womit Tauschitz einverstanden war. So warf ich mich wieder in den Paradeanzug und ging zunächst zum Chef des Wehrmachtsamtes, dem damaligen Obst.v.Reichenau, und mit diesem zu GO.v.Blomberg. Beiden Herren legte ich dar, daß ich keinen Vertrauensbruch begangen hätte, und erzählte offen die Ungeschicklichkeit unseres Presseattachés; weiters sagte ich, daß Veranlassung getroffen wurde, damit österreichischerseits keine Pressepolemik in Folge der Ableugnung der tatsächlichen Äußerung in der deutschen Presse entstehe, und erbat gleiches auch für die deutsche Presse. Da sich beide Herren trotzdem noch verschnupft zeigten, verschärfte ich meine Sprache: ich sagte jedem einzeln, daß nach den seit je in der österreichischen Armee gültigen Ehrenregeln durch meine rasch und offiziell vorgebrachte Entschuldigung für eine Entgleisung, die ich selbst garnicht verschuldet hätte, alles geschehen sei, was ein Ehrenmann in solcher Sache tun könne. Darauf sagte jeder der Herren Dank für mein Kommen und daß auch ihrerseits die Geschichte als erledigt angesehen werde.
Trotzdem begegnete ich in der Folge bei meinen Besuchen beim Oberbefehlshaber des Heeres Gen.v.Hammerstein-Equord, dem Chef des Truppenamtes Gen.Adam, sowie beim Oberbefehlshaber der Marine Admiral Raeder kühler Zurückhaltung, was ich gut begriff. Hingegen war meine Aufnahme im Luftfahrtministerium durch Gen.Milch herzlich und kameradschaftlich. Zu einer Vorstellung beim Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Göring, kam es nicht; Milch sagte mir, Göring habe keinen der Waffenattachés empfangen und könne auch bei mir keine Ausnahme machen. Beim Eintritt ins Luftfahrtministerium mußte ich auf einer großen, mitten in den Weg zum Stiegenaufgang gestellten Tafel lesen: „In diesem Hause wird nur mit Heil Hitler gegrüßt”; das war auffällig genug, hat mich jedoch weder in diesem Haus noch an einem anderen Ort jemals bewegen können, die Worte „Heil Hitler” auszusprechen oder den Arm zum „deutschen Gruße” zu erheben.
Im Auswärtigen Amt lernte ich, durch unseren Gesandten eingeführt, Baron Neurath, Staatssekretär Weizsäcker, Ministerialdirektor Köpke und Herrn Altenburg kennen. Die beiden letzteren waren speziell mit Österreich-Angelegenheiten befaßt.
Sodann versuchte ich meine deutschen Freunde und Kameraden aus dem ersten Weltkriege ausfindig zu machen, die mit Ausnahme des Obersten Joachim v.Stülpnagel und des seinerzeitigen österreichischen Kampffliegers Heyrowski, der nun deutscher Fliegeroffizier im Luftfahrtministerium geworden war, leider durchwegs nicht mehr im aktiven Heeresdienst standen.
Somit mußte ich Geduld aufbringen, um langsam ein neues Vertrauensverhältnis aufzubauen. Stülpnagel war der alte zuverlässige Kamerad aus unserer gemeinsamen mazedonischen Zeit geblieben. Er war mit dem revolutionären Geschehen in Deutschland - trotz begreiflicher Zurückhaltung in seinen Äußerungen - offenkundig nicht einverstanden, hoffte, daß Göring als alter Offizier vieles wieder ins Lot bringen werde, und öffnete mir den Weg zu seinem Vetter, der als Redakteur in der Börsenzeitung tätig war. Der Besuch bei diesem Manne war mir willkommen, weil die Börsenzeitung in besonders gehässiger Weise gegen Österreich schrieb. Als ich diesen erst kürzlich in Ruhestand getretenen General aufsuchte, fragte er mich kurzerhand, was mich zu ihm führe. Da sagte ich ihm ebenso kurz und bündig, daß ich die Schreibweise seiner Zeitung gegen Österreich abscheulich fände und nicht verstehen könne, daß ein Offizier eine viereinhalbjährige Waffenkameradschaft im Krieg so ganz beiseite schiebe. Stülpnagel antwortete ungefähr, daß Preußen und Österreich immer Feinde gewesen seien, man daher garnicht scharf genug gegen Österreich schreiben könne. Das veranlaßte mich zu der Replik, daß die größten Feinde und Zerstörer der deutschen Einheit in Preußen gewesen waren: Luther, Friedrich II. und Bismarck! Darauf trennten wir uns ohne Wunsch auf ein Wiedersehen. Als ich darauf Joachim v.Stülpnagel von der Begegnung mit seinem Vetter Mitteilung machte, meinte er bedauernd, daß die Politik nun leider auch die Familien auseinander reiße.^
Durch die folgenden Besuche bei einzelnen Gesandten, bei meinen militärischen Kollegen, den dabei gepflogenen Gesprächen und durch eigene Beobachtungen gewann ich ein bedrückendes Bild. Die Machtergreifung durch den Nationalsozialismus war in vollem Gange, war Hitler ja erst Anfang 1933 Reichskanzler geworden. Jedes kleinste Bierhaus war Sitz einer SA-Formation, überall in den Straßen hörte man das Aufstampfen ihrer Stiefel. Ich wurde mehrfach Zeuge von Anpöbelungen von Bürgern, die ruhig lesend oder sprechend auf den Kaffeehausterrassen am Kurfürstendamm saßen.
Madame Dinichert, die Gemahlin des Schweizer Gesandten, erzählte mir eines Tages ganz empört, daß sie am Abend vorher aus einem Saale der Philharmonie, in dem Schweizer Künstler ein Wohltätigkeitskonzert geben sollten, mit anderen Besuchern in gröbster Weise von SA-Leuten hinausgestoßen und einzelne protestierende Besucher verprügelt worden waren. Auf die sofortigen Schritte ihres Mannes sei mit der Erklärung um Entschuldigung gebeten worden, daß die SA sich geirrt habe; es sollte das im Nebensaale von einem jüdischen Dirigenten geleitete Konzert gestört werden.
Über Nacht verschwanden Menschen, die von der Gestapo geholt wurden, darunter ein mir persönlich bekannt gewordener Beamter des Auswärtigen Amtes. Das Gefühl der Unsicherheit und Rechtlosigkeit griff um sich.
Einer Einladung des österreichischen Obstlt. Grafen Üxküll-Gyllenband folgend, der als Güterverwalter in Berlin lebte und mit einer deutschen Gräfin vermählt war, verbrachten meine Frau und ich einen Nachmittag in seinem Haus. Üxküll, ein Mitglied der Tafelrunde österreichischer Offiziere, zeigte mir stolz das Bild des Kaisers Franz Josef I. und anderer Mitglieder des Kaiserhauses an der Wand, so daß meine Frau und ich mich in einem gut österreichisch gesinnten Hause glaubten. Als das Gespräch - wie das ja in Berlin üblich war - auf die Tagespolitik kam, äußerte ich meinen Abscheu über den Haß Hitlers gegen das Haus Habsburg und die Stadt Wien, erzählte von den Terroraktionen der Nazis in Österreich, von ihrer weder auf Frauen, noch auf Kinder Rücksicht nehmenden Brutalität, und gab schließlich meiner Überzeugung Ausdruck, daß Hitler das deutsche Volk in namenloses Unglück führen werde, weshalb Österreich von ihm und seiner Partei nichts wissen wolle. Die Verabschiedung erfolgte seitens Üxkülls herzlich und kameradschaftlich, seitens seiner Frau mit kühler Höflichkeit. Der Gegenbesuch bei uns wurde für einen der nächsten Tage vereinbart, dann aber von Üxküll telephonisch verschoben. Auf meine Frage nach der Ursache, antwortete er mit der Absicht, mich in der Gesandtschaft zu besuchen. Dort erklärte er mir dann in großer Verlegenheit, daß er der alte Österreicher geblieben sei, seine Frau aber als glühende Nationalsozialistin über meine Ansichten empört war und deshalb den Besuch nicht erwidern wolle. Ich möge seine schwierige Lage würdigen und ihn weiter als den alten treuen Kameraden betrachten. Ich nahm diese Mitteilung bedauernd zur Kenntnis.
Täglich konnte ich Eindrücke der Charakterschwäche gewinnen, und der „deutsche Blick”, das war das ängstliche Umsichschauen bei einer Begegnung und einem Gespräch, ob kein Lauscher oder Angeber in der Nähe sei, ergänzte das üble Bild. Spät abends kamen auch Männer von Distinktion ganz verstört in meine Wohnung, um Rat zu holen; die einen wiesen das ihnen zugestellte Femezeichen (ein Metallplättchen mit dem Relief einer Hand) vor und baten um Schutz, andere baten, die Nacht bei uns verbringen zu können, da sie sich daheim vor den Zugriffen der Gestapo bedroht fühlten. Ich half, so gut wie möglich, meist durch eine rasche Paßbeschaffung über die eigene Gesandtschaft oder über meine militärischen Kollegen anderer Staaten. Dabei muß ich anerkennend sagen, daß die Hilfsbereitschaft und das Erbarmen mit den gehetzten Menschen allseits sehr groß waren.
Allerdings gab es nicht nur Unangenehmes. So hatte ich eine wahre Herzensfreude, wenn das Wachregiment durch Berlin marschierte; die prächtige Haltung und Präzision in allen Bewegungen waren wirklich sehenswert. Wie stolz eine Bevölkerung auf ihre Soldaten sein konnte, erfuhr ich erst in Berlin. Als meine Frau und ich an einem Sonntag über die meinem Geschmack nach viel zu breite Straße „Unter den Linden” gingen, nahmen wir vor dem Ehrenmal eine Menschenversammlung wahr. Wir suchten, was es zu sehen gab, aber außer dem großen Wachposten war nichts Auffälliges zu bemerken. Nach einer Weile fragte ich einen Berliner, was hier zu sehen oder erwarten sei. Mir wurde geantwortet, daß der Wachposten doch sehenswert sei! Ähnliches hatte ich in Wien nur in der kaiserlichen Zeit auf der Burghauptwache erlebt. Na, und die Geschäftsauslagen mit Ordensdekorationen waren, besonders für SA-Leute, ganz große Attraktionen; jeden Tag standen die mit begehrlichen Blicken davor.
Wie stark und groß das Interesse an der Wehrfähigkeit war, konnten wir an den Sonntagen ermessen, an denen uns der Gesandte zu Überlandfahrten in seinem Auto mitnahm. Überall sahen wir im Gelände übende SA- und Stahlhelmformationen ohne Waffen.
Die märkische Landschaft mit ihrem herben Reiz verfehlte nicht ihren Eindruck auf uns und regte zu Vergleichen mit der ungarischen Tiefebene an. So fuhren wir einmal nach Bad Saarow im Osten Berlins, wo eine dem Gesandten bekannte Kärntnerin mit einem geistig überaus hochstehenden Anthroposophen, Dr.Bartsch, verheiratet war. Dieser hatte einen vernachlässigten landwirtschaftlichen Besitz durch eine spezielle Wirtschaftsweise ganz erstaunlich hochgearbeitet. Meine Frau, selbst eine verständige und interessierte Landwirtin, bat Bartsch um Erläuterung seiner Wirtschaftsform. Da hielt er uns nach dem Essen einen tiefschürfenden Vortrag über die wissenschaftlichen, von Rudolf Steiner dargelegten Grundlagen der biologisch-dynamischen Landwirtschaft im Vergleich mit der sonst überall angewandten Kunstdüngerei und deren Auswirkungen auf Volksernährung, Volksgesundheit, Ethik in der Erziehung bis zur Behandlung landwirtschaftlicher Arbeiter. Tief beeindruckt nahmen wir einen großen Wissensschatz mit, der uns lange Zeit hindurch immer wieder beschäftigte.
Die wunderbaren Kunstschätze Berlins, besonders die Schliemannschen Ausgrabungen, der Pergamon-Altar und die Gemäldesammlungen ebenso wie die durch ihr vieles Wasser sehr reizvolle Umgebung Berlins erfüllten unsere freien Stunden mit viel Anregung und großer Hochachtung vor den zähen Leistungen, welche diesem kargen Boden in Jahrhunderten soviel abgerungen hatte.
Umso problematischer erschien uns beim Lesen, Erwägen und Durchsprechen der Bestrebungen des Nationalsozialismus eine Synthese zwischen der Vergangenheit und der augenblicklichen Zielsetzung. Einmal fanden wir Gelegenheit, den „Führer” im Sportpalast sprechen zu hören, und waren tief erschrocken, nicht etwa über das, was jener „Führer” vorbrachte, sondern über die gläubigen, fast verklärten Mienen, mit denen unsere Sitznachbarn, meist hochgestellte Persönlichkeiten, an seinen Lippen hingen. Nachher steigerte sich unser Erschrecken zur Beklommenheit, als wir mit unserem klugen Gesandten das Gehörte durchsprachen und meine geistvolle Frau mit fast hellseherischer Intuition die leere Demagogie so vieler Behauptungen und Versprechungen Hitlers aufzeigte.
Im August 1933 waren die Waffenattachés auf den Schießplatz Unterlüß in der Lüneburger Haide geladen, wo die Rheinmetallwerke ein wenig glücklich konstruiertes Panzerabwehrgeschütz vorführten, dem unser österreichisches in Zusammenarbeit mit der Schweiz entwickeltes 4,7cm-Panzerabwehrgeschütz wesentlich überlegen war. Diese Vorführung blieb belanglos gegenüber der Möglichkeit, daß die Waffenattachés in zweitägigem Beisammensein ihre Eindrücke und Erfahrungen über das Geschehen in Deutschland austauschen konnten. Als Ergebnis ließ sich damals zusammenfassen: Mißtrauen zwischen Heer und Partei, in geringerem Maße zwischen Marine und Partei, während die neue Luftwaffe ganz im Sinne der Partei aufgebaut wird; aber auch Spannungen innerhalb des Heeres zwischen den die Partei bejahenden Persönlichkeiten, zB. Blomberg und Reichenau, und anderen hohen Offizieren; Ansätze einer beginnenden starken Rüstung, bei der Obst.Guderian für die Schaffung einer Panzerwaffe deutlich hervortritt; und schließlich starkes Vordrängen alter, nichtaktiver Offiziere zu ihrer Einstellung in die Wehrmachtteile.
Inzwischen war vom Schweizer Generalstab eine Einladung zur Teilnahme am Manöver der 2.Division zwischen Bieler und Neuchâteler See auf Anfang September gekommen. Das ließ sich gut mit meiner Absicht, einen Antrittsbesuch in der Schweiz zu machen, verbinden. Die Reise konnte ich aber nur dadurch bedecken, daß ich, dem I.Wagenklasse und Schlafwagen bezahlt wurden, mit meiner Frau in der III.Wagenklasse fuhr. Die Beschwerlichkeit der langen Reisen auf Holzsitzen suchte ich dadurch zu erleichtern, daß wir nur bei Tage fuhren und dafür einmal in Frankfurt, München oder Stuttgart Station machten, um diese Städte zu besehen.
In Frankfurt hatten wir einmal das Glück, von einem kunstsachverständigen Professor geführt zu werden, der uns anhand von Goethes «Dichtung und Wahrheit» nicht nur alles an den Dichter Erinnerungswürdige zeigte und erläuterte, sondern auch die Kaiserkrönung Franz' v.Lothringen, des Gemahls der großen Kaiserin Maria Theresia an Ort und Stelle wiedererleben ließ. Meine für Literatur, Kunst und Geschichte empfängliche Frau war von dieser Führung so beglückt, daß wir den Professor zum Abendessen in ein von ihm zu bestimmendes Restaurant luden, wo wir zusammen einen sehr angeregten Abend verbrachten. Große Freude empfanden wir auch darüber, daß unser Führer für die „Segnungen” des Nazitums nichts übrig hatte.
Nach Überschreiten der Schweizer Grenze hielten meine Frau und ich uns kurz in Basel auf, um die Steinersche Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach anzusehen. Die Typen dort studierender Jugend ließen unser von Dr.Bartsch gewecktes Interesse rasch erkalten.
Wir fuhren weiter nach Bern und kamen uns wie in einem Wunderland vor: freundliche, unbeschwerte Menschen mit freier Sprache, keine Papierböller und sonstige Terrorakte wie in Wien und keine Verkrampfungen mit „deutschem Blick” und „deutschem Gruß” wie in Berlin. Im Hotel Beau Site abgestiegen, genossen wir den überwältigend schönen Blick über die Aare zur Blümlisalp, dem Finsteraarhorn, dem Eiger und allen anderen Herrlichkeiten. Wir wurden überall herzlich wie alte Freunde aufgenommen.
Im Generalstab teilte mir Obstlt Dubois spontan mit, ich könne alles in allen Einzelheiten sehen, mit Ausnahme des Festungsraumes um den Gotthard. Ich konnte die großartige Raschheit der Schweizer Mobilmachung beobachten: 2 Stunden nach dem befohlenen Einrückungstermin waren die Bataillone und, glaube ich, nach 3 Stunden auch die Batterien und Schwadronen marschbereit, weil die Milizsoldaten Bekleidung Ausrüstung, Handfeuerwaffen und Pferde bei sich daheim hatten, nach der Einrückung also nur die Munition empfingen. Die Disziplin war hart und scharf. Die Offiziere zeigten sich voll auf der Höhe und von einem patriotischen Opfersinn erfüllt, um den ich die Schweiz nur beneiden konnte. Da war zB. ein Regimentskommandant, zivil als Rechtsanwalt in Paris tätig, der das Personal für die Standesführung und die auch in der Schweiz große administrative Schreibarbeit auf eigene Kosten nach Paris nahm; da war als Präsident der Offiziersgesellschaften, die sich seit einem Jahrhundert die Perfektionierung des militärischen Könnens im nichtaktiven Verhältnis, aber auch die gewichtige Stellungnahme zu allen Fragen der Landesverteidigung zum Ziel gesetzt haben, der über die Landesgrenzen hinaus bekannte Arzt Dr.Bircher, der als Brigadier militärwissenschaftliche Arbeiten in einer Güte und Vielzahl verfaßte, die das bewundernde Staunen ausländischer Offiziere erregten; da war die fast allgemein gute Beherrschung der drei Sprachen Deutsch, Schwyzerdütsch und Französisch, hierzu vielfach noch Englisch und Italienisch. Alles war durchpulst von strenger Pflichterfüllung, nicht nur in der Vorbereitung für den Krieg, sondern auch von fast unfaßbar rascher Einsatzbereitschaft zur Herstellung der Ruhe und Ordnung im Inneren, wie ich das vor einem halben Jahre in Genf anläßlich der Niederwerfung des vom Kommunisten Nicola angezettelten Aufruhrs hatte beobachten können. Daß dem Schweizer Generalstab die scharfe Einheitlichkeit des österreichischen oder deutschlen fehlte, lag an der Ausbildung seiner Offiziere an verschiedenen ausländischen Kriegsakademien. Im Ganzen waren aber die Schweizer Wehrorganisation und das Heer Kraftfaktoren, die unbedingten Respekt erzwangen, was beide Weltkriege schlagend bewiesen haben.
Unseren damaligen Gesandten Herzfeld empfand ich vom ersten Begegnen an als liebenswerte, treu österreichische Persönlichkeit. Während meines Aufenthaltes in Bern 1933 fand in Wien gerade der Katholikentag statt, anläßlich dessen Dr.Dollfuß in seiner schwungvollen Art am Trabrennplatz den Umbau der österreichischen Verfassung in eine ständische, im Sinne der päpstlichen Enzyklika «Quadragesimo anno» ankündigte. Ich verschlang die Zeitungsnachrichten und orientierte mich beim Gesandten über den wesentlichen Inhalt dieser Enzyklika. Es wollte mir scheinen, daß die durch verschiedenen Terror lahm gewordene Demokratie der 1.Republik im Ständestaat eine gute Lösung zum Wohle des Volksganzen erfahren könnte, was angesichts der Bedrohung Österreichs durch den Nationalsozialismus und des eingetretenen Staatsnotstandes von größter Bedeutung war. Ich tat Herzfeld und eigentlich auch allen Personen, mit denen ich ins Gespräch kam, meine hohe Einschätzung der Persönlichkeit Dollfuß' kund und versicherte, daß es ihm gelingen werde, die überwältigende Mehrheit des österreichischen Volkes für den Unabhängigkeitsgedanken zu begeistern und zur Tat aufzurufen. Beglückt nahm ich wahr, wie allen Schweizer Kreisen die österreichische Unabhängigkeit am Herzen lag und wie sehr sie - mit geringen Ausnahmen - den nationalsozialistischen Terror verurteilten.
Umsomehr befremdete mich das Verhalten von Glt.Muff, dem für Österreich und die Schweiz akkreditierten deutschen Militärattaché, der - offenkundig verleitet durch einen in deutscher Hauptmannsuniform den Manövern beiwohnenden Nazipropagandisten - alle Truppen, denen wir begegneten, nach ihrer Einstellung zum Nationalsozialismus befragte und im weiteren Gespräch diesen als einzig richtige Weltanschauung propagierte. Diese Art von Propaganda mißfiel uns ausländischen Gästen ebenso wie den Schweizer Offizieren, die es in der Folge einzurichten verstanden, daß kein direkter Kontakt zwischen den ausländischen Gästen und den Mannschaften der Truppe mehr zustande kam. Dies war der Ausgangspunkt meiner späteren ablehnenden Beurteilung Muffs, als ich Chef des österreichischen Generalstabs geworden war. Das bedauerte ich, da sich Muff mir gegenüber in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft als ein zuvorkommender und hilfsbereiter Kamerad erwiesen hatte; aus meinem österreichischen Offiziersempfinden heraus lehnte ich jedoch jede parteipolitische Betätigung überhaupt ab, umso schärfer in einem Gastland.
Auffallend nett zeigten sich von den Manövergästen mir gegenüber die italienischen Offiziere unter Führung des Korpskommandanten und kommandierenden Generals Vacca Maggiolini, der sich besonders nach meinen Erfahrungen in Serbien während des ersten Weltkrieges erkundigte. Wiederholt konnte ich ihn darauf hinweisen, daß die Serben Soldaten höchster Qualität waren und Italien ja nicht glauben dürfe, dereinst einmal in Jugoslavien leichtes Spiel zu haben.
Die Schweizer Manöver selbst brachten für mich weder operativ, noch taktisch Bemerkenswertes. Die das Manöver abschließende Defilierung der kriegsstarken 2.Division unter reger Beteiligung der Zivilbevölkerung war ein imposantes Schauspiel und zeigte klar, daß die von den Schweizergarden in fremden Diensten erworbene Freude am Kampf und Soldatentum auch in der Gegenwart weiterlebte.
Nach Bern zurückgekehrt, teilte ich unserem zuvorkommenden Attachéoffizier mit, daß ich sehr gern im nächsten Jahr die Ausbildungsarbeit in den Einzelheiten verfolgen würde. Er sagte mir eine entsprechende Programmeinladung zu. Sehr gut sprach ich mich auch mit dem Schweizer Chef des Generalstabs, Oberst-Korpskommandanten Roost. Im Beisein des Waffenchefs der Artillerie, Oberstdivisionär Bridell, unterhielt ich mich lange mit ihm über die Panzerwaffe und deren Abwehr, hatten unsere Staaten ja gemeinsam das hervorragende Panzerabwehrgeschütz herausgebracht. Beide Herren kannten Österreich gut und hegten viel Sympathie für uns.
Ab Bern trennten sich die Routen meiner Frau und mir: sie fuhr zu ihren Eltern nach Ungarn, unsere Kinder zu holen und in Wien einzuschulen, ich reiste direkt nach Berlin, um von dort aus nach Chemnitz zu den Manövern der deutschen 4.Division zu gelangen. Befehlshaber im Wehrkreis IV (Sachsen) war damals Glt.v.Gienanth. Auch dort zwangen die braunen Scharen den Städten und dem Gelände ihr lautes, unangenehmes Gehabe auf. Die Heerestruppen dagegen waren so gut, wie ich sie aus dem 1.Weltkrieg und aus der späteren Verfolgung ihres Tuns und der dieses leitenden Ausbildungsvorschriften kannte. Im Gegensatz zur Schweiz aber gewann ich den Eindruck, daß man die ausländischen Gäste in Deutschland nicht gern sah, trotzdem die Manöverleitung und die uns begleitenden Attachéoffiziere an formeller Höflichkeit und Fürsorge alles taten, was billigerweise erwartet werden durfte.
Zurück in Berlin erfuhr ich, daß in Wien der langjährige, verdiente Minister für Landesverteidigung Vaugoin durch GO.Fürst Schönburg-Hartenstein ersetzt worden war. Für das Bundesheer und dessen Ansehen konnte die Berufung dieses durch seine legendär gewordene Tapferkeit im I.Weltkrieg in ganz Österreich bekannten hohen kaiserlichen Generals wohl recht befriedigend sein. Doch hatte ich in den vergangenen zwölf Jahren Minister Vaugoin achten und schätzen gelernt. Daß in dieser Zeit das Bundesheer erstarrt war, weil die Führung nur auf seine Verwendung im Inneren Bedacht genommen hatte, lag vielleicht weniger an Vaugoin als an seinen militärischen Beratern. Ich bewahrte dem scheidenden Minister, der kurz nachher zum Präsidenten der österreichischen Bundesbahnen bestellt wurde, ein dankbares Gedenken.
Mit dem Herbst begann das rege gesellschaftliche Leben in Berlin, weshalb meine Frau und ich ebenfalls einzuladen begannen. Außer den Attachéoffizieren des Heeres, der Marine und Luftwaffe hatte ich einmal die Freude, den geistvollen, sprachkundigen und sportlich gestählten Obst.v.Reichenau mit Gemahlin als Gäste bei uns zu sehen. Bei solchen Gelegenheiten vermied ich Gesprächsthemen anzuschneiden, die von deutschen Offizieren als Aushorchung gedeutet werden konnten; vielmehr lag mir daran, vertrauensvolle, kameradschaftliche Beziehungen anzubahnen. Reichenau erzählte mir damals aus eigenem Antrieb, wie er mit dem Reichskanzler Hitler in Verbindung gekommen war.
Blomberg befehligte den ostpreußischen Wehrkreis I, v.Reichenau amtierte als dessen erster Generalstabsoffizier; die Seelsorge lag in den Händen des evangelischen Wehrkreispfarrers Müller. Selbst in der nationalsozialistischen Bewegung stark verankert, legte Pastor Müller den beiden immer wieder nahe, sie möchten sich doch einmal über die von Hitler verfolgten Ziele durch diesen persönlich informieren lassen. Schließlich ermächtigten beide Herrn den Pastor, Herrn Hitler zu ihnen nach Königsberg einzuladen. Hitler kam und entwickelte vor Blomberg, Reichenau und einigen höheren Offizieren in einer langen Rede seine Auffassungen über das Verderbliche des Versailler Friedensvertrages, über die Notwendigkeit sich von dieser Fessel zu befreien, die daraus folgende innerpolitische Befriedung Deutschlands zu finden und die diesem im Konzert der Großmächte gebührende Stellung wieder zu gewinnen. Gen.v.Blomberg, selbst als militärischer Vertreter deutscher Interessen bei der Abrüstungskonferenz in Genf gewesen, hatte dort die Intransigenz und Impotenz der Westmächte und damit die Aussichtslosigkeit irgendwelcher Lagebereinigung durch den Völkerbund erlebt, so daß Hitlers programmatische Darlegungen ihn stark beeindruckten. Er habe Hitler darauf die Frage gestellt, wie sich dieser bei Verwirklichung seines Programms zur Reichswehr stellen würde. Der habe bescheiden geantwortet, daß er sich vollkommen klar darüber sei, ohne Hilfe und Vertrauen der Reichswehr keinerlei praktische Erfolgschancen zu haben; einmal zur Macht gelangt, würde er daher die Reichswehr als einzigen Waffenträger im Reich mit denkbar größtem Aufwand an Mitteln zum nicht nur innenpolitisch entscheidenden Kraftfaktor ausbauen, sondern durch weitere Steigerung der militärischen Vorbereitungen in allen Bereichen Deutschland in der Welt wieder eine solche Geltung geben, daß keine Entscheidung ohne oder gar gegen Deutschland getroffen werden könne; abschließend habe er v.Blomberg um sein Vertrauen gebeten; er würde, zum Reichskanzler bestellt, die gesamte militärische Gewalt in seine Hände legen. Dem haben Gen.v.Blomberg und Obst.v.Reicheau zugestimmt und Hitler ihrer Hilfe versichert. Tatsächlich habe dann Hitler 1933 beide Herren an die Spitze der Wehrmacht berufen. Reichenau, aus der Kinderstube eines deutschen Gesandten erwachsen und von imponierendem Auftreten, das sich auf Fremdsprachenbeherrschung stützte, sagte mir abschließend, daß es gar nicht leicht sei, den „Elan des Führers” auf den konservativen Geist der Wehrmacht zu übertragen.
Das deutete Spannungen an, die von den verschiedenen Waffenattachés auf verschiedenen Wegen verfolgt, die allgemeine Deutung fanden, daß größere Änderungen in den Personalbesetzungen bevorstünden, wobei Reichenau unterschoben wurde, daß er den Posten des Oberbefehlshabers des Heeres anstrebe. Ob und inwieweit das richtig war, habe ich nie in Erfahrung bringen können. Obst.v.Reichenau hatte jedenfalls als Chef des neu gebildeten Wehrmachtsamtes, von dem Heer und Marine ganz, die Luftwaffe soweit Görings Eitelkeit es zuließ, abhingen, eine überragend einflußreiche Stellung und einen umfassenden Wirkungskreis, der seiner Kraftnatur reichlich Betätigung in entscheidender Größe gewährte.
Im Oktober 1933 erfolgte der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund, ein Ereignis, das ich trotz der selbst erlebten Unfähigkeit dieser Institution für den ersten Schritt eines verhängnisvollen deutschen Weges hielt. Das Land war in dieser Entscheidung Japan gefolgt.
Für den Spätherbst war ich nach Zürich zur Hundertjahrfeier der Schweizer Offiziersgesellschaft geladen. Nach meinen Erfahrungen bei den Manövern war ich mir sicher, daß dieses die ganze Schweiz bewegende Ereignis in der Presse ein starkes Echo finden werde. Und ich hatte erfahren, wie scharf eine erdrückende Übermacht der Schweizer den Nationalsozialismus ablehnte. In diesem Rahmen hielt ich es für zweckmäßig, den durch Bundeskanzler Dollfuß vertretenen österreichischen Freiheits- und Unabhängigkeitswillen betont zum Ausdruck zu bringen. Daher beantragte ich in Wien ein eindrucksvolles Geschenk der Offiziere der österreichischen bewaffneten Macht an die Schweizer Offiziersgesellschaft, das mir auch in Form einer kunstvollen Statuette übermittelt wurde. Am 26.November habe ich in Zürich den erstrebten Zweck erreicht; dabei freute mich die Anwesenheit des deutschen Militärattachés, denn dieser konnte das Echo, welches Österreichs Freiheitswille fand, deutlich wahrnehmen.
Mitte Dezember fuhr ich nach Wien, um mich bei GO.Schönburg zu melden und über meine ersten Eindrücke in Berlin und in der Schweiz zu berichten. Irgendwelche besonderen Aufträge bekam ich nicht. Eine Vorsprache beim Kanzler hielt ich nicht für notwendig, weil sich zu meinen Berichten für ihn kaum etwas zu ergänzendes ergab. Meine Erkundigungen über die innenpolitische Lage Österreichs begegneten fast allgemein einer Verniedlichung des Nationalsozialismus' und Skepsis gegenüber den eigenen Maßnahmen. Ich bemühte mich allen meinen Gesprächspartnern die vorgefundenen Berliner Verhältnisse in ihrer ganzen Verkrampfung und unwahrhaftigen Propaganda aufzuzeigen, doch leider meist ohne Erfolg.
Nun holte ich meine Töchter aus dem Schulinternat, damit sie den Weihnachtsurlaub bei uns in Berlin verbringen konnten. Unsere Ankunft in Berlin ließ mich die vielgerühmte Präzision der Reichsbahn einmal anders erleben: wir standen drei Stunden vor dem Anhalter Bahnhof, ohne die Einfahrt frei zu bekommen. Trotzdem wurde es für die Kinder eine gesegnete Weihnacht voll neuer und wichtiger Eindrücke.
Das Jahr 1934 brachte eine ganze Reihe unglücklicher Ereignisse, die sich entscheidend auf die weitere Entwicklung der politischen und militärischen Verhältnisse auswirkten. In Österreich war es Dollfuß mit Hilfe des Völkerbundes in Genf nicht nur gelungen, eine neue Geldanleihe zu erreichen, die zur infamen Hetze gegen den Kanzler seitens der Sozialisten und Nationalsozialisten führte, sondern auch endlich die Hemmnisse gegen eine vernünftige Entwicklung des Bundesheeres zu durchbrechen. Die große Bedeutung dieser Tat werde ich im nächsten Kapitel zusammenhängend besprechen. Die beiden Leistungen wurden wie jedes Geschehen in Österreich von der deutschen Propaganda selbstverständlich kraß entstellt, um Österreich weiter verächtlich zu machen, was in steigendem Maß angestrebt wurde.
Fortdauernd war ich bemüht, an die mir maßgeblich scheinenden Generäle heranzukommen, so wie sich der Gesandte um Unterredungen mit zivilen Funktionären bemühte - mit geringem Erfolg. Der Attachéoffizier, dem die Betreuung der ausländischen Offiziere oblag, ein Mjr.Rössing, war verlegen, stets neue Ausreden für die Ablehnung erbetener Empfänge zu erfinden. Als ich ihn einmal unter Hinweis darauf, daß Attachés anderer Mächte doch öfter vorsprechen können, fragte, ob mir eine Sonderbehandlung zukäme, antwortete er mir aufrichtig, die militärischen Stellen hätten den Auftrag, die Behandlung der Militärattachés genau dem politischen Verhältnis Deutschlands zu deren Staaten anzupassen; Litauen und Österreich seien leider die beiden Staaten, denen das geringste Entgegenkommen zu erweisen sei. Das war unangenehm, weil ich dieserart dem Auftrag des Kanzlers, mich um die Besserung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Österreich zu bemühen, nicht entsprechen konnte. Freilich beleuchtete das auch den für mich verblüffenden Umstand, daß das deutsche Heer schon zu diesem frühen Zeitpunkt dem „Führer” hörig geworden war und die aktiven deutschen Generäle nicht mehr wagten, sich unter Berufung auf die Waffenkameradschaft im Weltkrieg dafür einzusetzen, daß dem österreichischen General die ihm gebührende Behandlung zuteil werde.
Wie ganz anders war da das Verhalten der nicht aktiven Herren! GdI.v.Quast und Glt.v.Roeder im Traditionsverband des Kaiser-Franz-GardegrenadierRgt.Nr.2 zeichneten mich bei jeder Gelegenheit, wie sie sich an Kameradschaftsabenden, bei Kranzniederlegungen, Appellen usw. ergaben, ebenso in vornehmer Weise aus, wie dies GdA.Watter bei einem Treffen der Artilleristen und GFM v.Mackensen bei verschiedenen Beerdigungen immer wieder taten. Selbst einflußlos, standen diese ausgezeichneten Männer jedoch den neuen Verhältnissen mit großer Zurückhaltung gegenüber und konnten meinen Bemühungen nicht dienlich werden.
Anläßlich eines kurzen Aufenthaltes in Wien sprach ich im Ministerium für Landesverteidigung vor. GO. Fürst Schönburg hatte den für die militärische Ausweitung des Bundesheeres völlig unverständigen Gen.Schiebel kurz nach der Übernahme des Heeresressorts pensioniert und den zweiten „Heeresverderber”, Dr.Hecht, an das Postsparkassenamt abgeschoben; Gen.Brantner, mein Kriegsschulkamerad, war an die Stelle Schiebels getreten. Mit diesem besprach ich die Möglichkeit der Erhöhung meiner Gebühren. Leider ließen die budgetären Verhältnisse keinen nennenswerten Spielraum offen; man konnte mir lediglich für monatlich 400-500 Schilling eine Schreibkraft zubilligen, als welche ich meine Frau nennen durfte.
Wie infam Veteranen des Krieges im eigenen deutschen Land behandelt wurden, erzählte mir am 28.Januar der österreichische Oberst Nießner, Präsident der Tafelrunde altösterreichischer Offiziere, als er, ganz blau und verschwollen im Gesicht, mich im Gesandtschaftsgebäude aufsuchte. Er war mit vielen deutschen Offizieren und deren Damen im Festanzug Teilnehmer an der jährlichen Gedenkfeier des Geburtstags Wilhelms II. in den Festräumen des Zoos gewesen. Da brach gegen 10 Uhr abends eine SA-Bande in der braunen Uniform in die Festräume ein, warf das Buffet mit all seinen Köstlichkeiten um, zerstampfte Speisen und Getränke mit den Füßen, verprügelte die Teilnehmer, Männer und Frauen, in brutalster Weise. Nießner selbst bekam mehrere Schläge ins Gesicht und war Zeuge, wie ein einbeiniger, schwer kriegsgeschädigter deutscher Oberst in Uniform mit einem Knüttel zu Boden geschlagen wurde und den SA-Leuten empört zurief, daß es eine Schande sei, Invalide aus Schlachten des Krieges derart zu behandeln und als Antwort bekam: „Uns imponieren nur Saalschlachten.” Obst.Nießner forderte Genugtuung für die ihm angetane Schmach.
So wie ich war, ging ich ins nahe Reichswehrministerium und ließ mich bei GM.v.Reichenau melden. Der Attachéoffizier äußerte Bedenken und meinte, die Attachés wären an die Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile gewiesen. Da wurde ich aber aufsässig und verlangte die sofortige Vorlassung bei Reichenau, der der einzige höhere Offizier sei, der den Mut habe, mit mir offen zu sprechen. Ich wurde darauf gleich zu Reichenau geführt, der sich meiner Schilderung des Geschehenen gegenüber anfangs unorientiert zeigen wollte, dann aber meinte, da stecke natürlich wieder Göring dahinter. Zu meiner Forderung auf Genugtuung meinte er ungefähr: Wie ich mir das mit der Genugtuung vorstelle? Das Heer habe mit der SA nichts gemein; und wenn man über die Parteileitung Erhebungen und Feststellungen machen wollte, so weiß doch kein Gefragter etwas, niemand sei verantwortlich, alles aus Provokation der SA entstanden, die spontan gehandelt habe, usw. Das Reichswehrministerium kann auch den eigenen deutschen Offizieren keine Genugtuung schaffen.
Nicht viel anderes hatte ich erwartet; aber dieses Einbekenntnis der Ohnmacht gegenüber der Partei war für meine Überlegungen wertvoll. So wußte ich nun sicher, daß es nicht viel Zweck hatte, bei Generälen vorzusprechen, sondern man an die Parteigrößen heran mußte, worauf ich den Gesandten Tauschitz auch aufmerksam machte. Ich versprach ihm, nun intensiver zu versuchen, an Göring als Oberbefehlshaber der Luftwaffe heranzukommen.
Dennoch war ich begierig, den neuen Oberbefehlshaber des Heeres GdA. Baron Fritsch kennen zu lernen, der Anfang Februar 1934 den ausgeschiedenen Baron Hammerstein ersetzte - er stand im Ruf besonderer Fähigkeit und Charakterstärke. Kurz nach seiner Ernennung wurde ihm unser Waffenattachékorps durch den Doyen, den spanischen Major Beigbeder vorgestellt. Begrüßungs und Gegenrede gaben keine besondere Charakteristik, auch das äußere Bild des neuen Oberbefehlshabers machte keinen überdurchschnittlichen Eindruck.Hingegen hat mich die Persönlichkeit von GdA.Beck, der im Oktober des Vorjahres Chef des Generalstabes geworden war, bei jeder Begegnung durch seinen ausgesprochenen Gelehrtenkopf und sein ruhiges, in allen Äußerungen die Worte sehr sparendes Wesen an den alten Grafen Moltke gemahnt, von dem ich mir durch meine Studien ein Bild gemacht hatte, das Beck nun nach Aussehen, Auftreten und Sprache ganz vergegenwärtigte.
Diese ersten Eindrücke von neuen Männern wurden jedoch bald durch die Schüsse in Linz und Wien zurückgedrängt, mit denen im Februar 1934 der tragische Kampf um die Macht in Österreich ausgetragen wurde. Ich hatte den Ausbruch dieses Kampfes seit vielen Jahren befürchtet und letzten Endes durch die alles eher als demokratische Leitung der sozialdemokratischen Partei schließlich für unausweichlich gehalten. Nun wurde dieser Kampf mit einer Härte ausgetragen, die man im Ausland am „gemütlichen, musischen” Österreicher aus Unkenntnis seiner Geschichte nicht wahrhaben wollte. Für meine Frau und mich bedeutete dies eine große nervliche Belastung aus Sorge um unsere Kinder. Wir saßen viel am Radio, um alle Nachrichten sofort zu hören und atmeten auf, als wieder Ruhe eingetreten war.
Wenig überraschte mich Hitler, der die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mit brutaler Gewalt niedergeschlagen hatte, doch nun gegen die österreichische Regierung und sozusagen für die Sozialdemokraten Stellung bezog, hatte ich ja als Brigadier in St.Pölten zur Genüge beobachten können, wie die Werbung der Nationalsozialisten gerade unter den linksgerichteten Sozialisten und den Kommunisten am intensivsten war; daß aber die Börsenzeitung es unternahm, in diesen Tagen tragischen Kampfes das österreichische Bundesheer als unzuverlässig und mit Teilen zu den Sozialdemokraten überlaufend in Balkenlettern zu diffamieren, das fand ich doch zu arg. Ich versicherte mich durch ein Telephongespräch mit Wien, ausdrücklich, daß das Bundesheer seine schwere Pflicht tadellos versah. Dann ging ich zu Reichenau, dem einzigen Menschen in Berlin, dem ich trotz seiner Hinneigung zur Partei den Mut zutrauen konnte, in deren Verleumdungsorgien einzugreifen. Reichenau war gleich mir über die Schreibweise der Börsenzeitung empört und sagte: „Nein, das Heer wollen wir hüben und drüben aus der Partei heraushalten!”; er versprach, die Börsenzeitung über das Propagandaministerium zu einer Berichtigung ihrer bösartigen Falschmeldung zu zwingen. Tatsächlich erschien am folgenden Tage in der Börsenzeitung eine Notiz, daß ihre Meldung vom Vortag über das österreichische Bundesheeres auf falscher Information beruht habe; diese Notiz erschien freilich nicht an gleicher Stelle und in gleicher Aufmachung wie der gehässige Artikel, sondern ganz unauffällig im Blattinneren. Gegen diese hinterhältige Parteimethodik eines Goebbels konnte auch v.Reichenau nicht aufkommen, worüber er seinem Unmut nicht nur mir, sondern auch Goebbels gegenüber Ausdruck gab. Das wiederum war der Anfang dafür, daß Reichenau später persona non grata bei Hitler wurde.
Die offenkundige und allgemein wahrgenommene schlechte Behandlung Österreichs und seiner Vertretung in Berlin führte zu einer Liebenswürdigkeit und Bevorzugung, besonders meiner Frau und mir gegenüber, durch das diplomatische Korps, das dieserart den Geist der Zusammengehörigkeit in vornehmster Form zum Ausdruck brachte. Das führte im Korps der Militär-, Marine- und Luftattachés dazu, mir nach Ausscheiden des Spaniers Beigbeder das Doyenat anzubieten. Dankbar nahm ich diesen auszeichnenden Akt der Kameradschaft entgegen, bat jedoch, am bisherigen Usus der Reihung nach dem Ernennungstag für Berlin festzuhalten. Dadurch wurde der belgische Generalleutnant Schmitt Doyen.
Einmal im Monat gab das Attachékorps ein Diner im Restaurant Horcher, das wohl seiner Küche wegen als das renommierteste Lokal Berlins galt, in seinen Räumlichkeiten jedoch so beschränkt war, daß Empfang, Diner und Cercle nach Tisch sich im gleichen Raum abspielen mußten. Zu diesen Diners waren abwechselnd vier bis fünf deutsche Generäle, Admirale und Stabsoffiziere geladen, die hier auch erschienen, im Gegensatz zum Refus auf Privateinladungen. Bei Horcher wurden die Gäste in formellen Ansprachen begrüßt, aber auch die jeweiligen Veränderungen im Attachékorps durch Reden gewürdigt. Zwanglos wurden bei Tisch oft militärische Fachfragen in allgemeingültiger Form besprochen und dabei deutsche Stellungnahmen gerne gehört; man vermied jedoch, die deutschen Herren durch direkte Fragestellungen in Verlegenheit zu bringen.
Im Laufe des Winters war übereinstimmend der Eindruck gewonnen worden, daß Deutschland mit einer Aufrüstung größten Stiles begonnen habe. Während die Meinungen über die Ziele solcher Rüstungen noch geteilt waren, weil die deutschen Offiziere immer wieder betonten, daß die Rüstung nur so weit vorgetragen würde, als es das Rüstungsgleichgewicht in Europa erfordere, war ich - vielleicht auch durch die Intuition meiner Frau bestimmt - felsenfest überzeugt, daß Hitler und Konsorten einem Kriegsgeschehen zustrebten, das wahrscheinlich in einen Weltkrieg münden werde. Zum Tempo der Rüstung bildete sich im Kreise jener Attachés, mit denen ich in besonders freundlichem Verhältnisse stand, allmählich die Meinung, daß die Jahre 1933 und 1934 als Anlaufjahre für die Industrie und die Organisationspläne der Wehrmacht gelten konnten, an die sich zwei zweijährige Rüstungsabschnitte schließen würden, so daß mit Ende 1938 oder Anfang 1939 mit einem kriegerischen Auftreten Deutschlands gerechnet werden müsste. Die dann tatsächlich eingetretenen Ereignisse haben die Richtigkeit unseres aus hunderten kleinen Anzeichen zusammengetragenen Kalküls bewiesen.
Die Beurteilung alles übrigen Geschehens in Deutschland war geteilt: während mehrere Diplomaten und Attachés, besonders deren Frauen, von Hitler und allen seinen Maßnahmen hell begeistert waren, gehörte ich zu jenen, die alles sehr kritisch betrachteten, über die lügenhafte Propaganda und so vieles, das Recht einfach beiseite schiebende Geschehen entsetzt waren und immer mehr um Europa bangten. Ich fühlte mich in Hitler-Deutschland äußerst unbehaglich und war für jeden sich mir bietenden Anlaß dankbar, in der Schweiz Erholung und den Glauben an Recht, Moral, Anständigkeit und Zuverlässigkeit wiederzufinden. Der zuständige katholische Pfarrer in Berlin, den wir einmal zu Tisch gebeten hatten, fand hingegen alles gut und richtig. Die tapferen Worte der Bischöfe Graf Galen, Faulhaber, Preysing und die Predigten des Pastors Niemöller bestärkten mich freilich in meiner tief mißtrauischen Grundhaltung.
Dazu kamen noch überaus scharfe und harte Äußerungen einzelner Mitglieder des diplomatischen Korps; so sagte mir der amerikanische Generalkonsul Messersmith bei jeder Gelegenheit: „Das ist schlimmste Unterwelt; das sind reine Verbrecher, die heute in Deutschland an der Macht stehen; lassen Sie sich in Österreich von diesen Gesellen ja nicht kleinkriegen; halten Sie durch! Ich weiß ganz bestimmt, daß Präsident Roosevelt mit der ganzen amerikanischen Macht hinter Ihnen stehen wird!”, und der amerikanische Luftattaché Obst.Wuest meinte kopfschüttelnd: „Wo man hinsieht, überall nur Gewalt und Vergewaltigung; es gibt in Deutschland keine freien Menschen mehr.” Ganz furchtbar war die Meinung des englischen Luftattachés Obst.Herring. Als wir bei einem Empfang in der russischen Botschaft Frau Herring neben ihrem Gemahl unter der Büste Lenins sitzend fanden, sagte meine Frau lachend zu Frau Herring: „Na, einen anderen Platz hätten Sie sich nicht finden können; muß es gerade im Schatten Lenins sein?”, worauf Frau Herring erwiderte: „In Berlin ist es doch völlig gleich, wo ich sitze; immer und überall die gleiche Unfreiheit!” Darauf wandte ich mich an Herring und meinte, daß das doch etwas übertrieben sei. Und da sagte dieser zu mir: „Oh no! Denken Sie nur über ihre österreichische Geschichte nach. Ihr übelwollendster Feind war immer Deutschland, und als Preußen die Führung bekam, wurde es noch schlimmer. Ihr Einwand, daß das Volk gut sei, stimmt nicht; jedes Volk hat die Männer in Führung, die es liebt und verdient; so auch jetzt wieder Hitler. Wissen Sie, die Deutschen sind eine schlechte Rasse, die ausgetilgt gehört. Zuchtfehler in der Tierwelt läßt man aussterben, so muß es mit den Deutschen geschehen!” Auf meine scharfe Erwiderung, daß das denn doch zu weit ginge, erwiderte Herring lakonisch: „Sie werden noch an mich denken! Ihr Österreicher werdet bald wieder den ganzen deutschen Haß zu spüren bekommen.” Nicht viel anders dachte mein belgischer Kamerad Schmitt; und auch die Holländer und Nordländer äusserten in milderen Worten das Gleiche.
Auch mein ungarischer Kollege, Obstlt.v.Miklos, der an sich bevorzugt behandelt wurde, weil die deutsche Politik mit Ungarn rechnete, war dauernd von der deutschen Überheblichkeit und dem Rassendünkel verstimmt. Als er über Budapester Weisung keine engere Zusammenarbeit mit mir durchführen durfte, meinte er, seine Budapester Vorgesetzten in ihrer Deutschland-Bewunderung einfach nicht begreifen zu können.
Im März 1934 reiste meine Frau zu ihrem schwer erkrankten Vater, zuerst an den Balaton und dann nach Debrecen.
Mich hatte der Schweizer Generalstab zu einem sechswöchigen Besuch aller Instruktionskurse eingeladen. Es war ein wunderbares Aufatmen, als ich die freie Bergluft wieder in meinen Lungen spürte. Ich sah den Infanteriekurs in Liestal und die unter dem überragenden Obersten Constane stehende Infanterie-Schießschule in Walenstadt, die Ausbildung der leichten Artillerie in Frauenfeld und jene der schweren in Kloten, der Flieger in Dübendorf und schließlich einen taktischen Offizierskurs in der herrlichen Bergwelt südlich von Château d'Oex und Saanen. Überall prächtiges urtümliches Soldatentum am Werk, mit großem Können und beneidenswertem Opfersinn. Es waren Tage reiner Freude und seelischer Erholung, die ich in diesem wunderbaren Land verbringen konnte und die mir auch militärisch sehr viel brachten. Dort begann ich nachzudenken, wie sich Österreich des sicher zu erwartenden Angriffs von Hitler werde erwehren können.
Nach meiner Rückkehr erbat ich eine Vorsprache beim Chef des Generalstabes des Heeres, GdA.Beck, unter der Angabe, daß mich dessen Anschauung über die Motorisierung im allgemeinen und besonders der Artillerie interessiere, die ich in Österreich sehr vertreten hatte. GdA.Beck empfing mich im Beisein eines jüngeren Offiziers, der sich an der Unterhaltung nicht beteiligte. Das war allgemein Sitte geworden uzw. nicht nur mir gegenüber: man brauchte anscheinend einen Zeugen für den Ablauf der Unterhaltung. Hinsichtlich der Motorisierung zeigte sich GdA.Beck recht unbestimmt; er äußerte, daß dazu noch viele Studien und Erprobungen erforderlich seien, bevor man sich entscheiden könne. Meine Frage, ob er unseren geländegängigen Sechsrad-Steyr-Wagen kenne, der sich in Österreich hervorragend bewähre und auch im Ausland überall gefalle, so daß Rumänien bereits eine namhafte Zahl solcher Wagen bestellt habe, verneinte General Beck. Als ich nun zum eigentlichen Thema meines Besuchs kam und der Meinung Ausdruck gab, daß es doch erstrebenswert wäre, wenn Deutschland und Österreich wenigstens in technischen Belangen zusammenarbeiten würden, was sich auch zugunsten einer Abschwächung der gegenwärtigen politischen Spannungen auswirken könnte, und ob ich den Sechsrad-Wagen zu Vorführungszwecken nach Deutschland kommen lassen solle, verharrte Beck zunächst schweigend und sagte dann, daß dies Sache der Techniker wäre. Er hatte meinen zur Beeinflussung der Politik zugespielten Ball nicht aufgenommen. Ein Weiterspinnen der Unterhaltung war damit für mich uninteressant geworden und ich empfahl mich mit kurzem Dank für die gewährte Vorsprache.
Ganz gleich erging es mir mit GdA. Fritsch, der alle Militärattachés zu einem „Bierabend” in seine Dienstwohnung geladen hatte. Die Militärattachés wurden vom Adjutanten planmäßig an den kleinen Tisch des Oberbefehlshabers gebeten. Fritsch stellte an mich die Frage, wie ich mich in Berlin fühle. Darauf erwiderte ich, daß ich mich bedrückt fühle, weil ich mit dem mir von Dollfuß auf den Weg gegebenen Auftrag, unserem Gesandten zu helfen, zwischen Österreich und Deutschland wieder ein vernünftiges Verhältnis herzustellen, nicht näher kommen könne, denn von meinen alten deutschen Kameraden aus dem Weltkrieg sei niemand mehr aktiv und sonst begegne ich keiner Hilfsbereitschaft von deutscher Seite. Fritsch verschob nun das Thema sofort auf den Weltkrieg und unsere damaligen Diensteinteilungen, wodurch diese Unterhaltung gewiß anregend, aber für mich nicht zielführend geworden war. Bald darauf wurde ein anderer Attaché zu Fritsch gebeten.
Um diese Zeit wurde meinem tit „Militärattaché” die Bezeichnung „und Luftattaché” angefügt. Nun bot sich mir der erwünschte Anlaß herauszufinden, ob sich mit den aufgeschlosseneren Fliegeroffizieren, die zumeist aus Zivilberufen kamen, leichter zu zielführenden Gesprächen kommen ließ. Der Attachéoffizier Mjr.Hanesse war ein Mann am rechten Platz: intelligent, lebhaft, mit ausgezeichneten Umgangsformen, hilfsbereit; Ministerialrat Arndt ebenso mit seiner besonders hochstehenden Frau. Beide kamen gern in unser Haus und wir zu ihnen; die Sympathien blieben über die spätere Trennung hinaus bestehen. Der hochbegabte General Wewer, den ich aus dem Weltkrieg kannte, fiel leider bald einem Flugzeugunglück zum Opfer. Dann gab es die männlich so sympathische Erscheinung Wenigers, des erfolgreichen U-Bootkommandanten aus dem Weltkrieg. Auch mit dem effektiven Leiter des Flugwesens, Gen.Milch, ließ sich gut reden, ja dieser wollte mich sogar zur Luftwaffe hinüberziehen. Aber um in politicis vorwärts zu kommen, da hatte es noch eine gute Weile. Göring, bei dessen Hochzeit in der Kirche wir anwesend sein und dessen phantastisch reiche Hochzeitsgeschenke ansehen durften, entzog sich jedem Gespräch mit Österreichern so wie alle anderen Parteigrößen, mit Ausnahme des Reichssportführers v.Tschammer und Osten, der aber keinen bestimmenden Einfluß hatte.
Am 28.Juni traf mich die Nachricht vom Tode meines Schwiegervaters, FML.László v.Reviczky. Ich fuhr über Wien, wo ich meine Töchter vorzeitig aus dem Internat nahm, mit ihnen zur Beerdigung nach Aba puszta. Die sterbliche Hülle dieses wahren Kämpfers aus dem Weltkrieg wurde auf seinem Gut in eigener Erde zur Ruhe gebettet. Wir blieben noch einige Tage im Haus mit nahen Verwandten beisammen, als uns völlig überraschend die Nachricht von der Ermordung des SA-Führers Mjr.Röhm und in deren Gefolge eine ganze Serie von Erschießungen in Berlin und München erreichten. Da eilte ich mit Frau und Kindern unverzüglich nach Berlin zurück, um zu sehen und zu hören, was es gegeben hatte.
Viel Positives war aber in Berlin nicht zu erfahren. Der Ablauf, wie er heute in einer Reihe von Publikationen geschildert wird, konnte damals nicht ausreichend geklärt werden. Die Offiziere im Reichswehrministerium waren durchwegs betreten und auch verlegen, als aus den Wohnungen der SA-Größen, so auch aus jener in meiner nächsten Nähe, viel Munitionskisten beschlagnahmt und abtransportiert wurden. Die berüchtigte Reichstagsrede Hitlers wurde als offizielle Aufkündigung Deutschlands als Rechtsstaat beurteilt, doch das Gefühl der Unsicherheit unter unseren deutschen Freunden wirkte auch auf uns Ausländer beklemmend. Der neue SA-Führer Lutze wurde im Reichswehrministererium als ein „ganz ordentlicher Mann” bezeichnet.
Am 11.Juli war in Wien Fürst Schönburg als Minister für Landesverteidigung zurückgetreten und der bisherige Kommandant der 4.Linzer Brigade GM. Wilhelm Zehner zum Staatssekretär für Landesverteidigung ernannt worden, während sich Dr.Dollfuß die Ministerschaft und damit bestimmenden Einfluß auf das Heerwesen selbst vorbehielt. Die Ursache des Wechsels war mir damals nicht klar und ich bedauerte, daß eine so prominente Persönlichkeit, wie es GO. Fürst Schönburg gewesen war, nicht mehr die Spitze des Heeres verkörperte. GM.Zehner war mir nur flüchtig bekannt; militärisch war er bisher in keiner Weise hervorgetreten. Warum die bedeutend dienstälteren Generäle Schilhawsky, Luschinsky, Brantner, die durchwegs höchste militärische Ausbildung genossen und sich in Krieg und Frieden bewährt hatten, zurückgesetzt worden waren, blieb mir unverständlich. Der Gesandte Tauschitz, der bei der Umbildung des Ministeriums in Wien weilte, weil angesichts der nicht abreißenden, offenkundig von Deutschland aus geleiteten nationalsozialistischen Terrorakte eine Zeitlang in Erwägung gestanden war, den Berliner Gesandtenposten durch seine Ernennung zum Minister für Auswärtige Angelegenheiten unbesetzt zu lassen, kehrte wieder zurück. Er brachte mir die Nachricht, daß es sich nur um Haaresbreite gehandelt habe, daß ich als Heeresminister ins Ministerium berufen worden wäre. Warum das im letzten Augenblick auf Zehner umgebogen worden war, konnte er nicht sagen.
Tauschitz und ich waren jedenfalls zufrieden, daß unsere vertrauensvolle Zusammenarbeit auf dem so schwierigen Berliner Boden ungestört weiterlaufen konnte; denn wir teilten die begründete Erkenntnis, daß das Schicksal Österreichs in nächster Zukunft von Berlin aus entschieden werden würde. Daß diese Entscheidung die österreichische Freiheit und Unabhängigkeit nicht zerstören sollte, darauf war unser gemeinsames Bemühen gerichtet.
Für den weiteren Sommer begann ich einen geeigneten Aufenthalt für meine Familie zu suchen. Die in Berlin aufliegenden Prospekte wiesen mich nach Rostock und ähnliche mehr; schwer enttäuschte mich der geringe Komfort, der in diesen Bädern außerhalb der uns zu teuren Hotels geboten wurde. Nach langem Suchen fand ich endlich im Ostseebad Heringsdorf drei Zimmer mit Küchenbenützung in einer schon nahe Ahlbeck gelegenen Strandvilla, die ich für die Monate Juli und August fest mietete.
Einen Verlust brachte uns der Aufenthalt in Heringsdorf allerdings: der dortige Villen- und Pensionsbesitzer hatte sich in unser geschicktes, hervorragend kochendes Dienstmädchen so verliebt, daß er sie noch im gleichen Herbst ehelichte. Grete kam mit meiner Familie gerade noch zurück nach Berlin, trat dann bald ihren Urlaub nach Herzogenburg an, von wo sie direkt zur Eheschließung nach Heringsdorf fuhr.
Ich folgte der Einladung des Generalstabs zur Übung des Inf.Rgt.Nr.17 des Wehrkreis' 6 auf den Truppenübungsplatz Altengrabow in der Mark Brandenburg. Wenn ich gehofft hatte, schon etwas an neuen Waffen zu sehen, so wurde ich enttäuscht. Es war das übliche verstärkte Infanterieregiment, das auf dem trostlos öden Übungsplatz eine Übung mit Gegenseitigkeit in der mir gut bekannten Art durchführte.
Bei diesem kleinen Manöver hatte ich Gelegenheit, mit GdA.Beck, der dauernd von einem in Hörweite sich mitbewegenden Adjutanten begleitet war, ins Gespräch zukommen. Natürlich schnitt ich sofort das bestehende ungute Verhältnis zu Deutschland an und knüpfte daran mein Bedauern, mit dem „Führer” nicht selbst ins Gespräch kommen zu können. Ich hoffte von Beck in irgendeiner Form eine Vermittlungsbemühung für ein solches Gespräch zu hören; er sagte aber nur: „Ja, man muß zugeben, daß der Führer einen sehr guten militärischen Blick und großes Interesse an allen militärischen Fragen hat.” Dann erzählte mir Beck, um in solcher Form seiner Sympathie für Österreich Ausdruck zu geben, daß er in Mainz aufgewachsen sei, wo sein Vater im Dienst gestanden war, als Mainz eine deutsche und eine österreichische Garnison hatte. Er erinnere sich sehr genau, wie gut sein Vater von der Haltung und Kameradschaft der österreichischen Truppen gesprochen habe und wie schön ihm diese Zeiten in Erinnerung geblieben seien. Das war die ganze magere Ausbeute der Unterhaltung, die sich auch durch das von der Heeresleitung den Attachés gegebene Abendessen nicht erweiterte.
Nach dem 20.Juli fuhr ich zum Schweizer Bundesschießen nach Bern. Dort war an Stelle des von mir sehr verehrten Gesandten Herzfeld ein Herr Schmid (nicht der spätere Außenminister in der Regierung Schuschnigg) getreten, dessen geistvoll energische Gemahlin, Tochter eines Dragonerobersten, bestes Österreichertum repräsentierte. Ich hatte die Freude, in ihrem Hause mit dem auf einer Orientierungsreise befindlichen Präsidenten der Bundesbahnen Karl Vaugoin zusammenzutreffen, der die Lage in Österreich wohl als schwierig, aber durchaus nicht als reif für den Nationalsozialismus bezeichnete. Sonst schien er mir in Beurteilung von Dr.Dollfuß zurückhaltend und schloß unsere Unterhaltung mit der recht laut für mehrere Besucher hörbaren Meinung, daß er es gerne gesehen hätte, wenn Dollfuß das Landesverteidigungsministerium in meine Hände gelegt haben würde. Ich dankte ihm für diese Wertschätzung, die meine Position in der Schweiz und möglicherweise auch in Berlin unterstrich und bedeutsamer gestaltete.
Dann orientierte ich mich über die Vorbereitungen für das Bundesschießen, das mir völlig neu war. Wie stets sprach ich bei den Waffenchefs und im Generalstab vor, besonders bei dessen Chef Obst.Korpskdt.Roost, mit dem sich allmählich eine sehr aufrichtige, ich möchte sagen freundschaftliche Beziehung angebahnt hatte. Von ihm erfuhr ich, daß Vorbereitungen im Gang seien, an der Nordgrenze der Schweiz Befestigungen und die Aufstellung von aktiven Formationen in die Wege zu leiten, weil die Sorge vor einer nationalsozialistisch-deutschen Aggression die Schweiz beunruhige. Natürlich wurden die letzten Ereignisse in Deutschland besprochen, und Roost meinte abschließend, daß sich Diktaturen auf die Dauer nicht halten können, weder in Deutschland, noch in Italien; seherisch sagte er zu mir: „Wir werden den Zusammenbruch dieser Systeme in beiden Staaten noch erleben!”
Gerade als wir uns verabschieden wollten, brachte ein Diener ein Telegramm, wonach in Wien eine Revolte ausgebrochen und auf Bundeskanzler Dollfuß ein Attentat verübt worden sein sollte. Übereinstimmend waren wir der Meinung, daß es sich nur um einen nazistischen Anschlag handeln könne. Ich empfahl mich rasch und eilte in die nahegelegene österreichische Gesandtschaft, um Näheres zu erfahren. Es war Nachmittag, der Gesandte schon in seiner Wohnung; nähere Nachrichten fehlten. Ich rief das Ministerium für Landesverteidigung in Wien an, wo ich nur den Budgetreferenten, Oberst-Intendanten Jantsch, erreichen konnte: „In Wien noch ungeklärte Lage; Bundeskanzleramt von Truppen des Heeres zerniert; Dr.Dollfuß soll schwer verwundet, vielleicht auch schon tot sein; Anschlag auf Rundfunkzentrale in der Johannesgasse vereitelt; in Wien Ruhe! Nur in Steiermark und Kärnten nationalsozialistische Demonstrationen.”
Ich rief Schmid an, der mit dem Wiener Außenamt keine Verbindung bekommen hatte und dem meine Mitteilung neu war. Er bat mich, in seine Wohnung zu kommen. Als ich dort eintraf, war Schmid sehr ernst, seine arme Frau schluchzte in einem Weinkrampf aus echtem Zorn, daß man da untätig sitzen mußte und Wien nicht helfen konnte. Ich rief Berlin an. Tauschitz wußte nicht mehr als ich, teilte aber mit, daß man in der Wilhelmstraße sehr kleinlaut und verschüchtert sei; die deutsche Presse schreibe von einem kommunistischen Aufstand. So blieb uns nichts übrig als zu warten. Nach einer Weile schaltete Schmid den Radioapparat ein, und bald darauf kamen die ersten Ansagen aus Wien mit der Mitteilung vom barbarischen, jeder Zivilisation Hohn sprechenden Mord an Kanzler Dollfuß.
Das stille, ruhige Bern schien merklich erregt. Es begannen Anfragen mit Kondolenzen zu wechseln, bis schließlich die allgemein gewordene Empörung spontanen Ausdruck fand. Unter Eindruck der Trauernachricht schlug ich Schmid vor, unsere Teilnahme am Fest des Bundesschießens abzusagen; ich wolle sogleich nach Berlin zurück, wo ich wichtiger sei als in Bern. Schmid war einverstanden. Ich sagte telephonisch meinen militärischen Freunden Adieu und bestieg noch in der Nacht den Zug nach Berlin.
Kaum hatte ich meine Wohnung betreten, als schon das Telephon schrillte: meine Frau erklärte erregt aus Heringsdorf, sie wolle absolut nicht länger unter „Mördern” wohnen, sie wolle weg von Heringsdorf und zurück nach Österreich! Ihr Schmerz über den Tod des Kanzlers war echt und ungekünstelt. Ich freute mich, daß sie aus unserem sicher unter deutscher Kontrolle stehenden Telephon so tapfere Worte gesprochen hatte. Doch bat ich sie um Geduld, ich sei gerade erst angekommen.
Am folgenden Tag besprach ich mich mit Tauschitz. Von der neuen Regierung unter Schuschnigg war der Auftrag gekommen, ruhig auf unseren Posten zu bleiben. Alle Nachrichten aus Wien waren - bis auf das ungeschickte Eingreifen des deutschen Gesandten Rieth und dessen sofortiger Abberufung und Ersetzung durch Herrn v.Papen - zu unbestimmt, um irgendwelche offiziellen Schritte zu unternehmen, wenn auch auf Grund der Indizien niemand von uns zweifelte, daß das ganze Mord- und Putscharrangement von Deutschland aus geleitet worden war.
Seinerzeit hatte ich von einem im deutschen Außenamt tätigen Herrn v.Bülow die Meinung gehört, daß ich sicher sein könne, daß alles was ich mit Gen.v.Reichenau bespreche, der „Führer” noch am Abend desselben Tages zu hören bekomme. Diese Äußerung und der Umstand, daß mich Reichenau in der Regel ohne Beisein eines Adjutanten empfing, daß aber die Tür zu einem Nebenraum offen stand und mir ab und zu ein leises Surren aufgefallen war, ließ mich vermuten, daß unsere Gespräche auf einer Platte oder einem Tonband festgehalten wurden, die möglicherweise an Hitler gelangten. Darum wollte ich bei meiner nächsten Vorsprache noch deutlicher werden als bisher. Aber die Klarstellungen in Wien und deren Mitteilung an uns verzögerten sich, also blieben wir im Wesentlichen auf den Rundfunk angewiesen.
In diese vom tragischen Geschehen in Wien verdüsterte und von der deutschen Propaganda verzerrte Zeit schlug am 1.August die Nachricht vom Tod des Reichspräsidenten v.Hindenburg. Gleich für den folgenden Tag meldete ich mich zur Beileidsaufwartung bei Gen.v.Blomberg an. Ich wurde von ihm mit großer Liebenswürdigkeit empfangen. Er meinte spontan, daß wir uns gegenseitig Beileid zu sagen hätten, und fragte dann , ob ich schon gehört hätte, daß Gen.Ludendorff sich strikt geweigert habe, auf seiner Villa in München die Flagge auf Halbmast zu setzen. Ich bejahte. Darauf sagte Blomberg zu mir, daß gegen Ludendorff in keiner Weise vorgegangen werde, weil man seinen Geisteszustand nicht als normal ansehen könne.
Von Blombergs Adjutanten erfuhr ich, daß über die Beisetzungsfeierlichkeiten noch keine endgültigen Entschlüsse gefaßt worden waren. Ich erwähnte, daß ich nicht an der gemeinsamen Beileidskundgebung der Waffenattachés teilnehmen werde, weil ich es für richtig hielt, namens des österreichischen Heeres, das Traditionsträger der kaiserlichen Armee sei, und eingedenk der Tatsache, daß GFM.Hindenburg eine zeitlang gemeinsamer Oberbefehlshaber gewesen war, sofort, in besonderer Vorsprache das Beileid Österreichs zu vermitteln. Der Adjutant erwiderte, daß Minister v.Blomberg meine rasche Vorsprache mit besonderer Freude als Beweis aufgenommen habe, daß in Österreich der Sinn für die alte Waffenkameradschaft weiterlebe. Auf unsere Gesandtschaft zurückgekehrt, fand ich die Nachricht, daß Österreich eine Offiziersabordnung unter Führung des GO. Fürsten Schönburg zu den Trauerfeierlichkeiten entsende und dieser anfrage, wann er in Berlin eintreffen solle. Wirklich, nobler konnte Österreich nicht handeln.
In mehrfachen Rücksprachen mit Attachéoffizier Mjr.Rössing konnte festgestellt werden, daß die Beisetzung des Reichspräsidenten GFM.v.Hindenburg am 7.August im Mahnmal der Schlacht von Tannenberg erfolgen werde, daß Diplomaten und besondere Abordnungen am 6. abends mit einem Sonderzug nach Hohenstein gebracht würden und daß der 5. abends oder der 6. morgens der richtige Ankunftstermin für Fürst Schönburg wäre, für den, als Gast der Reichsregierung, im Hotel Eden das Absteigquartier bereitgestellt würde. Hingegen bedurfte es meiner wiederholten nachdrücklichen Intervention, damit dem Generalobersten und Armeeführer im Weltkrieg ein deutscher Generalstabsoffizier als Adjutant beigegeben, er am Bahnhof von einem General offiziell begrüßt würde und bei der von mir nach der Trauerfeier in Tannenberg vorgesehenen offiziellen Ehrung der Gefallenen des Weltkrieges durch eine Kranzniederlegung im Berliner Ehrenmal der Fürst durch Ausrückung einer Ehrenkompagnie mit Fahne und Musik besonders ausgezeichnet würde. Das alles konnte der Reichskriegsminister erst nach Vortrag bei Hitler erwirken.
Für interessierte Sachverständige in Uniformfragen möchte ich hier folgende Einzelheit einschalten: Bei der Wiederverleihung der altösterreichischen Uniform an das Bundesheer hatte man den in der kaiserlichen Zeit für die Truppen in Bosnien-Hercegovina gültigen Brauch übernommen und die Paradekopfbedeckungen nicht wieder eingeführt. So hatte ich in Berlin wohl die schwarze Hose mit den roten Lampassen und den hechtgrauen Waffenrock der Generäle, nicht jedoch den Hut mit dem grünen Federbusch, sondern nur die schwarze Kappe. GO.Schönburg telephonierte mir, daß er in der vollen Campagne-Uniform der kaiserlichen Zeit, also mit Feldbinde, Federhut und den Ordens-Großkreuzbändern kommen werde; ich müsse daher auch im Federhut erscheinen. Tatsächlich brachte mir seine Begleitung einen solchen mit, den ich - einmal damit in Berlin erschienen - für die ganze Dauer meines dienstlichen Aufenthaltes in Berlin bei allen festlichen Anlässen trug. Dieserart war ich der einzige General des Bundesheeres, der im kompletten Generalsanzug der k.u.k. öst.-ung. Armee erscheinen durfte, was sich bei offiziellen Anlässen gut auswirkte, da die Engländer und Franzosen auch die traditionellen Paradekopfbedeckungen beibehalten hatten. Die besonders uniformfreudigen Berliner bemerkten es gern, wenn bei besonderen Anlässen, die meist Begräbnisse waren, der greise FM.v.Mackensen mit dem gold- und rotbetressten Kalpak seines alten Leibhusarenregimentes erschien und knapp hinter ihm ich in schwarzer Hose mit rotem Lampaß, hechtgrauem Rock und Hut mit lichtgrünem Federbusch, rechts von mir der französische Général Renondeau mit roter, goldbetreßter Hose, dunkelblauem Waffenrock und goldbortiertem Zweispitz, links der englische Colonel Thorne mit weißer Hose in schwarzen Lackstiefeln, rotem Rock und Zweispitz mit weißem Federbusch gingen.
Am Ankunftstag kamen Fürst Schönburg und Begleitung vom Anhalter Bahnhof direkt in meine Wohnung und nahmen das erste Frühstück ein, das meine von Heringsdorf herbeigeeilte Frau nach ungarischem Brauch reich gedeckt hatte; ebenso das abendliche Diner, zu dem auch der Gesandte mit den beiden Legationsräten geladen waren. Fürst Schönburg hatte den Vater meiner Frau von den Kämpfen am Monte San Michele, Monte Santo und Monte Gabriele gut gekannt und fühlte sich in unserem Haus sichtlich wohl. Er erzählte mir, daß seine geistige und physische Spannkraft nicht mehr ausgereicht habe, um der Stellung des Landesverteidigungsministers voll zu genügen; er habe darum dem Kanzler Dollfuß selbst seine Enthebung beantragt, aber auf die Bestellung seines Nachfolgers keinen Einfluß genommen. Er stimmte mit mir überein, daß man in den nationalsozialistischen Leitungskreisen die Fähigkeiten und das mitreißende Temperament von Dollfuß erkannt hatte und seine Ermordung deshalb gewollt und genau vorbereitet worden war. Der österreichische Sicherheitsdienst hätte schwer versagt, das Heer hingegen in guter Haltung sowohl in Wien, als auch bei den Kämpfen in Steiermark und Kärnten voll entsprochen. Er war gleich mir der Überzeugung, daß Österreich sich auf gar keinen Fall „gleichschalten” lassen dürfe, und sprach die Hoffnung aus, Dr.Schuschnigg möge die Politik der Freiheit und Unabhängigkeit Österreichs mit gleicher Energie weiterführen. Schönburg hoffte zudem, daß sich mit Hitler letztlich ein gutes Arrangement werde finden lassen. Ich mußte ihm leider antworten, daß ich nach der bisherigen Weigerung aller maßgeblichen Parteigrößen, mit den offiziellen Vertretern Österreichs überhaupt zu reden, sehr düster in die Zukunft blickte, und daß Österreich sich auf einen bewaffneten Widerstand vorbereiten müsse. Diese Auffassung wollte der Fürst nicht wahrhaben. Nach dem Diner fuhren wir direkt zum Bahnhof Friedrichstraße, wo der Sonderzug bereitstand.
Die Beisetzungsfeierlichkeiten in dem eigenartig düster aufragenden Erinnerungsmal an die siegreiche, leider jedoch nicht kriegsentscheidende Schlacht bei Tannenberg war von erhebender Feierlichkeit und Würde. Sie ist in verschiedenen Darstellungen eingehend beschrieben worden.
Eine Episode ergriff mich allerdings: Der greise GFM.v.Mackensen war als Vertreter des im Exil lebenden preußischen Königs erschienen. Er wurde vom deutschen Heer und seiner Leitung mit ausgezeichneter Hochachtung behandelt und - wie mir das Gen.v.Blomberg erzählt hatte - stets noch mit besonders guten Reitpferden versorgt, weil nach preußischen Dienstvorschriften ein Marschall bis zu seinem Lebensende im Aktivstand bleibe. Wohl war ich im I.Weltkrieg bei der zweiten Offensive nach Serbien in der Operationsabteilung des Marschalls eingeteilt gewesen, hätte aber nicht zu hoffen gewagt, daß er sich nach fast 20 Jahren meiner noch entsinnen könnte. Er stand nach der Feierlichkeit in seinem Salonwagen am Fenster, als ich über den Bahnsteig zu unserem Berliner Zug schritt. Da rief mich der Marschall mit Dienstgrad und Namen an; ich trat an sein Fenster. Er beglückwünschte mich zu meinem Aufstieg und begann sofort mit einer verblüffenden Frische sich mit Namensnennungen nach den verschiedenen österreichischen Offizieren zu erkundigen, die damals seinem Stab zugeteilt waren. Ich hatte Mühe, alle seine Fragen richtig zu beantworten. Diese Unterhaltung wurde allgemein wahrgenommen und mit großer Achtung vermerkt; mich erfüllte sie mit freudigem Stolz, denn diese vergangene Zeit zählte zu meinen schönsten Kriegserinnerungen.
Nach Berlin zurückgekehrt, wurden wir verständigt, daß der „Führer” die von auswärts gekommenen Delegationen zu einer Dankaudienz gemeinsam in der Reichskanzlei empfangen wolle. In einem der großen Empfangsräume wurde unter Leitung des Protokolls des Auswärtigen Amtes nach dem deutschen Staatenalphabet Aufstellung genommen, wodurch wir Österreicher fast ganz an den linken Flügel kamen und Zeit hatten, die Geschehnisse zu beobachten. Es geschah aber nicht viel: Hitler erschien im Frack, sichtlich befangen, und schritt auf den rechten Flügel der Abordnungen zu. Ohne eine Silbe zu sprechen, reichte er jedem die Hand. Das veranlaßte mich zu der halblauten Frage, ob man dem Dollfußmörder überhaupt die Hand reichen dürfe. Sehr ungehalten befahl mir der fürstliche Generaloberst zu schweigen, und nachdem er Hitlers schlappen Händedruck angenommen hatte, blieb mir nichts übrig als mich auch dreinzufügen. Daß in meinen Augen keine Bewunderung für Hitler stand, schien dieser sofort zu fühlen, denn nach einem kurzen Blick sah er gleich weg. Es war dies das einzige Mal, daß ich „Führer” aus unmittelbarer Nähe betrachten konnte und meine innere Ablehnung seiner Person und seiner Politik wurde durch diese Begegnung verstärkt.
Nach der folgenden Kranzniederlegung am Ehrenmal und Abnahme der Defilierung der Ehrenkompagnie, war das „Offizielle” beendet. Fürst Schönburg verblieb noch privat in Berlin und reiste am nächsten Morgen ab.
Bald danach starb der polnische Staatschef Marschall Pilsudski. Das war das dritte Ereignis innerhalb Monatsfrist. Das Trauergedenken wurde in Berlin mit großem Pompe abgehalten, wobei man an der wunderbaren militärischen Präzision, die auch die Parteiformationen ergriffen hatte, viel zu schauen und zu lernen bekam.
In Deutschland selbst waren für die Beurteilung vom militär-politischen Gesichtspunkte drei Ereignisse von entscheidender Bedeutung geschehen:
schon am 2.August hatte die gesamte Wehrmacht Hitler den Treueid geleistet,
Hitler selbst hatte neben der Reichskanzlerschaft auch die Stelle des Reichspräsidenten und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht übernommen und
in der Wehrmacht wurde die Ansprache Hitlers mit „Mein Führer” dekretiert.
Die Tatsache, daß diese drei Handlungen trotz der knapp vorangegangenen Akte rechtloser Gewaltanwendung am 30.Juni mit der Erschießung der Generäle Schleicher und v.Bredow von der Generalität und der gesamten Wehrmacht ohne Zögern und Einwand hingenommen wurden, zerstörte in mir den letzten Glauben an die Möglichkeit, daß die Wehrmacht bei Gestaltung der künftigen Politik irgendeine Entscheidungskraft haben könnte. Große Persönlichkeiten vom Schlag eines Blücher, York, Steinmetz, Moltke waren einfach nicht da. Fünfzehn Jahre Republik hatten offenbar genügt, um keine starken, selbstbewußten Generäle mehr entstehen zu lassen. Bei uns in Österreich war es übrigens auch nicht anders.
Über den Charakter des neuen deutschen Gesandten in Wien, Herrn v.Papen, hörte ich in Berlin, trotzdem dieser Mann kaiserlicher Generalstabsoffizier gewesen war, übereinstimmend von deutscher ziviler und militärischer Seite, sowie im Kreise der Attachés und Diplomaten nur ungute Urteile. Der französische Botschafter Poncet nannte Papen direkt einen „Lügner”. Mein belgischer Kollege besprach in größerem Kreise wiederholt Papens Ernennung für Wien mit der Ermahnung, sehr acht zu geben, da Herr von Papen ein sehr schlechtes Gedächtnis habe. Er meinte damit das Geschehnis im Weltkrieg, als Papen, damals Militärattaché in den Vereinigten Staaten, mit dem Organisieren von Sabotageakten befaßt, seine Aktentasche mit allen Namen seiner Helfer in einem Gefährt liegengelassen und dadurch viele Männer den amerikanischen Behörden in die Hände geliefert hatte. Das war ihm in deutschen Offizierskreisen nicht vergessen worden. Auch deutsche katholische Männer rieten zur Vorsicht und Zurückhaltung gegenüber Herrn v. Papen. Der Gesandte Tauschitz und ich gaben dieses gewonnene Bild natürlich nach Wien weiter.
Da meine Frau nach allen Aufregungen des vergangenen Sommers ab und zu über Herzbeschwerden klagte, konsultierten wir einen Spezialarzt, der in Berlin als hervorragend galt. Er stellte auch den uns schon bekannten Herzklappenfehler fest und riet, ohne irgendein Medikament zu verordnen, zu einem ruhigen, schonenden Leben. Das konnte ich meiner lieben Frau gottlob bieten, obwohl ich nach wie vor zum Sparen gezwungen war. Wir hatten nach Gretes Abgang aus Wien eine ganze gute „Köchin für Alles” bekommen, die uns für den Alltag ganz selbständig versorgte.
Inzwischen war auch mit Beziehung auf den Kanzlermord, besonders durch den Heimatkommissär Walter Adam, das die deutschen offiziellen Kreise schwer belastende Erhebungsergebnis an uns gelangt. Hiernach hatte Göbbels Propagandaministerium schon am 24.Juli, also am Tag vor dem Mord, der deutschen Presse bebilderte Informationen über ausgebrochene Unruhen in Wien, bei denen der Kanzler ums Leben gekommen sei, gegeben. Wir erhielten aber auch in Wien beschlagnahmte deutsche Sprengmittel, welche ihre Herkunft aus deutschen Heeresbeständen durch die eingestanzten Depotbezeichnungen zweifelfrei ergaben. Der Gesandte Tauschitz legte einen Teil dieser Beweise im Außenamt dem Ministerialdirigenten Köpke auf den Tisch, ich ging mit dem anderen Teil zu Gen.v.Reichenau.
Leider hatte die österreichische Regierung keine Anklage beim Völkerbund erhoben. Die Beweise waren nach meinem, aber auch nach dem Urteil deutscher Juristen aus dem Anti-Hitler-Lager ausreichend, um die verbrecherische Einmischung des deutschen Nazitums in fremdstaatliches Gebiet nachzuweisen.
So konnte ich bei Reichenau auch nur meiner moralischen Entrüstung mit den stärkstmöglichen Worten Ausdruck geben und diesmal in der Hoffnung auf Gesprächsregistrierung für Hitler. Als ich die deutsche Sprengmunition, die nicht entschärft worden war, auf Reichenaus Tisch legte und das Heer auf Grund dieses Beweises als moralisch mitschuldig bezeichnete, fuhr Reichenau heftig auf und meinte, daß ich für eine Materialveruntreuung durch ein untergeordnetes Organ doch nicht das Heer verantwortlich machen könne. Ich erwiderte ihm, daß ich die Disziplin im preußischen Heere, die sich bis in die untersten Stellen stets als absolut zuverlässig erwiesen hatte, durch meine vielfache Kriegsverwendung in deutschen Verbänden bewundern gelernt hatte und diese Bewunderung auch auf die Reichswehr übertrug; wenn Reichenau mir nun sage, daß Eigenmächtigkeiten unterer Organe möglich geworden seien, dann müsse ich eben meine Beurteilung ändern, ich dürfe aber die Hoffnung aussprechen, daß die schuldigen Organe nunmehr, da man ja jetzt das Depot kenne, zur Verantwortung gezogen würden. Da die Antwort ausweichend war, mahnte ich Reichenau eindringlich vor der dauernden Gewaltpolitik gegen Österreich, versicherte ihn, daß Österreich sich der Gleichsprachigkeit wohl bewußt sei, aber nicht nazifiziert werden wolle. Er möge doch dem „Führer” die Verkehrtheit der jetzigen Politik darlegen! Darauf sagte mir Reichenau die bedeutsamen Worte: er könne politisch nicht an den „Führer” herankommen, da jeder derartige Gesprächsbeginn von Hitler sofort mit der Bemerkung, daß er keine politisierenden Generäle wünsche, abgewiesen werde. So war auch diese lange Unterredung praktisch ergebnislos geblieben.
Dem Gesandten Tauschitz war es nicht viel anders ergangen. Uns wurde ein Katz- und Mausspiel zwischen offiziellen Dienststellen des Reiches und der Partei als Behinderung des loyalen offiziellen Willens nach Anständigkeit vorgeschoben, während sich in Wirklichkeit der dominierende Einfluß der Partei über den Staatsapparat unaufhaltsam verstärkte.
In Wien fühlte man sich durch die immer wieder in Umlauf gesetzten Gerüchte vom bevorstehenden Einbruch der sogenannten „Österreichischen Legion” beunruhigt. Daher war ich bemüht, über diese eine präzise Vorstellung zu gewinnen. Es gelang mir mit dem Sohn des von mir aus dem Weltkrieg hochverehrten Glt.v.Böckmann, der als Generalstabsoffizier im Oberkommando des Heeres tätig war, doch gleich mir Hitler und seine Partei haßte, in direkte Gespräche zu kommen, ohne Vermittlung durch den offiziellen Attachéoffizier. Trotz des offenkundig guten Willens konnte ich über die „Österreichische Legion” nur in groben Umrissen Auskünfte erhalten. Dieser Generalstabsoffizier entschuldigte sich damit, daß der Generalstab über Vorgänge in der Partei keine Informationen erhalte; die von mir gewünschten Auskünfte müsse er selbst erst über den militärischen Nachrichtendienst beschaffen. Da trat ich in Korrespondenz mit unserem Generalkonsul in München, Baron Engerth, und vereinbarte für den Spätherbst einen Besuch bei ihm, um von dort aus selbst die Lagerorte der Legion zu besuchen und direkte Eindrücke zu gewinnen.
Wie ganz anders hingegen die wahre, parteimäßig unbeeinflußte Stimmung der Bevölkerung gegen Österreich war, zeigte eine kleine Episode: Das ehemalige Kaiser-Franz-GardegrenadierRgt.Nr.2 feierte am 2.September 1934 das Fest seiner Aufstellung und Benennung nach Kaiser Franz vor 120 Jahren. Die Regimentsangehörigen aus ganz Deutschland waren zusammengeströmt und nahmen in der alten Franzer-Kaserne in Reih und Glied Aufstellung. Die alte Fahne wurde von einer Reichswehr-Ehrenkompagnie eingeholt. Die früheren Offiziere des Regimentes, unter ihnen GdI.v.Quast, Glt.Roeder und der letzte Regimentskommandant aus dem Weltkrieg, Obstlt.Otto, waren in den alten Uniformen erschienen. Offiziell eingeladen, erschien ich in Uniform mit Federhut und Feldbinde im für solche Anlässe gemieteten und vom emigrierten russischen Rittmeister Engelsen gesteuerten Packard. Mit großer Herzlichkeit wurde ich begrüßt und während der ganzen Feierlichkeit stets unmittelbar neben v.Quast gestellt. Zum Abschreiten der Front lud mich dieser hohe Herr an seine Seite mit den Worten: „Kommen Sie nur mit; es ist sehr gut, wenn unsere Leute wieder einmal einen österreichischen General sehen!” Den Schlußakt der Feier bildete eine Kranzniederlegung am Franzer Denkmal in der Bärwaldstraße, an dem auch ich einen großen Kranz im Namen des österreichischen Bundesheeres niederlegte.
Da die beiden betagten hohen Generäle v.Quast und Roeder sonst keine eigene Fahrgelegenheit hatten und nach dem heißen, anstrengend gewesenen Vormittag in ihren Paradeuniformen mit der Straßenbahn hätten heimfahren müssen, stellte ich ihnen meinen schnellen Wagen zur Verfügung, dem ich auftrug rasch wiederzukehren, um danach mich heimzubringen. Die etwas lange Wartezeit verbrachte ich im Gespräch mit Franzern und deren Familienangehörigen aller Chargengrade. Es wurden Kriegserinnerungen ausgetauscht, und ich mußte den halbwüchsigen Enkeln der Franzer jedes Uniformdetail, jede Dekoration, Säbel, Porte-epée, Feldbinde Hut usw. erläutern. Der Kreis der Umstehenden wurde nicht kleiner, sondern immer größer, bis endlich mein Wagen erschien. Nach allen Seiten grüßend stieg ich ein. Als der offene Wagen anfuhr, erscholl ein lautes „Heil Österreich”, das sich so lange wiederholte, als ich an Franzern entlangfuhr. Diese spontane, von Herzen gekommene Ehrung des alten Verbündeten brachte selbstredend keine der von Göbbels gleichgeschaltenen Zeitungen.
Mitte September reiste ich in die Schweiz zum Manöver der 3.Berner Division, das vom Waffenchef der Infanterie, Obst.-Korpskdt.Wille, geleitet wurde. Es waren wieder Tage erfrischenden Behagens für mich.
Den Rückweg nahm ich über Wien, um mich bei Bundeskanzler Schuschnigg vorzustellen, der sich ebenfalls die Leitung des Landesverteidigungsministeriums vorbehalten hatte. In einer langen Aussprache konnte ich dem Kanzler alle meine negativen Eindrücke in Berlin über das Verhältnis zu Österreich darlegen, konnte ihm sagen, daß es mir bisher nicht gelungen war, den Wunsch des ermordeten Kanzlers, „ein vernünftiges Verhältnis mit Deutschland herzustellen” zu erfüllen und daß keine Hoffnung bestehe, dies jemals zu erreichen. Ferner konnte ich ihn darüber informieren, wie meine Überzeugung wuchs, daß es für Österreich nur zwei Möglichkeiten gebe: bedingungslose Unterwerfung oder Kampf. Ich glaube dem Kanzler damals auch gesagt zu haben, daß das Nazi-Schlagwort von der Usurpation der Macht durch die Regierung, von gutgesinnter deutscher Seite zur Empfehlung führte: „Macht doch Wahlen in Österreich und Ihr nehmt den Nazis das Hauptargument für ihre Feindseligkeit.”
Die betrübliche Feststellung, daß in den Wiener Ämtern dem Nationalsozialismus ergebene Spione tätig waren, die jeden Bericht für Berlin kopierten, hatte den Gesandten Tauschitz und mich veranlaßt, besonders heikle Nachrichten und Lagebeurteilungen nicht in die Berichte aufzunehmen, sondern sie bei Reisen nach Wien mündlich vorzutragen. Ich erfuhr später durch den militärischen Adjutanten Schuschniggs, Mjr.Bartl, daß der Kanzler mit der Berichterstattung zufrieden war und zu Bartl geäußert habe, daß es sich diesmal „nicht um verlorene Zeit” gehandelt habe, im Gegensatz zu vielen anderen Behelligungen. Ich selbst erhielt von Dr.Schuschnigg einen sehr befriedigenden Eindruck: er konnte aufmerksam zuhören, war mit Worten zurückhaltend sparsam. Seinem Sitz am Schreibtisch gegenüber hatte er die Totenmaske Dollfuß' liegen und sagte mit ruhiger Entschlossenheit, daß er die Politik der Unabhängigkeit Österreichs als Vermächtnis seines Vorgängers unbeirrt fortsetzen werde. Jede seiner anderen Bemerkungen oder Fragen war klug und bestimmt. Der trotz seiner Jugend ihn beherrschende tiefe Ernst, seine tadellosen Umgangsformen und seine gewählte Sprache rundeten in mir das Bild einer starken Persönlichkeit ab, die durch ihre Gebundenheit im katholischen Glauben moralisch zuverlässig und von überzeugtem Österreichertum erfüllt an der Spitze des Staates stand. Sein Interesse für militärische Fragen war groß, sein Wille zur Stärkung des Bundesheeres entschieden.
In der Folge wiederholte ich solche mündliche Berichterstattung beim Kanzler während jedes Wiener Aufenthaltes, also vor Weihnachten 1934, im Januar 1935 und vor Ostern 1935, und jedesmal betonte ich meine immer fester werdende Überzeugung von der Notwendigkeit einer starken Vorbereitung von Volk, Land und Heer für einen militärischen Widerstand gegen einen deutschen Angriff, sei es durch die „Österreichische Legion” und andere Kampfverbände der Partei, sei es durch die deutsche Wehrmacht selbst. Der Kanzler hörte stets interessiert zu, ohne zu diesem Vortrag anders als durch nachdenkliches Kopfnicken Stellung zu nehmen. Einmal schloß der Kanzler eine solche Vorsprache mit den ungefähren Worten: „Es ist die ganze Lage so furchtbar verkrampft; wenn ich doch einmal wieder selbst nach Deutschland reisen könnte.” Es lebte also in ihm schon damals der Gedanke, durch eine persönliche Aussprache die Lösung der Schwierigkeiten zu erreichen.
Im Bundesministerium für Landesverteidigung, in dem ich bei jedem Aufenthalt in Wien vorsprach, stieß ich auf Unglauben gegenüber meiner Auffassung, daß wir mit deutscher Gewaltanwendung rechnen müssten. Staatssekretär Zehner schien mir der schwierigen Lage nicht gewachsen zu sein. Sein Hauptinteresse war auf Kleinigkeiten gerichtet. Er sprach vom Gardebataillon und seinem Plan der Schaffung einer einheitlichen Paradeuniform für die gesamte Infanterie; einem Kasern-Neubau in Gr.Enzersdorf. Dann klagte er, daß der deutsche Militärattaché Glt.Muff ganz unverhüllt für den Nationalsozialismus agitiere, besonders an der Universität bei den leider zahlreichen betont nationalen Professoren. Von den leitenden Sektionschefs war der hochbefähigte und energische GdK.Brantner mit einer neuen Besoldungsregelung für Offiziere und Beamte befaßt und im Übrigen verärgert, weil mangels notwendiger Gelder alle Verstärkungsversuche des Bundesheeres keinen effektiven Wert hätten, sondern sich in optischen Maßnahmen erschöpften. Der zweite Sektionschef, GdI.Luschinsky, hatte sich als Kommandant der 2.Division und Stadtkommandant von Wien bei den schweren Februarkämpfen sehr bewährt und klagte gleich Brantner, daß für die so nötige Verstärkung des Bundesheeres beim Staatssekretär der ernste Wille zur nachdrücklichen Vertretung der Heeresbedürfnisse fehle. Von keiner Seite bekam ich Weisungen oder Aufträge. So kehrte ich regelmäßig recht bedrückt nach Berlin zurück.
Dort durfte ich annehmen, daß der im Februar bestellte neue Oberbefehlshaber des Heeres, GdA.Frhr.v.Fritsch, sich bis zum Herbst ausreichend durchgesetzt habe, und erbat eine Vorsprache bei ihm mit der Absicht, ihn um seine Einflußnahme zur Beruhigung des Verhältnisses zu Österreich zu bitten. Fritsch empfing mich in Gegenwart seines Adjutanten. Als ich im Laufe unseres Gespräches, unter Hinweis auf unsere Kameradschaft aus dem Weltkrieg, an ihn die Bitte richtete, Einfluß auf Hitler zu nehmen, damit zwischen Deutschland und Österreich ein leidliches nachbarliches Verhältnis wiederhergestellt werde, faßte er mit beiden Händen meine Arme und sagte: „Ich bitte Sie sehr, lieber Herr v.Jansa, lassen wir alle Politik weg.” Jedes weitere Bestehen auf meiner Absicht wäre daraufhin sinnlos gewesen. So endete auch dieser Versuch ebenso ergebnislos wie einer beim sich sonst sehr ritterlich gebenden Gruppenbefehlshaber GdI.v.Rundstedt.
GfM.v.Blomberg, den ich noch einmal aufsuchte, um ihn auf das in Österreich bedrohlich empfundene Agieren mit der österr. Legion aufmerksam zu machen, sagte nur unzweideutig: „Wissen Sie, wenn wir einmal nach Österreich marschieren müssten, dann werden wir das sicher nicht mit der Österreichischen Legion tun.” Das war wohl zweifelklar hinsichtlich der Legion, aber aufhorchen ließ mich, daß an ein Marschieren nach Österreich mit dem Heer gedacht wurde.
Dennoch fuhr ich im Spätherbst 1934 nach München, wo mir unser Generalkonsul Baron Engerth und seine Gemahlin in ihrer Wohnung ein Absteigquartier gewährten. Von dort fuhren wir gemeinsam im von Engerth selbst gesteuerten Wagen nach Bad Tölz, Tegernsee, Bayrischzell, Wiessee und zu den anderen Orten, wo die jungen Österreicher hausten, die durch zügellose Propaganda verleitet die Grenze nach Deutschland in der Hoffnung überschritten hatten, dort aufs Paradies zu stoßen. In leerstehenden Industriebauten, Gutshöfen und sonstigen zu Massenquartieren geeigneten Objekten waren sie, unter der Sammelbezeichnung „Österreichische Legion” mit SA-Anzügen bekleidet, einquartiert und irgendwie beschäftigt. Unsere Reise muß an einem für die Legion dienstfreien Tag erfolgt sein, denn wir fanden in den Orten große Haufen herumlungernd. Da Baronin Engerth uns begleitete, konnten wir ganz unauffällig wie Vergnügungsreisende mit den jungen Leuten ins Gespräch kommen.
Wenn sie je wirklich begeistert gewesen waren, so konnten wir davon kaum noch eine Spur finden. Enttäuschung über ihr jetziges Leben und rührendes Heimweh waren der Tenor ihrer Äußerungen. Irgendwelche Vorbereitungen oder Schulungen für einen Einbruch nach Österreich konnte ich nicht feststellen. Von der Rückkehr nach Österreich, die viele dringend wünschten, hielt sie nur die Furcht vor der zu erwartenden Bestrafung ab. In den zwei oder drei Tagen, während der ich dank der Güte und Liebenswürdigkeit des Ehepaars Engerth kreuz und quer fahrend mir fast alle bekannt gewordenen Sammelorte anschauen konnte, gewann ich den sicheren Eindruck, daß für Österreich von dieser Seite wirklich keine Gefahr zu befürchten war.
Von Baron Engerth aufmerksam gemacht, besuchte ich am Abend des letzten Tages in München ein Kaffeehaus, in dem SA-Leute verkehrten. Dort glückte es mir, zwei seinerzeit aus St.Pölten geflüchtete junge Offiziere zu treffen, einer von ihnen war Hptm.Leopold; kaum erkannten sie ihren alten Brigadier, kamen sie schon an meinen Tisch. Vom Gespräch mit ihnen ist mir geblieben, daß die in Deutschland erlebte Realität des Nationalsozialismus' ihre Ideale ganz erdrückt hatte und beide ihre Flucht aus Österreich sehr gerne ungeschehen gemacht hätten.
Um allen etwaigen bösartigen Redereien den Boden zu entziehen gab ich, bevor ich am folgenden Tag nach Berlin zurückfuhr, im Amtsgebäude des Wehrkreiskommandeurs meine Visitenkarte mit besten Grüßen an GdI.Adam ab und bat, ihm zu sagen, daß ich auf der Durchreise gewesen wäre.
Im Kreis der Militär-, Marine- und Luftattachés kursierte um die Jahreswende 1934/35 das Gerücht, es wäre zwischen der Wehrmachtsführung (Blomberg-Reichenau) und dem Oberkommando des Heeres (Fritsch-Beck) wegen des Tempos der Aufrüstung zu einem scharfen Konflikt gekommen. Die Generäle Fritsch und Beck hätten für eine gründliche Erprobung der neu einzuführenden Waffen und Geräte sowie mit Rücksicht auf das erst heranzubildende größere Offiziers- und Unteroffizierskorps eine systematische, langsame Vergrößerung des Heeres verlangt. Reichenau, gestützt von Obst.Guderian, soll darauf mit ungebührlicher Heftigkeit Gen.Fritsch zugerufen haben, daß die Herren eine Lage, in der der „Führer” unbeschränkte Geldmittel zur Verfügung stelle, ausnützen müßten, da sie sonst nicht am Platze wären. Fritsch und Beck sollen sich empört abgewendet, den Raum verlassen und bei Hitler über das Benehmen Reichenaus Klage geführt haben. Was an diesen Gerüchten wirklich wahr war, ließ sich begreiflicherweise nicht sicher feststellen. Als ich aber später einmal Reichenau aufsuchte und ihm sagte, daß er der einzige sei, der meine Klagen an Hitler heranbringen könne, erwiderte er mir, daß ich seinen Einfluß überschätze; er sei durchaus nicht mehr persona grata beim „Führer”. Tatsächlich ist Gen.v.Reichenau nach meinem Abgang von Berlin im Frühjahr 1935 als Wehrkreisbefehlshaber zuerst nach Leipzig und später nach München versetzt worden. Er wurde durch den fügsamen Gen.Keitel ersetzt.
Sehr interessant war für mich zu beobachten, wie planmäßig doppelsinnig die ausländischen Waffenattachés von deutscher Seite beeinflußt wurden, offenbar im Zusammenhang mit den bevorstehenden politischen Aktionen des „Führers.” Die militärischen Stellen waren zum Teil zurückhaltend, deuteten an, daß erst erwogen, erprobt und gründlich geprüft werden müsse, bevor an eine Ausweitung der Armee geschritten werden könne. Andere, dem Nazitum ergebene Offiziere (besonders in der Luftwaffe) und einzelne Größen der Partei, aber auch einzelne Beamte des Außenamtes erzählten Wunder über das Tempo der Rüstung und wie es dem „Führer” gelinge, in einem bisher ungeahnten Rüstungstempo vorwärts zu kommen. Bei Fahrten über Land konnte man überall anlaufende Bauten wahrnehmen, auf die man durch Tafeln aufmerksam gemacht wurde, nach denen das Stehenbleiben von Autos und längeres Umsehen verboten sei.
Die Berichte der Waffenattachés waren dementsprechend unterschiedlich. Mein belgischer Kollege und ich rechneten mit den realen Möglichkeiten und bestritten das von anderen geglaubte, überstürzte Rüstungstempo, das wir nur als politisches Schreckmittel werteten. Dabei stellten wir übereinstimmend und bedauernd fest, daß unsere Berichte in der Heimat weder Interesse, noch Glauben fanden.
Von England hingegen erschien, um sich anscheinend selbst durch persönliche Rücksprache über die Lage zu unterrichten, der Außenminister Lord Simon in Begleitung von Mister Eden in Berlin. Nach Besprechungen mit Hitler und im Außenamt sollte Simon mit Blomberg zusammengebracht werden. Hierzu gab der englische Militärattaché Col.Thorne ein Diner, zu dem außer den englischen Besuchern v.Blomberg mit einem Adjutanten, der englische Botschafter Phips mit Gemahlin sowie meine Frau und ich geladen waren. Ich kam neben Lady Phips zu sitzen, meine Frau hingegen links vom Hausherrn, so daß sie der Unterhaltung des ihr gegenüber sitzenden Blomberg mit Thorne und dem links von ihr sitzenden Lord Simon gut verfolgen konnte. Blomberg sprach vollkommen englisch und betonte, sooft die Unterhaltung auf militärische Fragen abglitt, immer wieder den absoluten Friedenswillen des „Führers” und seine Absicht, in der Rüstung auf keinen Fall weiter zu gehen, als dies die Gleichberechtigung Deutschlands im europäischen Raum erfordere. Aus meiner Unterhaltung nach Tische mit dem Hausherrn konnte ich entnehmen, daß Lord Simon mit seinem Besuche zufrieden sei und beruhigter, als er gekommen war.
Der Winter mit seiner vielen Geselligkeit und den betonten Aufmerksamkeiten, die meiner Frau und mir im diplomatischen Korps erwiesen wurden, konnte meine Sorgen über das immer unbefriedigender werdende Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich nicht verringern. Immer eingehender überlegte ich, wie Österreich notfalls Widerstand zu leisten vermöchte. Anderseits verstärkte ich bei den Herrn des Luftfahrtministeriums meine Bemühungen, um doch einmal mit Göring ins Gespräch zu kommen. Es fügte sich gut, daß der durch seine bravourösen Taten als U-Bootkommandant im ersten Weltkrieg bekannt gewordene Kapitän Weniger im Luftfahrministerium war. Der dort gleichfalls tätige hervorragende frühere österreichische Kriegsflieger Mjr.Heyrowski, mit dessen Familie meine Frau und ich regen Verkehr pflegten, brachte Weniger und Frau in unser Haus. Gelegentlich einer Abendeinladung bei Weniger mußte ich viel von unserem Land und unseren Leuten erzählen, da ein gleichfalls zu Gast geladener Admiral sich als großer Freund Österreichs herausstellte und immer neue typisch österreichische Anekdoten und Scherze hören wollte. Es ergab sich ganz zwanglos, daß ich bedauernd das schlechte Verhältnis beider Staaten zur Sprache brachte, betonte, wie sehr jedem Österreicher daran liege, mit Deutschland in guter Freundschaft zu leben, ohne gleich nazifiziert zu werden, und bat schließlich um ihren Einfluß bei Gen.Milch, damit ich mit Göring ins Gespräch kommen könne.
Diesen Herren glaube ich es zu verdanken, daß ich nach einiger Zeit von Milch in ein Weinrestaurant zu einem intimen Frühstück geladen wurde, an dem außer Milchs persönlichem Adjutanten noch Obst.Weniger und Regierungsrat Arndt teilnahmen. Hierbei kam es zwischen Milch und mir zu einer eingehenden Aussprache, wobei ich das österreichische Verlangen nach Freiheit und Unabhängigkeit aus der Geschichte ableitete und an Beispielen darlegte, daß ein selbständiges Österreich Deutschland in jeder Lage weit bessere Dienste leisten könne als ein drangsaliertes und schließlich einverleibtes Land. Gen.Milch wollte die Vertrauenswürdigkeit Österreichs anzweifeln und fragte, warum wir denn unsere Flugzeuge aus Italien und England bezögen. Ich erwiderte, daß auch er und seine Flieger in England lernten und wir kreditpolitisch von Italien besonders entgegenkommend bedient würden. Auf alle Anfragen in Deutschland hingegen hätte man uns bisher die kalte Schulter gezeigt. Ich könne nicht mehr tun, als immer wieder versuchen und bitten, an deutsche maßgebende Persönlichkeiten heranzukommen, um uns auf gleich und gleich aussprechen zu können. Milch sei der erste, bei dem mir das gelinge. Er möge mich doch auch mit Göring zusammenführen. Wir sprachen uns bei diesem Frühstück sehr gut und Milch versprach, sich alles Gehörte durch den Kopf gehen zu lassen und sich besonders für die Abgabe von Flugzeugen an uns einzusetzen. Wir trennten uns mit der Versicherung guter Kameradschaft und ich durfte hoffen, daß ein kleiner Schritt vorwärts geschehen sei.
Der 16.März brachte die selbständige Deklaration Deutschlands über die allgemeine Wehrpflicht. Vorangegangen war eine Reihe teilweiser und eine vollständige Verdunkelungsübung in Berlin. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die größte weltpolitische Entscheidung getroffen worden war und erinnere mich genau, wie ich damals zu meiner Frau sagte, daß die kommende Nacht entweder französische Bomben über Berlin bringen oder Frankreich als Großmacht endgültig ausscheiden werde. - Es kamen keine Bomben, aber eine Einladung zu einer feierlichen deutschen Friedenskundgebung in der Staatsoper. Bei diesem Anlasse hielt der Reichskriegsminister vor dem vollbesetzten Hause - umrahmt von künstlerischen Musikvorträgen - auf der mit alten und neuen Truppenfahnen geschmückten Bühne eine große Rede, in der er die absolute nichtaggressive Friedensliebe Deutschlands als das gewichtigste Thema heraushob und die allgemeine Wehrpflicht als den bedeutendsten Teil der Wiederherstellung der Gleichberechtigung Deutschlands im europäischen Raum hervorhob.
Das Propagandaministerium Göbbels hatte diese große Kundgebung zur letzten Brüskierung Österreichs während meiner Amtsdauer in Berlin genützt: während für alle Militär-, Marine- und Luftattachés die Mitte des Parketts reserviert war, wurden dem litauischen Militärattaché und mir, ganz abgetrennt, die schlechtesten Sitze unterhalb der überbauten Parterrelogen inmitten von kleinen deutschen Offizieren und ihren Frauen angewiesen. Ich äußerte ganz laut meinen Unwillen über diese Taktlosigkeit und wollte das Haus ostentativ verlassen. Die Ermahnung meines litauischen Kollegen, daß es für unsere Orientierung sehr bedeutsam wäre, persönlich zu hören, was Blomberg offiziell zu sagen habe, ließ mich bleiben. Um aber nicht den Glauben zu erwecken, daß ich diese auffallende Unhöflichkeit ruhig hingenommen hätte, legte ich gleich nach der Feier beim Generalstabe durch den Attachéoffizier formell meinen Protest gegen die Sitzanweisung ein. Als Mjr.Rössing, selbst sehr betreten, die Weitergabe meines Einspruches an den Oberbefehlshaber des Heeres zusagte, daran aber die Entschuldigung schloß, daß nicht der Generalstab, sondern das Propagandaministerium die Sitzaufteilung vorgenommen habe, erwiderte ich ihm, daß es seine oder seiner Vorgesetzten Pflicht gewesen wäre, die Sitzzuweisung zu prüfen und die offenkundige Brüskierung Österreichs nicht zuzulassen; ich müsse bedauernd feststellen, daß die Heeresleitung gegenüber dem Propagandaministerium in die Hinterhand gekommen sei, was ich meinen ausländischen Kollegen mitteilen werde. Irgendeine Antwort von deutscher Seite bekam ich natürlich nicht. Meine ausländischen Kollegen haben aber ihrer Zustimmung zu meinem Proteste durch das schon früher erzählte Angebot Ausdruck gegeben, daß sie mir die Übernahme des Doyenats anboten.
Als mir Gen.v.Reichenau gelegentlich die erst am 21.Mai herausgegebene wehrgesetzliche Neuregelung Deutschlands erläuterte, sagte er mir auch, daß ich nach einer Meldung des deutschen Militärattachés in Wien für einen Kommandoposten in Österreich in Aussicht genommen sei und beglückwünschte mich mit dem Beifügen, wie sehr auch er froh wäre, ein nicht mit Politik belastetes Kommando zu erhalten.
Ostern 1935 verbrachte ich mit meiner Frau und meinen Töchtern in Österreich, wo ich erfuhr, daß ich zum Chef des Generalstabes für die gesamte bewaffnete Macht in Aussicht genommen worden sei. Nach Berlin zurückgekehrt, konnte ich bald meinen zur vorläufigen Orientierung gleichfalls in Berlin eingetroffenen Nachfolger Obst.Pohl einführen. Ich machte noch im Mai den am Vorabend des Startes zum Deutschland-Flug vom Luftfahrtministerium am Tempelhofer Flughafen gegebenen Empfang mit, bei dem erstmalig deutsche Flugzeuge zur Besichtigung frei gegeben waren. Meine Frau und ich wurden von den Fliegern mit besonders wohltuender Zuvorkommenheit empfangen und geleitet.
Mit Staatssekretär Zehner hatte ich mein Eintreffen in Wien für einen der letzten Mai-Tage fest verabredet.
Unser Gesandte plante meiner Frau und mir zu Ehren einen besonders glänzenden Abendempfang zu geben, zu dem er alle prominenten deutschen Generäle einladen wollte. Ich riet im davon ab, weil nach den bisherigen Gepflogenheiten nur mit Absagen gerechnet werden könne. Wie erstaunt war ich dann, als der deutsche Chef des Generalstabs des Heeres GdA.Beck, der Staatssekretär für Luftfahrt Gen.Milch mit Gemahlin, ebenso Gen.v.Reichenau mit Frau und eine Reihe anderer deutscher Generäle und Stabsoffiziere in der Gesandtschaft zu meinem Abschied erschienen! Diese Aufmerksamkeit durfte ich denn doch als einen Beweis werten, daß die kameradschaftlichen Beziehungen trotz der bösartigen Politik noch achtungsvoll bestanden.
Eine Einladung Becks in sein Haus, sowie eine gleiche Milchs mußte ich wegen der mit Zehner getroffenen Vereinbarung ablehnen. Als ich jedoch hörte, daß auch Göring bei Milch sein werde, bat ich meine Frau, die noch einiges in Berlin zu regeln hatte, der Einladung zu folgen.
Am nächsten Tag meldete ich mich beim Reichskriegsminister v.Blomberg ab und teilte ihm mit, daß ich Obst.Pohl als meinen Nachfolger selbst gewählt habe und hoffe, daß es diesem besser gelingen werde, des toten Kanzlers Wunsch nach einem vernünftigen politischen Verhältnis zu erfüllen. Als Blomberg darauf meinte, daß ich von Berlin doch gute Eindrücke mitnehmen werde, schwieg ich, doch als er neuerlich begann, mir müsse doch irgendetwas in Berlin gefallen haben, antwortete ich: "Oh, gewiß, der Gemeingeist im diplomatischen Korps und die unter den Militärattachés bestehende Kameradschaft haben mich sehr beeindruckt." Mehr hatten Blomberg und ich uns nicht zu sagen.
Am Abend gestaltete sich bei Horcher der Abschied von allen Militär-, Marine- und Luftattachés sehr herzlich. Sie gaben durchwegs ihrer Freude Ausdruck, daß ein Kamerad aus ihrer Mitte auf einen so entscheidend hohen Posten berufen worden war. Diese Sympathien haben über den langen Krieg hinaus gewährt und nach seinem bitteren Ende die Zeit des Mangels aller Art durch tätige Hilfsbereitschaft spontan gemildert.
Nach etwa zwei Wochen kam ich noch einmal nach Berlin zurück, um uns zu verabschieden und meine Frau heimzuholen. Dabei erfuhr ich von ihr und zwei deutschen Herren, daß sie beim Abendessen im Hause Milchs schräg gegenüber von Göring plaziert worden war. Der erzählte von seiner Heimreise aus Italien oder Jugoslavien, wie er seine Autos bei Nacht durch Österreich fahren lassen mußte, weil sie sonst bejubelt worden wären, was den Dummen und der Regierung in Österreich Anlaß zu Rekriminationen gegeben hätte. Meine mutige Frau habe darauf mit der Hand leicht auf den Tisch geschlagen, sei aufgestanden und wollte mit den Worten „Ich bin die Frau des österreichischen Militärattachés. Ich lasse mein Land nicht beleidigen!” Saal und Haus verlassen. Der neben meiner Frau sitzende Gen.Milch sei gleichfalls aufgesprungen, bat meine Frau um Entschuldigung und bat sie, wieder Platz zu nehmen. Göring soll zuerst ganz verständnislos zugesehen und dann gesagt haben, daß er es doch nicht böse gemeint habe. - Das war unser Berliner Ausklang.
Unsere Verabschiedung in Berlin erfolgte durch zwei Riesen-Cocktails zu je mehr als 100 Personen in unserer Wohnung. Die obligate Begleitung und Verabschiedung am Bahnhof durch die Mitglieder der Gesandtschaft bat ich - nicht ganz einer Meinung mit meiner Frau - zu unterlassen. Erstens war ich allen persönlichen Ehrungen stets abhold; zweitens brauchte nicht jeder zu wissen und zu bereden, daß unsere Mittel die Reise nur in der 3.Wagenklasse erlaubten.
Von Berlin fuhren wir über die Schweiz heim, um nocheinmal die vielen Freunde zu sehen. Dazu gaben wir einen Empfang im Berner Hotel Bellevue. Mit dem Schweizer Chef des Generalstabes besprach ich zur Selbstprüfung die Grundzüge meines Denkens über die militärische Abwehr eines deutschen Überfalls auf Österreich. Roost stimmte mir zu und sagte dann die für einen auf absolute Neutralität eingeschworenen Schweizer besonders eindrucksvollen Worte: „ Wir haben es leichter als Sie. Wir befestigen den Rhein. Wenn aber Deutschland Sie angreift, dann müssen wir Schweizer eigentlich überlegen, ob wir noch neutral bleiben dürfen!” Mit der Versicherung, daß er und der Schweizer Generalstab in ureigenstem Interesse alles militärische Geschehen in Österreich mit größtem Interesse verfolgen werden, drückte er mir zum letztenmal die Hand; beide spürten wir das ungute Gefühl, sehr schweren Zeiten entgegenzugehen.
Zuletzt unternahmen wir eine kleine Abschiedsreise über Vevey, wo Judith im Pensionat gewesen war, dann über die großen Alpenpässe Furka, Grimsel und St.Gotthard. Diese Fahrten im bequemen Postautobus mache ich mir noch heute zum Vorwurf: ich hätte hier den Wünschen meiner Frau nicht nachgeben sollen! Denn als wir vom Gotthard entlang des Vierwaldstätter Sees zurück nach Bern und von dort dann durch den Arlberg nach Wien fuhren, bekam meine arme Frau schwere, ihren Lebensmut sehr herabdrückende Herzschwäche-Anfälle. Die starke Belastung ihres geschwächten Herzens durch den wiederholten raschen Wechsel der hohen Pässe und tiefen Täler hatte ich nicht bedacht. Während der langen Eisenbahnfahrt litt meine arme Frau unter Depressionen, die sich erst allmählich nach Erreichen von Wien aufzulösen begannen. Wie von einer Ahnung gewarnt, kehrte sie nicht gern in diese Stadt zurück.
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG