FML JANSA
«Aus meinem Leben»
VIII
VORSTAND der 1.ABTEILUNG
im BMf.Landesverteidigung und
Militärischer Vetreter bei der Abrüstungskonferenz in Genf
1.X.1932 - 30.VI.1933
Gelegentlich meines Urlaubes, den ich mit Frau und Kindern wie alljährlich bei meinen Schwiegereltern in Abapuszta verbrachte, empfing ich einen Brief des die höheren Personalien bearbeitenden Sektionschefs Schiebel. Er teilte mir darin mit, daß der Heeresminister Vaugoin die Absicht geäußert habe, mich in das Landesverteidigungsministerium als Vorstand der 1.Abteilung zu versetzen. Er fragte an, wie ich mich dazu stelle und ob ich geneigt sei, dem Wunsche des Ministers zu folgen.
Dieser Brief bereitete mir zunächst wenig Freude. Ich war gern Brigadier in St.Pölten, mir sagte diese freie, in enger Verbindung mit den Truppen aller Waffen stehende Stellung sehr zu und ich wäre sehr gern noch einige Jahre geblieben. Aber die große Enge des Heeresbudgets, die geringen Gehaltszahlungen und daraus folgend das begreifliche Nachdrängen von Offizieren in höhere Stellungen hatten es mit sich gebracht, daß die effektive Dienstzeit aller Offiziere fast ausnahmslos mit 30 Jahren bemessen wurde. Rechnete man die 5 doppelt zählenden Jahre des ersten Weltkrieges dazu, so hatte man nach der damaligen Besoldungsordnung mit 35 Dienstjahren den Anspruch auf das ungekürzte Ruhegehalt und wurde mit Jahresende dieser Zeit aus dem aktiven Dienst entlassen. 1902 ins Heer getreten, stand ich an dieser Grenze und mußte rechnen, trotz der jahrelang in den Dienstbeschreibungen zum Ausdruck gekommenen hervorragenden Beurteilung meiner Dienstleistungen mit Jahresende entlassen zu werden. Wenn mich nun der Minister trotzdem zum Vorstand der 1.Abt. machen wollte, so ergab sich daraus die Möglichkeit, vielleicht etwas länger dienen zu können, was aus finanziellen Gründen anzustreben war. So dachte ich nicht weiter nach und antwortete GdI.Schiebel brieflich mit meinem Einverständnis.
Nach meiner Heimkehr vom Urlaub verabschiedete ich mich von den Truppen und dem Brigadekommando. Der Abschied von St.Pölten war nicht leicht; hatte ich doch zwölf Jahre der Arbeit und des glücklichsten Familienlebens in dieser wohl kleinen, meiner Frau und mir jedoch vollauf genügenden Stadt verbracht.
Der Wehrbund ließ es sich nicht nehmen, eine Abschiedskundgebung für mich in großem Rahmen in den Stadtsälen zu veranstalten. Ich war über den zahlreichen Besuch verblüfft, denn es kamen nicht nur alle Offiziere und Soldaten der Garnison mit ihren Familien, sondern auch von Krems, Melk, Stockerau und Wien waren Deputationen und eine Musikharmonie gekommen. Überraschend war mir der den großen Saal ganz füllende Besuch der katholischen Welt St.Pöltens mit dem Landtagsabgeordneten Prof.Dr.Prader an der Spitze. Auch der nachmalige Bundeskanzler Ing.Raab war nebst vielen anderen Persönlichkeiten erschienen. Und wie das eben bei solchen Anlässen üblich ist, wurden viel Reden gehalten.
Am tiefsten berührte mich die Feststellung in der Ansprache von Hofrat Prader, daß ich außer der Erfüllung meiner militärischen Pflichten der ganzen katholischen Bevölkerung ein richtunggebendes Familienleben beispielhaft vorgelebt habe. Daß dies nicht nur höfliche Worte waren, sondern die zwölf Jahre des Lebens in St.Pölten einen guten Grund gelegt hatten, konnte ich 22 Jahre später in rührender Weise erleben: unser alter Brigadepfarrer Hofer feierte im Herbst 1952 sein goldenes Priesterjubiläum, zu dem mich das St.Pöltner Festkomitee eingeladen hatte. Ich fuhr mit meiner Tochter Judith hin, und die Herzlichkeit der Begrüßung, schon vor dem Gottesdienst im Dom, steigerte sich zu einer Akklamation im Festsaal, wie sie sonst nur berühmte Künstler erfahren. Der alte Stabschef und Brigadier war trotz zermürbender politischer Parteiungen, trotz fünfeinhalbjährigem Krieg und schwerer Nachkriegszeit unvergessen geblieben; nicht nur die Soldaten, sondern auch deren Familien jubelten ihm zu. Wenn meine allseits hochverehrte Frau auch nicht mehr unter den Lebenden weilte, so konnte die von ihr erworbene Sympathie von meiner Tochter, die ihrer Mutter so sehr ähnelte, beglückend empfangen werden.
Wegen der Schwierigkeit der Wohnungsbeschaffung blieb meine Familie zunächst in St.Pölten. Ich mietete in Wien ein leidliches Absteigquartier und kam übers Wochenende regelmäßig heim in die kleine Stadt.
Die 1.Abt. des Ministeriums umfaßte in ihrem Aufgabenkreise die in Folge des Friedensvertrages von Saint-Germain nur versteckt mögliche Tätigkeit eines Chef des Generalstabes. Glänzende Generalstabsnamen waren meine Vorgänger gewesen: Schneller, Wittas, Tarbuk. Aber die jahrelange Verkümmerung des Bundesheeres infolge des viel zu geringen Heeresbudgets im Verein mit der vom leitenden Sektionschef GdI.Schiebel vertretenen Auffassung, „daß ein jeder ein Trottel sei, der nach dem ersten Weltkriege an eine neue Kriegsmöglichkeit denke”, ließ auch die 1.Abt. zu keiner gedeihlichen Tätigkeit kommen. [Anm.v.Gen.S.Knaus: Frieden? Schneller ca.1921/22: „Ohne Waffen, ohne Pfaffen und wir werden die Freiheit schaffen.” General Schiebel 1925 Dezember als Ersparungskomissär zur Belohnung seiner Sparmaßnahmen S 1.000,- ebenso Dr.Robert Hecht] Etwas Nachrichtendienst, theoretische Erwägungen ohne die geringsten Aussichten einer Verwirklichung und die Betreuung der ausländischen in Wien akkreditierten Militärattachés waren durch Jahre das geistige Grab einer Reihe hochintelligenter, sich der Politisierung des Heeres nicht beugender Generalstabsoffiziere, die in Bitternis oder schließlicher Gleichgültigkeit ihre Jahre bis zur Pensionsreife dahindämmerten. Die rein auf die innere Politik gerichtete, auf diesem beschränkten Gebiet wohl sehr anerkennenswerte Tätigkeit des langjährigen Heeresministers Vaugoin versagte sich allen noch so ehrlichen und bescheidenen Vorschlägen für eine wenigstens notdürftige Landesverteidigung gegen äußere Feinde. Das führte besonders auf dem Gebiete der kostspieligen Beschaffung und Lagerung von Munition aller Art zu einem später nicht mehr ausgleichbaren Tiefstand der Wehrfähigkeit, die, richtiger gesagt, schon eine Wehrunfähigkeit war.
Umsomehr richteten sich die Augen aller weitblickenden Offiziere auf die Verhandlungen der Abrüstungskonferenz in Genf, von der geistig normal veranlagte Menschen glaubten hoffen zu können, daß die unglückseligen Friedensverträge von Versailles, Saint-Germain und Trianon - gemäß dem in den Mantelnoten zu diesen Verträgen gegebenen Versprechen der Siegermächte - nach 12 Jahren durch die Erlaubnis einer wenigstens beschränkten Aufrüstung Deutschlands, Österreichs, Ungarns und Bulgariens eine gerechte Auflockerung erfahren würden. Es oblag dem Vorstand der 1.Abt., die österreichische Sache in den militärischen Fachausschüssen dieser Konferenz zu vertreten. Als ich von meinem Vorgänger, dem mir aus der Sarajevoer Zeit bekannten und befreundeten Generalmajor Tarbuk gehört hatte, daß er in arge Differenzen mit unserem ständigen diplomatischen Vertreter in Genf, dem Gesandten Pflügel, geraten war, glaubte ich, vielleicht aus diesem Grunde nach Wien berufen worden zu sein. Wie baß erstaunt war ich daher, als mir Minister Vaugoin bei meiner Antrittsmeldung sagte: „Ich brauche für den Verkehr mit den ausländischen Militärattachés einen eleganten Offizier. Sie haben mir als Brigadier bei allen Anlässen immer gut gefallen, darum hab´ ich Sie jetzt ins Ministerium hereingenommen.” Von Genf und anderen Aufgaben der 1.Abt. sagte der Minister kein Wort. Ich war darüber so betroffen, daß ich ein sehr dummes Gesicht gemacht haben muß; denn der Minister sagte mir sehr freundlich und wohlwollend die Hand reichend: „Aber ja, Sie werden`s schon treffen.” Als ich dann Gen.Schiebel aufsuchte und dort Genf zur Sprache brachte, meinte dieser: „Natürlich, nach Genf mußt du auch fahren; aber herauskommen wird dort nichts!”
Das waren keine erfreulichen Aussichten für einen neuen Arbeitsbeginn; den Gigolo zu spielen hatte ich keine Ambition. Aber es blieb reichlich Zeit für das eingehende Studium des einstweiligen Verlaufes der Abrüstungskonferenz in Genf, für die von meinem Vorgänger ein großes Elaborat aller militärischen Wünsche des österreichischen Heeres für seinen beschränkten Ausbau vorbereitet, von unserem auswärtigen Amt ins Französische übertragen und in Genf eingereicht worden war. Mit der großen Linie dieses Elaborates war ich einverstanden: Ausbau der 6 gemischten Brigaden zu 6 Infanterie-Divisionen, allgemeine Wehrpflicht, Schaffung ausgebildeter Reserven an Menschen, Lagerung von Waffen, Munition und Geräten für die Aufstellung von 6 Reserve-Divisionen für den eintretenden Notfall der Landesverteidigung, was auch die Aufhebung der alle Verteidigungsvorbereitungen verbietenden Bestimmungen des Friedensvertrages betreffen mußte.
Nicht einverstanden war ich aber mit der verhandlungstechnischen Art meines Vorgängers in Genf. Es hatte sich dort eine Art neuer politischer Kampfgemeinschaft der im ersten Weltkrieg unterlegenen Staaten Deutschland, Ungarn, Österreich und Bulgarien unter der geistigen und taktischen Führung des deutschen Generals v.Blomberg herausgebildet. Bei der beängstigenden, für die Westmächte bedrohlichen Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland erschien mir eine hörige Bindung an die deutsche Delegation für die Durchsetzung unserer Wünsche ungut. Wenn das von Kaiser Karl im Mai 1918 in Spaa den Deutschen zugesagte engste Zusammengehen die Allierten veranlaßt hatte, die öst-ung.Monarchie zu zertrümmern, so konnte ich mir nicht denken, daß eine neuerliche enge Anlehnung an Deutschland für uns Vorteile bringen könnte. Da ich nun reichlich Zeit hatte, nahm ich auch Hitlers Buch «Mein Kampf» vor, das ich schon in St.Pölten in der Hand gehabt hatte. Ich war neuerdings entsetzt über dessen Haß gegen unser Kaiserhaus, die Einschätzung Wiens und der österreichischen Bevölkerung. Die Lektüre dieses Buches vertiefte meine schon in St.Pölten bestandene scharfe Ablehnung des Nazitums zu dessen schärfster Verurteilung. Ich freute mich über die Energie, mit welcher der seit Ende Mai 1932 Bundeskanzler gewordene Dr.Dollfuß gegen die von Deutschland nach Österreich getragene Nazipropaganda Stellung bezog.
Eine weitere Vorbereitung für Genf war die Auffrischung meiner eingerosteten Kenntnisse der französischen Sprache.
Die heeresorganisatorischen Arbeiten in der 1.Abt. bearbeitete damals der hochgebildete, ideenreiche GM.Paschek, mit dem mich alte Kameradschaft aus unserer gemeinsamen Dienstzeit in Bosnien verband. In vielen Rücksprachen über angestellte Kalküle trafen wir uns bei der Zahl von 60.000 Männern Aktivstand als ausreichender Basis zu dem geplanten Ausbau des Bundesheeres für die Landesverteidigung.
Ich machte meine Besuche im Auswärtigen Amt, um den politischen Vertreter für Genf, Gesandten Dr.Leitmaier kennen zu lernen. Das war eine vornehme, im diplomatischen Dienste erwachsene Persönlichkeit, die aber den Verhandlungen in Genf keine Chancen gab. Seine Interessen lagen mehr bei seiner Lehrtätigkeit an der Konsularakademie. Diese Beurteilung der Genfer Verhandlungen war wenig erfreulich, da Österreich in Dr.Dollfuß erstmals einen Kanzler hatte, der für eine Stärkung des Bundesheeres Interesse zu haben schien. Dazu bekam ich auch eine Klageschrift meines Vorgängers, GM.Tarbuk, gegen unseren ständigen Vertreter in Genf, den Gesandten Pflügel, in die Hand, dem er eine zu geringe Betätigung im Interesse unserer Sache zum Vorwurfe machte. So überraschte es mich nicht sehr, daß über Wunsch des Kanzlers der Politische Vertreter gewechselt wurde. Daß aber die Wahl auf den Vorstand des Rechtsbüros des Landesverteidigungsministeriums, den Sektionschef Dr.Hecht gefallen war, der sich durch sein den militärischen Erfordernissen sehr schlecht entsprechendes Disziplinarstrafgesetz und seine sonstige Tätigkeit den Beinamen eines Heeresverderbers erworben hatte, war nicht erfreulich: ich mußte befürchten, daß diese wohl gerissen intelligente Persönlichkeit die Genfer Tribüne nur soweit verfolgen werde, als sie ihrem stark entwickelten persönlichen Geltungsdrang nützlich sein werde. Ich bemühte mich aber im Interesse einer gedeihlichen Zusammenarbeit, dieser Persönlichkeit trotzdem mit großer Konzilianz entgegenzukommen. Da Dr.Hecht in der Folge vom Bundeskanzler Dollfuß für die Beratung in innerpolitischen Fragen stark in Anspruch genommen wurde, erschien er nur zwei oder dreimal ganz kurz in Genf, was meine Lage wesentlich erleichterte und mir Handlungsfreiheit ließ.
Inzwischen war von Dr.Dollfuß im Oktober 1932 das italienisch-österreichisch-ungarische Freundschaftsabkommen geschlossen worden, das der ungarische Militärattaché, Obst.Hochenburger, benützte, um von Österreich die Zustimmung zu Waffentransporten aus Italien durch Österreich nach Ungarn zu erreichen. Die sich daraus für Österreich entwickelnde und die Tätigkeit in Genf ungünstig beeinflußende Affaire hat sich, meines Wissens nach, etwas abweichend von der vom Gesandten Ludwig in seinem Buch über «Österreich im Donauraum» gegebenen Darstellung, folgendermaßen abgespielt:
Der von Ungarn erstrebte Waffenbesitz sollte von Italien in plombierten Eisenbahnwaggons durch Österreich nach Ungarn gelangen. Ob es sich dabei nur um italienische Beutewaffen öst-ung. Provenienz aus dem ersten Weltkrieg handelte, oder ob auch andere von Zaccharoff gekaufte Waffen darunter waren, blieb ungeklärt und war schließlich für uns auch gleichgültig. Nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain war die Durchfuhr von Waffen durch Österreich verboten und wäre in früherer Zeit glatt abgelehnt worden. Für die Angelegenheit kam aber außer einem durch das italienisch-österreichisch-ungarische Freundschaftsabkommen bedingten Entgegenkommen auch ein bedeutsames wirtschaftliches Interesse Österreichs in Betracht: die dem Industriellen Fritz Mandl gehörende Hirtenberger Patronenfabrik war unterbeschäftigt, was die an und für sich bedeutende Zahl von Arbeitslosen im Wr.Neustädter Becken vermehrte. Ungarn stellte nun als Gegendienst für eine Genehmigung der Waffendurchfuhr große Bestellungen an Gewehrmunition in Hirtenberg in Aussicht. Die Besprechungen mit Mandl und indirekt über dessen Betriebsräte mit den Sozialdemokraten wurden durch den Leiter der materiellen Sektion des Landesverteidigungsministeriums, GdA.Geng, geführt. Als ich ihm die Waffendurchfuhr-Wünsche des ungarischen Militärattachés mitteilte, informierte er mich darüber in großen Zügen. Auch der Direktor der Bundesbahn, Dr.Seefehlner, wurde ins Vertrauen gezogen. Da Italien Mut machte, Ungarn drängte und Österreich an der Herabdrückung der Arbeitslosenzahl lebenswichtig interessiert war, entschlossen wir uns, Minister Vaugoin, Geng und ich, die Durchfuhr zu riskieren, zumal Mandl die stillschweigende Duldung der Sozialdemokraten versprechen konnte.
Anfangs stimmte auch alles. Auf einmal jedoch öffnete in Villach der sozialdemokratische Eisenbahnbetriebsrat König einen plombierten Waggon (ob aus eigenem Machtbewußtsein oder von der Parteileitung angewiesen, weiß ich nicht) und schlug Lärm. Es wäre im eminenten österreichischen Staatsinteresse gelegen, aus der Sache kein Wesen zu machen, worum sich der Bundesbahndirektor auch bemühte. Aber die Sozialdemokraten fanden es richtig, an einem der nächsten Tage ihr eigenes Heimatland Österreich in ihrer Arbeiterzeitung durch einen mit Balkenlettern gedruckten Artikel ans Ausland zu verraten. Die folgenden diplomatischen Interventionen übertrugen sich natürlich auf das Genfer Parkett, wo wir - dank tatkräftiger italienischer Unterstützung - nach einigen Debatten bald wieder in Ruhe gelassen wurden. Interessant war für mich dabei, das ungarische Verhalten zu beobachten. Sie, über deren drängende Bitten und in deren hauptsächlichem Interesse alles geschehen war, setzten sich kühl von uns ab und mimten ein von nichts wissendes Desinteresse. Nur der italienische Vertreter half uns mannhaft und erfolgreich. Diese Erfahrung blieb mir im Gedächtnis!
Doch bin ich mit der Abrundung dieser Geschichte der Chronologie vorausgeeilt. Vorerst war ich ja noch in Wien und bekam gegen Ende Januar 1933 den Besuch des deutschen militärischen Delegierten für die Abrüstungskonferenz. Es war dies, an Stelle des zum Befehlshaber im Wehrkreis I und später zum Kriegsminister ernannten Gen.v.Blomberg, der thüringische GM.Schönheinz. Dieser gab der Hoffnung Ausdruck, daß ich in Genf ebenso fest zu ihm und der deutschen Delegation stehen werde, wie mein Vorgänger dies getan habe. Ich erwiderte ihm in voller Aufrichtigkeit, daß ich die alte Kriegskameradschaft sicher nie vergessen werde, aber aus verhandlungstechnischen Gründen mir die Freiheit vorbehalten müsse, die österreichischen Interessen - soweit dies ohne Schädigung Deutschlands möglich sein werde - frei und unabhängig zum Vorteil Österreichs zu vertreten. Ich erläuterte ihm auch meine Gründe in dem hier schon früher angedeuteten Sinn. Über Einzelheiten könne ich erst in Genf auf Grund der dort empfangenen Eindrücke von Fall zu Fall sprechen. Gen.Schönheinz war etwas betreten, stimmte mir jedoch zu, als ich ihm zum Abschied sagte, daß ich es für richtig halte unser Vorgehen in jedem Falle aufrichtig zu besprechen.
Für Anfang Februar 1933 machte ich mich zur fortsetzenden Tagung in Genf reisefertig. Zu meiner Abmeldung bei Minister Vaugoin sagte mir dieser, ich möge mit einem Erfolg heimkehren, den der Bundeskanzler sehr brauche.
In Genf sorgte in sehr herzlich kameradschaftlicher Art unser Legationssekretär Dr.Matsch für meine Unterbringung im Hotel Regina und war auch um meine Vorstellung und Einführung bei den maßgeblichen Persönlichkeiten der Abrüstungskonferenz bemüht. In den großen Hauptsitzungen dieser Konferenz waren abwechselnd die Gesandten Leitmaier und Pflügel, ab und zu auch Sektionschef Dr.Hecht, Österreichs Vertreter und ich nur beobachtender Zuhörer. Meine Aufgabe lag in den kleineren militärischen Komitees.
Über den Völkerbund und die Abrüstungskonferenz sind viele dickleibige Bücher von juristisch gebildeten Fachleuten aus der ganzen Welt geschrieben worden. Zu einer Erweiterung dieses Schrifttums reicht weder mein Können, noch mein Wollen. Ich will im folgenden nur meine sehr beschränkten, rein persönlichen Eindrücke und Erfahrungen schildern, die einem idealistischen Verehrer des Völkerbundes und seiner Ziele als eine Verzerrung erscheinen mögen. Aber mein Werdegang als Generalstabsoffizier zwang mich, nicht Idealen nachzuträumen, sondern mit Realitäten zu rechnen.
Das Problem der Verhandlungen stellte sich mir im Wesen folgend dar:
Den unglückseligen, die Unterlegenen schwer diskriminierenden Friedensverträgen nach dem ersten Weltkrieg hatten Gewalt und Rachebedürfnis Pate gestanden. Der damalige unerbittliche französische Minister Clemenceau säte ein Teufelswerk, das übel aufgehen mußte. Trotzdem wurde die Österreich, Deutschland, Ungarn und Bulgarien aufgezwungene militärische Inferiorität vertragsmäßig bloß als Vorläufer einer europäischen Abrüstung festgelegt. Um diese versprochene europäische Abrüstung Frankreichs, Englands, Belgiens, aber auch der Kleinen Entente, bestehend aus Jugoslawien, Rumänien und der Tschechoslovakei handelte es sich nun. Wenn man die Verträge nach den abgelaufenen 10 Jahren seit ihrer Ratifizierung mit leidenschaftslosem, natürlichem Rechtsempfinden betrachtete, so gab es für die Problemlösung zwei Möglichkeiten: entweder rüsteten alle europäischen Staaten auf das den Unterlegenen aufgezwungene Ausmaß ab, oder man suchte den Ausgleich auf einer mittleren Basis, welche den stark gerüsteten europäischen Staaten ein Herabgehen auf ein Mittelmaß der Rüstung auferlegte und dafür den Unterlegenen eine Erhöhung der Rüstungen bis zu dem erstrebten Mittelmaß zubilligen mußte.
Da Amerika und Russland der Konferenz nicht als Mitglieder, sondern nur als Beobachter beiwohnten, konnte ich schon nach wenigen Sitzungen erkennen, daß trotz offiziell betonter voller Gleichberechtigung aller Mitglieder der entscheidende Einfluß bei Frankreich lag, das von England und seinen Satelliten Jugoslawien, Rumänien und der Tschechoslowakei unbedingt unterstützt wurde, während Italien und Polen mehr selbständig auftraten. Präsident der Konferenz war zwar der Engländer Henderson, die wirkliche Leitung lag jedoch bei Frankreich, ausgeübt von dem sich im Hintergrund haltenden Diplomaten Massigli und dem Generalstabshauptmann Vautrin. Den Gedanken einer Abrüstung auf das Deutschland und Österreich aufgezwungene Ausmaß wies Frankreich hohnlachend von sich. Die Einigung auf einer mittleren Linie wurde zur Wahrung des Gesichtes von Frankreich und England theoretisch für möglich und sogar nützlich erklärt, seine Durchführung aber an so viel Voraussetzungen gebunden, daß (wie mir Vautrin in einer Unterredung gestand) eine Einigung auf einer mittleren Linie nie möglich werden sollte. Frankreich dachte also nicht im entferntesten daran, seine bestehende erdrückende militärische Übermacht und jene seiner Satelliten antasten zu lassen, wollte aber auch Deutschland, Bulgarien, Ungarn und Österreich nicht das geringste Zugeständnis machen. Die ganze Abrüstungskonferenz war eine leere Schaumschlägerei, bei der sogar sprachlich die Vorteile ganz bei Frankreich und England lagen, weil deren Nationalsprachen die einzig zugelassenen Verhandlungssprachen waren.
Großartig und bewundernswert war die Kunst der Übersetzer, die jede Rede sofort aus dem Französischen ins Englische oder umgekehrt in klassischer Sprachbeherrschung übertrugen. Großartige Momente waren es auch, wenn der geistvolle Spanier Madariaga und der Grieche Politis das Wort ergriffen und in einem schöneren Französisch, als es die Franzosen sprachen, zur Vernunft und Verständnisbereitschaft aufriefen. Eine heitere Note brachten immer die von beißender Ironie erfüllten englischen Ausführungen des Russen Litwinoff in den Saal.
Sonst aber war die absolute Sterilität der Debatten für mich unfaßbar: der deutsche Botschafter Nadolny kämpfte mit wohlgewogenen Argumenten der Gerechtigkeit in bewundernswerter Zähigkeit um Verständnis und Entgegenkommen für sein großes, tüchtiges, 70 Millionen zählendes Volk. Immer wieder meldete er sich zu Wort; immer wieder legte er die Rechtmäßigkeit des Standpunktes Deutschlands klar. Völlig vergebens. Wie immer die Antwortenden heißen mochten, Boncourt, Cot, Eden, Londonderry, Sarraut, Sassum, Simon usw., ein starres Nein war die Antwort. Ja, sahen denn diese sogenannten Staatsmänner nicht ein, daß die fortschreitende Zeit mehr von ihnen verlangte als impotente Negation? Fühlten sie denn nicht, daß ihre sogenannte „Politik” der Dünger war für das beängstigende Wachstum Hitlers und seiner Bewegung? Waren denn die französische Angst vor und der Haß auf Deutschland pathologisch geworden? Immer, wenn ein Thema so zerredet worden war, daß die Gefahr für einen deutschen Abstimmungserfolg sich nur ganz leise abzuzeichnen begann, wurde es wie ein Knochen zum weiteren Zernagen den militärischen Komitees zugeworfen, in denen sich ergraute Generäle um die von den Franzosen stets neu erfundenen Spitzfindigkeiten streiten sollten.
Das war die auf den einfachsten Nenner gebrachte Realität. Was war da für Österreich herauszuholen? Ich zerbrach mir viel den Kopf: wenn ich von diesem Forum nach den täglich erbrachten Beweisen auch garnichts erwarten konnte, so schien es mir doch nicht bedeutungslos zu sein, die sich in vager Form andeutenden Möglichkeiten eines 300.000 Mann-Heeres für Deutschland und eines solchen von 60.000 Mann für Österreich achtlos beiseite zu lassen. Jede Konferenz mußte ja schließlich - vorausgesetzt, daß die Völker in Geduld verharren - zu irgendeinem Ende kommen, an das dann ein neues Beginnen anknüpfen könnte.
Da wurde auf einmal von Frankreich die Anrechnung der paramilitärischen Formationen auf die künftigen Heereskontingente in die Debatte geworfen. Für Deutschland handelte es sich um die SS, für Österreich um die Heimwehren. Es bestand die Gefahr, daß bei Zuerkennung eines militärischen Charakters dieser Formationen die in Rede stehenden erhöhten Heeresstände praktisch wieder auf ihr Gegenwartsverhältnis reduziert würden. Das war der Zukunft wegen zu verhindern. Darin sah ich meine erste positive Arbeitsmöglichkeit und war mir auch klar, daß dieser Versuch nicht in einem starren Zusammengehen mit Deutschland, sondern nur völlig von ihm abgesetzt Erfolg haben konnte. So suchte ich Nadolny im Hotel Carlton auf und sagte ihm, daß ich mit den Franzosen Fühlung zu nehmen plane, um die Bedingungen zu hören, wie ich unser österreichisches Kontingent von 60.000 Mann von der Anrechnung der Heimwehr freihalten könne. Ich bat Nadolny, dies nicht zu mißdeuten. Dieser prächtige Diplomat erkannte klar die Lage, war sofort einverstanden und meinte, daß natürlich ein jeder von uns für sein Land das Möglichste herausholen müsse, was ja letzten Endes uns gemeinsam wieder zum Vorteil gereichen werde.
Da Gesandter Leitmaier und Sektionschef Hecht nicht in Genf waren, besprach ich mich mit unserem ständigen Vertreter, dem Gesandten Pflügel, der seit jeher die Ansicht vertreten hatte, daß ein Zusammengehen mit Deutschland uns schädige, und daher mit meinen Absichten einverstanden war.
So suchte ich den Nachfolger von Generalstabshauptmann Vautrin auf, dessen Name mir leider nicht in Erinnerung geblieben ist, dem mich jedoch der französische Militärattaché in Wien, Commandant Salland, brieflich vorgestellt hatte. Ich erklärte ihm meine Sorge wegen einer eventuellen Anrechnung der Heimwehr auf unser geplantes 60.000 Mann Heereskontingent und bat ihn um Rat, wie das zu verhindern wäre. Er stellte mir die Antwort nach Besprechung mit seiner Delegation in Aussicht.
Ich hatte meinen Gang zu den Franzosen weder öffentlich bekannt gemacht noch irgendwelche Geheimhaltungsmaßnahmen getroffen. Allerdings war ich überrascht, als am folgenden Tag der ungarische FML Siegler es für richtig hielt, mir Vorhaltungen zu machen. Ich wies ihn scharf ab und verbat mir seine Spionage um meine Person; er und sein Verhalten seien mir im übrigen ganz uninteressant. Dem ungarischen Kollegen diese Lektion geben zu können befriedigte mich, denn das bereits berichtete ungarische Verhalten anläßlich der Erörterung der Waffendurchfuhr hatte mich für diese Delegation nicht freundlich stimmen können.
Nach etwa zwei Tagen teilte mir der Capitaine mit, daß in einer der nächsten Assemblees die Frage zur Abstimmung gebracht werde, ob der deutschen SS der Charakter einer militärisch organisierten Formation zukäme. Man bäte mich bloß um Veranlassung, daß Österreich sich bei der Abstimmung der Stimme enthalten möge. Hinsichtlich der Heimwehr werde an mich im militärischen Komitee der jugoslawische General Nadic die Anfrage richten, wie weit dieser ein militärischer Charakter zukomme; ich möge mir eine Antwort zurecht legen; es werde dann gleich darauf zur Abstimmung über meine Darlegung in dem Sinn geschritten werden, daß unser 60.000 Mann Kontingent durch die Heimwehr keine Belastung erfahre. Das war alles, was ich erwarten konnte und in der Form konzilianter, als ich erhofft hatte.
Ich besprach mich darauf mit Pflügel, der sich einverstanden erklärte und der entscheidenden Assemblee fernblieb, damit ich selbst in seiner Vertretung die Stimmenthaltung durchführen konnte. Ich verständigte den Gesandten Nadolny, der angesichts der Lage, die es völlig gleichgültig gestaltete, ob Österreich für oder gegen die SS stimmte oder sich der Stimme enthielt, kein Bedenken äußerte. Ich orientierte auch den deutschen General Schönheinz, der ebenfalls keinen wesentlichen Einwand fand, jedoch sagte, daß er sich bei der Beurteilung der Heimwehr gleichfalls der Stimme enthalten werde, was mir sehr recht war.
Die entscheidenden Abstimmungen verliefen programmgemäß: die deutsche SS wurde bei Stimmenthaltung Bulgariens und Österreichs mit allen Stimmen gegen eine ungarische als militärische Formation erklärt, die Heimwehr dagegen bei Stimmenthaltung Deutschlands und Ungarns mit allen Stimmen als vaterländisch-patriotische Vereinigung anerkannt, somit ohne Belastung des Heereskontingents.
Die ganze Sache war für den Augenblick wohl von geringer praktischer Bedeutung, wirkte jedoch später befreiend für die von Kanzler Dollfuß mit Zustimmung des Völkerbundes vorgenommene Änderung des Wehrgesetzes zur Ergänzung des Bundesheeres durch kurz dienende Mannschaften.
Bei einem durch Unterbrechung der Sitzungen der Abrüstungskonferenz ermöglichten Kurzaufenthalt in Wien erfuhr ich von Minister Vaugoin meine Bestellung zum Militärattaché für Deutschland und die Schweiz. Und ich konnte an einer erhebenden Parade am Heldenplatz teilnehmen, in der sich das Bundesheer erstmals nach dreizehn Jahren wieder in der wunderschönen, altösterreichischen Uniform zeigte, von der Bevölkerung herzlich akklamiert.
Zum Abschluß der Sitzungen der Abrüstungskonferenz kehrte ich noch einmal nach Genf zurück. Ich hatte dort den dramatischen Austritt Japans aus dem Völkerbund anläßlich der Verurteilung seiner Kriegführung gegen China erlebt und empfing in Genf auch die ersten erschütternden Eindrücke nationalsozialistischen Auftretens im Ausland. Der deutschen Delegation in Genf war eine Reihe von Parteifunktionären zugeteilt worden, die durch betont burschikoses Wesen den Vertretern aus aller Welt demonstrierten, wie die bisherige offizielle deutsche Delegation nunmehr von der Partei bei jedem Schritt überwacht und in ihrem Verhalten bestimmt werde. Ich glaubte die Arbeiter- und Soldatenräte von 1918 wiedererstanden zu sehen und empfand für die deutschen Offiziere und Diplomaten herzliches Mitgefühl. Das war der erste Vorgeschmack auf meine bevorstehende Berliner Mission.
Ende Juni war ich wieder in Wien und übergab meine Agenden als Leiter der 1.Abteilung, für die ich nicht viel zu schaffen vermocht hatte.
Die vorstehende Niederschrift habe ich im Jahr 1954 rein sachlich verfaßt, um dem mir sympathisch gewordenen jungen Historiker Dr.Jedlicka bei seiner Habilitation zu helfen. Nun nach sieben Jahren erstmals wieder gelesen, finde ich sie so klar und richtig, daß nichts zu ergänzen oder richtig zu stellen wäre. Als Annex zu dieser Zeit trage ich lediglich die Begebenheiten nach, die meine Familie betreffen.
Nach meiner Versetzung ins Ministerium trat aus den leidigen Wohnungsgründen jene so häufige Familientrennung ein, vor der uns das gütige Geschick zwölf Jahre lang bewahrt hatte. Wohl bot ich dem Ministerium sofort meine St.Pöltner Wohnung zum Tausch an, aber niemand wollte nach St.Pölten übersiedeln, und mein Nachfolger im Brigadekommando, GM.Gebauer, war ein alter Junggeselle, der meine große Wohnung nicht brauchte.
Gen.Schiebel versprach mir jedoch, mir in einem militärärarischen Gebäude Wohnung zu schaffen, was einige Zeit brauchte. Inzwischen bezog ich nahe dem Ministerium in der Ditscheinergasse, einer Nebengasse der Invalidenstraße, ein möbliertes Zimmer zu erschwinglichem Preis bei einer verarmten Witwe nach einem Industriellen . Die Einrichtung war mehr als dürftig. Nur das Bett war breit und gut, so daß meine liebe Frau, wenn sie mich in Wien besuchte, bequem bei mir schlafen konnte. Dabei gefiel ihr die Größe des Zimmers und die verkehrstechnisch gute Lage des Hauses. Finanziell standen wir sogar etwas besser, weil mir die sogenannte Trennungsentschädigung zustand; sie bedeckte nicht nur den Preis des Zimmers, sondern ermöglichte auch meine wöchentlichen Fahrten nach St.Pölten und zurück und dazu noch meine bescheidene Verpflegung in Wien.
Natürlich war es mir stets eine große Freude, wenn mich Mutti am Samstag mit den lieben Kindern am Bahnhof von St.Pölten mit dem um 17h ankommenden Zuge erwartete. Zurück mußte ich am Montag allerdings mit dem 6h-Zug abreisen, um pünktlich wieder in meinem Büro sein zu können. Da stahl ich mich dann immer ganz leise aus der Wohnung, um nicht die Familie und das junge Dienstmädchen Grete in ihrem Schlaf zu stören.
Das Büro in Wien war eine traurige Angelegenheit: Im großen Regierungsgebäude am Stubenring waren zur Zeit der Monarchie das Kriegsministerium und der Generalstab untergebracht gewesen. Während in der Republik die schönen weiten Räume des Kriegsministeriums dem Heeresminister verblieben waren, besetzte das Handelsministerium die ähnlich schönen Räume des Chefs des k.u.k. Generalstabes. Bundeskanzler Dollfuß drang darauf, daß auch das Landwirtschaftsministerium in dem großen Gebäude untergebracht werde. Da die Instandhaltung des großen Hauses zu Lasten des Handels- und Heeresministeriums ging, war Gen.Schiebel froh, nun einen Teil dieser Lasten auf das Landwirtschaftsministerium überwälzen zu können und übergab deshalb mit Ausnahme der Ministerräumlichkeiten alle schönen, großen Räume dem Landwirtschaftsministerium. Das Heeresministerium behielt die schlechtesten und darum billigsten Räume, diese aber nicht einmal geschlossen neben- und übereinander, sondern im Haus verstreut, wo immer eben kleine, dunkle Räume lagen. Unter diesen Umständen bekam die 1.Abt., bei der sich die wirklich geheimen Landesverteidigungsaufgaben konzentrierten, die am leichtesten zugänglichen und am schwersten zu überwachenden Zimmer im Parterre rechts vom Hauseingang. Mein Chefzimmer lag ganz am Ende des Ganges frei zugänglich, hatte nur ein Fenster westseitig und bekam daher nie einen Strahl Sonne. Das ganze war ein echter Genieblitz Schiebels, der sich gemeinsam mit Sektionschef Dr.Hecht im Heere zurecht den tit „Heeresverderber” erworben hatte. Mein Vorgänger als Leiter des 1.Abt., GM.Tarbuk, hatte im Glauben, seiner Stellung ein höheres Ansehen zu geben, dieses Zimmer mit einer riesengroßen ledernen Sitzgarnitur so voll gestellt, daß man sich kaum rühren konnte. Wie oft habe ich mich da nach St.Pölten zurückgesehnt, nach dem freien Blick in die herrliche Bergwelt um den Ötscher!
Ich schildere diese trostlosen Verhältnisse darum so eingehend, weil ich die gleichen Räume zwei Jahre später als Sektionschef und Chef des Generalstabes wieder beziehen mußte. In der Monarchie hatte man Verständnis dafür, daß die in höherem Alter stehenden Sektionschefs eines gewissen Komforts bedurften, da ihre Amtsstunden unbegrenzt lange, oft in die Nächte hinein dauerten. Darum hatte jedes Sektionschefzimmer in dem 1912 fertig gewordenen Ministerialgebäude am Stubenring als unmittelbaren Nebenraum ein Badezimmer mit Closett und einem Ruhedivan. Ich mußte als Chef des Generalstabes einen Marsch von 200 Schritten machen, um das beim Haupttor gelegene Closett zu erreichen, das gleichzeitig der Abtritt für die Wache, die Chauffeure und Aufzugwärter war.
Ich habe keinen Kampf um bessere Unterbringung im Haus geführt, weil mir dazu Zeit und Lust fehlten. Mir brannten die in fieberhafter Eile zu leistenden Arbeiten für die Landesverteidigung auf den Fingern. Zudem wäre ein Erfolg nur nach sehr langer Zeit zu erreichen gewesen; denn Gen.Schiebel hatte ja alle Chancen freiwillig an die Zivilministerien vergeben.
Besser stand es mit meiner künftigen Privatwohnung: im Kommandogebäude der Universitätsstraße, das sich dort befand, wo sich heute der neue Riesenblock der Universitätsinstitute erhebt, war im ersten Stock das sonnseitige Eck Liebiggasse-Ebendorferstraße verfügbar geworden. Heeresbaudirektor Stelzel (übrigens ein Vetter des geschiedenen Mannes meiner Cousine Else) richtete mir dort eine schöne Vierzimmerwohnung her, für die ich nur die Badezimmereinrichtung aus eigenen Mitteln beizustellen hatte.
In meinen freien Stunden besah ich mir diese Wohnung genau. Ganz klar: das so lange hinausgeschobene Speisezimmer mußte nun gekauft werden; in den neuen Räumen genügte unser Provisorium aus St.Pölten nicht mehr. Ich ließ mir einen Überblick meiner Reise- und Aufenthaltsgebühren für Genf erstellen. Gleichgerichtet mit denen der Herren des Auswärtigen Amtes waren diese erstaunlich hoch. Wenn ich mir dabei die denkbar größte persönliche Beschränkung auferlegte, so ließen sich namhafte Beträge ersparen, die für unsere so sehr knappe Lebensführung von Bedeutung waren.
Als ich mich jedoch in den Möbelgeschäften nach einer Speisezimmereinrichtung umsah, waren die Preise für uns unerschwinglich. Das führte mich in verschiedene Geschäfte, in denen Möbel aus zweiter und dritter Hand dargeboten wurden. Schließlich fand ich in der Schleifmühlgasse das Speisezimmer, das wir heute besitzen, allerdings ohne Tisch und Anrichte. Als Judith bei ihrem nächsten Wien-Besuch mit meiner Wahl einverstanden war, erwarb ich die Einrichtung staunenswert billig. Den Speisetisch und den Anrichtetisch dazu ließ ich vom Tischler des Möbelhändlers anfertigen.
Erstmals war ich im Februar 1931 für etwa einen Monat in Genf, wo wir Österreicher ja im bescheidensten der für die Auslandsvertreter in Betracht kommenden Hotels wohnten. Mein Kalkül über die möglichen Einsparungen wurde zu meiner großen Freude sogar übertroffen. Es war das erstemal in unserer Ehe, daß ich über den Monatsgehalt hinaus etwas Geld zusammenlegen konnte.
Anfang Mai war meine Frau für eine Woche an den Plattensee gefahren, wo sich wieder ihre Familie zusammenfand.
Bei einem kurzen Aufenthalt in Wien also, den ich infolge der Sitzungsunterbrechungen in Genf machen konnte, um Minister Vaugoin über meinen Plan, die Freizählung der Heimwehren vom Heeressoll, zu berichten, eröffnete mir dieser, daß ich zum Militär- und Luftattaché für Berlin in Aussicht genommen sei, weil mich Bundeskanzler Dollfuß dort brauche. Beim nächsten Besuch in St.Pölten besprach ich das, vorerst geheim, mit meiner Frau. Sie war zunächst erschrocken und der Meinung, daß sie als Generalsfrau wohl in St.Pölten entspreche, sich aber den Anforderungen meiner neuen Stellung in Berlin nicht gewachsen fühle. So mußte ich ihr erst Mut zusprechen und ihr versichern, daß ich dort viel mehr freie Zeit haben und mich zu ihrer Entlastung viel der Haushaltführung werde widmen können, besonders hinsichtlich der nötigen Repräsentationen.
Die physische Leistungsfähigkeit meiner Frau war tatsächlich durch Schmerzen in den Knien etwas gemindert. Ich selbst - ein sonst unermüdlicher Geher - hatte an mir ähnliche Wahrnehmungen gemacht und die Beschwerden nach Rücksprache mit dem Sportarzt des Dianabades durch Senkfuß-Einlagen völlig behoben. Daher riet ich ihr, sich mit einem Orthopäden zu beraten. Die Füße meiner Frau waren aber der heikelste Besprechungspunkt. Ich hatte im Lauf der Ehe wohl wahrgenommen, daß sie einen Fuß platt und etwas verstellt hatte; eine Folge der in ihrer Kindheit nicht sofort eingeleiteten Korrektur, zu welchem Schaden noch die Eitelkeit meiner sehr kleine Füße habenden Schwiegermama gekommen war, ihrer Tochter grundsätzlich zu kleine Schuhe zu kaufen. Die Füße waren ausgesprochenes Erbe ihres Vaters, und sie vertrug es einfach nicht, daß davon - auch in bester Hilfsabsicht - gesprochen wurde. Ihre Stépan-Großmutter apostrophierend, brach sie jedes Gespräch über ihre Füße einfach mit der bitteren Äußerung ab, das sei eben die Folge, wenn so eine simple Frau in ein Adelsgeschlecht eingeheiratet werde.
Außerdem war meine Frau auch seelisch bedrückt von Balatonfüred zurückgekehrt. Der dortige Arzt hatte nach einer Magen-Röntgenuntersuchung den Verdacht auf Magenkrebs bei ihrem über alles geliebten Vater ausgesprochen. Das erschütterte sie so sehr, daß sich auch ihr durch die im Jahre 1918 überstandene spanische Grippe dauernd lädiertes Herz unangenehm bemerkbar machte.
Wir besprachen das alles französisch, und die Kinder waren sehr ungehalten, unserer Konversation nicht folgen zu können.
Schließlich kam der Gedanke auf, beide Kinder für die Zeit des Berliner Aufenthaltes, den ich nicht für sehr lange hielt, in ein Pensionat zu geben. Judith schwärmte noch immer von ihrer Pensionatszeit in Vevey in der Schweiz und ihrem Leben in London. Die Mädeln zu den Englischen Fräuleins zu geben wäre allen das Liebste gewesen; aber intern nahmen diese nur katholische Kinder. Da wurde uns beiden erstmals so recht bewußt, wie unsere Mischehe sich für die Kinder übel auswirkte. Bei der zwischen Österreich und Nazi-Deutschland bestehenden Spannung hatte der Gedanke, unsere Kinder nicht nationalsozialitischen Schuleinflüssen auszusetzen, so viel für sich, daß ich versprach, mich in Wien umzusehen.
Schließlich vereinbarten wir, unseren Umzug nach Wien noch vor der Versetzung nach Berlin durchzuführen und dorthin zunächst bloß Kleider und Wäsche mitzunehmen. Bei einer Glashandlung erbat ich einen sachkundigen Packer für unser Glas und Porzellan, das wir kurz vorher für unsere Wiener Wohnung hatten ergänzen lassen.
In Wien erfuhr ich dann von dem zu unserer Wohnung in der Liebiggasse sehr günstig gelegenen Beamten-Töchterheim in der Langegasse. Das war wohl kein Nobel-Pensionat, wofür wir auch nicht die Mittel besessen hätten, doch hatten sie ein renommiertes Mädchen-Realgymnasium. Dort ließ ich unsere beiden Kinder für das kommende Schuljahr vormerken.
Dann mußte ich wieder zurück nach Genf. Als mir dort der im ersten Teil beschriebene Erfolg mit der Freihaltung des Heeres von der Anrechnung der Heimwehr auf seinen Sollstand gelungen war, überrechnete ich meine Ersparnisse, die es nun ermöglichten, meiner Familie eine außergewöhnliche Freude zu bereiten: da ich zu Pfingsten nicht daheim sein konnte, sollte Judith mit den Kindern, sozusagen als Abschied von der schönen Umgebung dieser kleinen Stadt, ein paar frohe, von Geldsorgen ungetrübte Tage in Mariazell verbringen. Ich bestellte für sie von Genf aus im Hotel Feichtegger ein schönes Appartement und hatte nachher viel Freude über die Erzählungen, wie schön die sonnigen Tage in dieser herrlichen Gegend gewesen waren.
Für mich folgten randvoll ausgefüllte Tage: die Überführung der Möbel von St.Pölten nach Wien, wo in der neuen Wohnung nur die Betten aufgestellt wurden, um dort bei kurzen Aufenthalten schlafen zu können. Alles andere blieb verpackt im großen Vorzimmer aufgestapelt. Das Badezimmer funktionierte einwandfrei, doch in der Küche war zunächst bloß ein Gasrechaud für die Frühstücksbereitung montiert.
Da ich mit Zivilkleidung schon für Genf gut versorgt war, konnte ich den mir bewilligten Kleiderausrüstungsbeitrag fast ganz für die Garderobe meiner Frau einsetzen, wobei sie auch einen Persianer-Pelz bekam. Ich hatte die große Freude zu beobachten, wie sich unter dem Einfluß der reicheren Kleiderausstattung, der leichteren sonstigen Geldgebarung und meinen Erzählungen über das in mich gesetzte Vertrauen, ihr Selbstgefühl und ihre Sicherheit im Auftreten von Tag zu Tag steigerten. Dazu kam, daß die von ihr in St.Pölten gewonnene Freundin, Frau Anni Nimmerrichter, sich bereit erklärte, bestens für unsere lieben Kinder während der Pensionatszeit zu sorgen. Der alte Goethe hatte schon recht: „Wenn man sich zu lange in engen, kleinen Verhältnissen herumdrückt, so leiden Geist und Charakter; man wird zuletzt großer Dinge unfähig und hat Mühe sich zu erheben.” Meine liebe Frau lebte unter unseren nun leichter gewordenen finanziellen Verhältnissen sichtlich auf. Und das war gut so, denn ich brauchte in Berlin eine tüchtige, treue Helferin!
Als wir unsere Kinder in Abapuszta bei den guten Großeltern deponiert hatten, blieben uns in Wien noch drei bis vier Tage, die wir mit der Besorgung aller für das Mädchenpensionat vorgeschriebenen Dinge und einiger Anschaffungen für die Wiener Wohnung verbrachten. Am 15.Juli, Vorabend meines Geburtstages, an dem ich mein 49.Lebensjahr vollendete, führte ich meine Frau nach Grinzing, wo wir erstmals eine „Heurigen-Schenke” besuchten.
Am folgenden Morgen reisten wir vom Franz-Josephs Bahnhof über Prag-Dresden nach Berlin. Bis Prag kannten wir die schöne, durch das reiche Land führende Bahn von einem Kuraufenthalte in Karlsbad, den ich nach meinem ersten schweren Gallenanfall gebraucht hatte. Auch bis Dresden, mit dem engen Gebirgsdurchbruch der Elbe, war die Fahrt reizvoll. Dann aber begann die uns trostlos erscheinende sandige Ebene bis Berlin. Obwohl Judith an die Ebene von Ungarn her gewöhnt sein sollte, bedrückte sie plötzlich diese ganz anders aussehende Tiefebene in ihrer trostlosen Abwechsungslosigkeit: es fehlten die ungarischen Akazienreihen, es schien nur Sand zu geben.
Schließlich kamen wir nach dreizehnstündiger Fahrt in Berlin an. Vorerst nahmen wir in einer uns empfohlenen, nahe dem Wittenberger Platz gelegenen bayrischen Pension Wohnung. Die große Stadt mit ihrem treibenden Leben nahm uns alsbald auf.
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG