FML JANSA
«Aus meinem Leben»
VII
STABSCHEF und BRIGADEKOMMANDANT
Wien
11.XI.1918 - 1.II.1919
Wenn mich schon während des Krieges jeder vorübergehende Aufenthalt in Wien - die Zeit meiner Verlobung ausgenommen - ungut beeindruckt hatte, so war das jetzt aufgezwungene Leben unter kümmerlichsten Bedingungen mit einer hoffnungslosen Zukunft vor Augen zermürbend. Das Bestreben der sozialdemokratischen Partei, die von Kaiser Karl in unfaßbarem Großmut allen gegebene Freiheit in eine Revolution umzulügen, war mir bis zum Ekel widerlich.
Um keine Möglichkeit zu versäumen, meldete ich mich trotzdem im Staatsamt für Heerwesen zur Dienstleistung an. Die dort schon tätigen Kameraden Friedländer und Hubicki rieten mir ab, mich bei der halb kommunistischen Volkswehr zu betätigen und lieber zuzuwarten, bis etwas Klarheit in die undurchsichtige politische Lage käme. Bevor nicht ein offizieller Friedensvertrag geschlossen sei, gebe es nur Provisorien. Obwohl es nicht meine Art war, die Hände in den Schoß zu legen und zu warten, stimmte ich diesmal zu und verlangte nur in Vormerkung zu bleiben. Das wurde mir zugesichert.
Einmal gab es in der dem Kriegsministerium gegenüber gelegenen Handelskammer eine Versammlung der Generalstabsoffiziere, in der mehrere Herren ihre trüben Informationen über die Lage mitteilten. Es wurde beschlossen, in Abständen wieder zusammenzukommen, um Neues zu hören. Dazu wurde bekannt, daß der dem Generalstab zugehörige Obst.Theodor Körner an der Seite des sozialdemokratischen Staatssekretärs Julius Deutsch arbeite und zu unserer Versammlung eingeladen worden war. Deutsch war Reserveleutnant der Artillerie und hatte schon lange eine Stelle im Ministerium innegehabt.
Als Körner erschien, wurde er zuerst als der im Krieg verdiente Mann freundlich begrüßt. Als er dann das Wort nahm und sagte, daß nur ganz wenige Herren mit einer Verwendung im künftigen Heer Österreichs rechnen dürfen und es gut sein werde, sich im zivilen Leben um Verdienstmöglichkeiten umzusehen, wurde auch das verständnisvoll aufgenommen. Als Körner jedoch begann, uns ein Umdenken nahezulegen, alle erhaltenen Kriegsauszeichnungen als „Kinkerlitzen” beiseite zu tun, sich der roten Politik zu fügen, ging ein Sturm der Entrüstung los, dem Körner überlegen lächelnd mit der Mitteilung begegnete, daß er der sozialdemokratischen Partei beigetreten sei. Er bekam unerwartet Beifall durch den mir damals noch unbekannten, aus der Kavallerie hervorgegangenen, dem Generalstab bloß zugeteilt gewesenen Mjr.Höberth, der uns in rüdester Form zurief, alle bisherige Gesinnung abzutun und gute Republikaner zu werden. So durfte man uns nicht kommen! Empört verließ der Großteil der Generalstabsoffiziere den Saal. Ich habe keine solche Versammlung mehr mitgemacht. Jedermann konnte der Intelligenz von Generalstabsoffizieren zutrauen, daß sie - wenn auch politisch unerfahren - einsahen, daß ein Zeiten- und Formenwechsel eingetreten war, dem man sich mehr oder weniger fügen mußte. Aber es war ein schwerer Fehler der österreichischen Sozialdemokratie und ihres militärischen Beraters Körner, die Presse und die Arbeiterschaft dahin aufzuhetzen, täglich den Kaiser und seine Familie, die alte ruhmreiche Armee und deren Offiziere in der ordinärsten Weise zu beschimpfen, die Pflichterfüllung der Offiziere als Dummheit hinzustellen, sie tätlich anzugreifen sowie ihnen gewaltsam Rangabzeichen und Kriegsauszeichnungen abreißen zu lassen. Schließlich hatte es die vom Generalstab geführte Armee zuwege gebracht, durch viereinhalb Jahre die vielfach überlegenen Feinde vom heimatlichen Boden nicht nur in Österreich, sondern auch in Böhmen, Ungarn und Bosnien-Herzegovina-Dalmatien fernzuhalten! Das Verhalten der Sozialdemokratie war die schäbigste und verächtlichste politische Kampfweise.
Der junge Historiker Dr.Ludwig Jedlicka hat in sehr abgeklärter Weise diese Zeit und die folgenden Jahre in seinem Buch «Eine Armee im Schatten der Parteien» dargestellt. Dessen Lektüre kann ich zu dem hier kurz Gesagten sehr empfehlen.
Mein Bruder Heinrich riet mir, mich im Baufach umzusehen, wo immer Menschen benötigt würden. Da ich hiefür keine Ausbildung hatte, sonach nur als Hilfsarbeiter Verwendung finden konnte, paßte mir das zunächst nicht. Ich dachte mehr an eine geschäftliche Betätigung im Handel. Da ab 1.Dezember an der Handelsakademie nächst dem Künstlerhaus ein Kurs für Offiziere anlief, ließ ich mich dort gegen ein ziemlich hohes Studiengeld einschreiben und besuchte diesen.
Große Sorge bereitete mir die Unmöglichkeit, mit meiner Braut in Verbindung zu bleiben. Die Post in das kommunistisch gewordene Ungarn war wie abgeschnitten. Dabei wäre eine Verbindung dringend notwendig gewesen, denn alle Voraussetzungen einer gesicherten Lebensstellung, die meiner Brautwerbung zugrunde gelegen waren, erschienen nun völlig zusammengebrochen. Es war ganz unsicher geworden, was für eine Existenz ich meiner künftigen Frau bieten können würde. Nicht, daß ich daran dachte, die Verlobung meinerseits zu lösen; meine Braut hingegen mußte ich völlig freigeben, damit sie selbst nach ihrem Gutdünken entscheide. Mitte Dezember kam als erste Nachricht ein Telegramm meiner künftigen Schwiegermutter aus Debrecen mit dem ungefähren Inhalt: „Judith außer Lebensgefahr. Wir sind bei Luise néni und würden Dich gerne sehen.” Das schlug wie ein Blitz ein: was war geschehen? Wie viel Post und Briefe fehlten da?
Heute weiß ich nicht mehr, wie und wo ich mir Reisedokumente verschaffte. Ich weiß nur, daß ich in kürzester Zeit in einem trostlosen Zug saß, dem die Fensterscheiben und breiten Riemen an den Fensterrahmen fehlten, und im übervollen Abteil schließlich doch nach Budapest kam. Gegen ein gutes Trinkgeld ließ mich der Portier des Hotels London am Platz vor dem Westbahnhof auf dem wenig sauberen Lager seiner Portierskoje schlafen, weil kein Bett aufzutreiben war. Um 6h früh ging ein ebenso jammervoller Zug nach Debrecen ab, welches ich gegen Abend erreichte. Sofort suchte ich Luise néni auf, die eine Nichte des vormaligen katholischen Bischofs war, weshalb ihre Wohnung nahe der katholischen Kirche lag. Für die Frauen war ich unerwartet rasch eingetroffen und wurde mit überströmender Herzlichkeit begrüßt. Meine liebe Braut war schwach und sehr abgemagert. Sie war nach der Flucht von Aba puszta bei Luise néni an der damals grassierenden schweren spanischen Grippe erkrankt gewesen und nach 48stündiger Krise mit dem Leben davongekommen; ein schwerer Herzklappenfehler blieb ihr.
Die Flucht von Aba war erfolgt, weil die Arbeitsbauern eine räuberisch drohende Haltung gegenüber den Frauen eingenommen hatten. Der einzige, der sie beschützt hatte, war der italienische Kriegsgefangene Mateo aus Gemona gewesen; der begleitete sie nach Debrecen, von wo er dann seiner Heimat zustrebte. Judiths Vater Lászlo war von Debrecen nach Nagyvárad vorausgefahren, wo die Familie ihre Stadtwohnung hatte. Die Frauen sollten am nächsten Tage folgen. Ich war gerade noch rechtzeitig gekommen, um sie nach Nagyvárad zu geleiten.
Judiths Bruder Georg war auch in Debrecen gewesen, dann aber, von der Mutter mit Geld versorgt, nach Budapest gefahren, um dort an der Technik sein durch den Krieg unterbrochenes Studium wieder aufzunehmen. Onkel Adám war schon vor Kriegsende nach Debrecen gekommen und hatte bei einer Witwe am Simonyi út ein gutes Unterkommen gefunden. Er kam zufällig am Abend meiner Ankunft zu Luise néni. Unsere Begegnung war von alter Herzlichkeit getragen, und Adám wollte mich unter Erklärung aller möglichen und unmöglichen Gründe unbedingt zu einem ungarischen Staatsbürger machen. Er glaubte, daß Ungarn sich viel rascher als Österreich konsolidieren werde und bot mir zur raschen Erledigung meine Adoption durch ihn an. Ich wollte seine alte Liebe zu mir nicht kränken und verbarg meine entschiedene Ablehnung unter allen möglichen schonenden Gründen.
Als er schließlich gegangen war, umarmte mich Judith, die unserem Gespräch mit großer Aufmerksamkeit gefolgt war, und sagte ganz spontan: „Nimm mich heraus aus diesem schrecklichen Land!” Ich erklärte den Frauen, daß es auch in Österreich drunter und drüber gehe und ich Judith keineswegs jene gesicherte Existenz zu bieten vermochte, unter deren Voraussetzung wir uns verlobt hatten. Judiths Antwort war klipp und klar: sie habe mir ihr Ja-Wort nicht meiner Stellung wegen gegeben, sondern weil sie mich liebe. Und mit dieser Liebe sei sie gewillt, mit mir durch dick und dünn zu gehen; ihr Ja-Wort bei der Verlobung sei ihr nicht weniger ernst gewesen, wie das vor dem Altar sein werde. Ich war überglücklich! Trotz ihres geschwächten Gesundheitszustandes hatte sie die von mir erwartete Entscheidung mit einer ihre Mutter, Luise néni und mich erschütternden Klarheit und Bestimmtheit getroffen; sie vertraute mir auch unter den unsagbar schwierig gewordenen Verhältnissen aus ganzem Herzen. Wie sehr diese Liebe meine Willenskraft belebte, brauche ich kaum zu schildern. Durch sie gewann ich die Zuversicht, alles Kommende irgendwie zu meistern.
Aus Schonungsgründen brachten wir Judith bald zur Bettruhe, während ich mit meiner Schwiegermutter und Luise néni noch lange im Gespräch beisammen blieb. Der Schock, den die erzwungene Flucht aus Aba puszta meiner Schwiegermutter, dieser stolzen, ungarisch-calvinischen Frau, gegeben hatte, war so groß, daß sie mich in ihre Arme schloß mit der Bitte, ihr Kind möglichst rasch aus Ungarn nach Österreich zu nehmen. Diesen Gesinnungswandel hätte ich nicht für möglich gehalten und er beruhigte mich für alle Zukunft tief.
Am folgenden Tag fuhren wir mit einem auf der Vizinalbahn staunenswert in Ordnung gebliebenen Zug nach Nagyvárad, wo uns mein künftiger Schwiegervater erwartete. Der gute Herr liebte am Essen keine Beschränkung, und es war staunenswert, was alles er für die Küche zu organisieren verstanden hatte. Im Vergleich mit Wien lebten wir hier die nächsten Tage wie im Schlaraffenland.
Mein Schwiegervater war über die kommunistischen Verhältnisse in Ungarn wohl sehr verärgert, hatte jedoch, um Ruhe zu haben, nicht gezögert, der kommunistischen Partei beizutreten und sich für die Ausübung des Tischlerhandwerks anzumelden, das er in der beim Kader seines alten Regimentes errichteten Werkstätte auch tatsächlich ausübte. Überhaupt beobachtete ich interessiert, mit welcher Leichtigkeit das ungarische Bürgertum speziell in Nagyvárad aus dem national-ungarischen Denken heraus und der Angst vor den begehrlichen Rumänen der kommunistischen Partei beitrat. Dem ganzen Bekanntenkreis meiner Schwiegereltern aus Ärzten, Literaten, Offizieren, Großkaufleuten, die ich in diesen Tagen kennenlernte, bereitete es keine Schwierigkeit, sich bei der Partei einzuschreiben, weil man dadurch die Einheit Ungarns erhalten zu können glaubte. Wie bitter sollte die folgende Zeit sie anders belehren!
Er erzählte mir auch, daß er sein Honvéd-Rgt.Nr.1 geschlossen und in guter Haltung im Eisenbahntransport von Ober-Italien nach Budapest gebracht hatte. Am Bahnhof traten Zivilisten mit rotweißgrünen Armbinden an ihn heran und stellten sich als Vertreter der Stadt Budapest vor, die das Heimatregiment begrüßen und bedanken möchten; er möge gestatten, daß sie ein paar Worte an das Regiment richten dürfen. Arglos bewilligte ihnen mein Schwiegervater dies. Der Redner, natürlich ein kommunistischer Führer, dankte den Soldaten in schmeichelnden Worten für ihre in den vergangenen viereinhalb Jahren bewiesene Tapferkeit, sagte, daß die Stadt Budapest stolz auf ihre Söhne sei und alles tun werde, um ihnen die Wiederaufnahme ihrer zivilen Tätigkeit zu erleichtern. Der Krieg sei beendet und im Interesse der Einheit der ungarischen Nation fordere er Offiziere und Soldaten auf, hier am Bahnhof alle ihre Waffen sofort abzulegen und sich als friedliche und freie Männer zu ihren Familien zu begeben. Dieser Aufforderung wurde bedenkenlos Folge geleistet und nach einer Viertelstunde gab es kein Honvéd-Regiment mehr. Die Waffen kamen reibungslos in die Hände der schon wartenden roten Terrorformationen. Um wieviel klüger hatten sich da die ungarischen Kommunisten gezeigt als die österreichischen Sozialdemokraten, die ihre heimkehrenden Soldaten beschimpften. Nur dadurch ist es auch zu erklären, daß die kommunistische ungarische Regierung sehr bald wieder eine sich gegen die in Ungarn einrückenden Tschechen sehr gut schlagende Armee beisammen hatte. Das nationale ungarische Einheitsstreben erwies sich in dieser Zeit stärker als das Erkennen der kommunistischen Teufelei.
Mit meinem Schwiegervater besprach ich ganz offen die schwierigen Verhältnisse in Österreich. Er billigte meine Absicht, eine Existenzmöglichkeit, sei es im Handel oder in irgendeiner anderen Form, unter die Füße zu bekommen, um dann heiraten und Judith zu mir nehmen zu können. Wie hoch das Ansehen eines Generalstabsoffiziers damals - trotz aller neidvollen schlechten Witze - war, konnte ich am Glauben meiner Schwiegereltern ermessen, die es als sicher annahmen, daß es mir schnell gelingen werde, eine Position zu finden, die mir die Familiengründung möglich machen werde. Ich mußte damals sehr ernst auf die verzweifelte Ernährungslage, besonders in Wien, auf den Mangel einer eigenen Wohnung und die Unmöglichkeit der Gründung eines eigenen Hausstandes hinweisen. Ich versprach, mit meiner ganzen Energie alles zu tun, um die Hochzeit so rasch wie möglich halten zu können. Hiezu mußte ich nun auch rasch nach Österreich zurück. Das sahen alle ein, und so fuhr ich nach einigen Tagen zurück nach Wien.
Anläßlich dieser Reise erlebte ich einen schönen Beweis echter ungarischer Ritterlichkeit: Bei der damals auf den Bahnhöfen herrschenden Unordnung war es mir in Nagyvárad nicht möglich gewesen eine Fahrkarte zu lösen. So stieg ich ohne eine solche in den schon vollen Zug. Unterwegs kam ein höherer Bahnbeamter in Zivil, bloß mit einer Kokarde an der Brust gekennzeichnet, kontrollierte die Fahrkarten und ließ alle, die keine hatten, in der jeweils nächsten Station erbarmungslos aussteigen. Als er zu mir kam, erklärte ich ihm, warum ich ohne Karte sei und bat um die Ausstellung einer solchen ab Großwardein. Auf seine Befragung erwiderte ich, daß ich der letzte Generalstabschef der Budapester 10.Kavalleriedivision gewesen war, worauf er mir eine Freikarte bis zur Grenze ausstellte mit dem Beifügen, daß Ungarn mir damit danke. Meine Gegenfrage, ob er in dieser Division gedient habe, verneinte er und ging weiter. Diese noble Haltung ist mir in angenehmer Erinnerung geblieben.
Wieder in Wien eingelangt, nahm ich jeden Abend am Kurs in der Handelsakademie teil und lernte zu bleibendem Nutzen kaufmännisches Rechnen, Buchhaltung, Wechsel-, Kredit- und Devisenbestimmungen sowie Versicherungswesen. Tagsüber korrepetierte ich den Lehrstoff des Abendkurses, sah mich aber auch viel wegen einer Verdienstmöglichkeit im privaten Leben um. Damit sah es übel aus: wo ich anklopfte, waren freie Stellen schon an Offiziere vergeben, die entweder selbst den Familien der Industrie und Kaufmannschaft entstammten oder in dieses Milieu geheiratet hatten. Meine lange Abwesenheit im Frieden in Bosnien und während des Krieges hatte mich in Wien ganz unbekannt gemacht. Auch alles Umsehen um eine eigene Wohnmöglichkeit schien völlig aussichtslos. Denn in Wien strömten nicht nur wir Österreicher, sondern deutsche Beamte und Offiziere aus allen Kronländern der alten Monarchie zusammen.
Eine Stellungsmöglichkeit eröffnete sich ebenso glänzend, wie sie gleich wieder versank: Durch Zufall begegnete ich dem jungen Artillerie-Reserveoffizier aus Prag, der bei der 6.Armee in Italien in der Gruppe des Gasbeschusses arbeitete, wohin ich auch meinen künftigen Schwager Georg gebracht hatte. Dieser junge und sehr sympathische, fein erzogene Hebräer schätzte mich sehr hoch und hatte schon in Vittorio einmal angeklopft, ob ich nicht seine Mutter und die einzige Schwester besuchen möchte, die mich aus seinen Erzählungen und Photos, die er ihnen gezeigt hatte, kannten und mich gerne persönlich kennen lernen würden. Seine Schwester sei ein sehr schönes, sehr gut erzogenes Mädchen. Er selbst war nach dem frühen Tod seines Vaters Erbe eines namhaften Vermögens und Großaktionär der Poldihütte, eines der größten Eisenfabriksunternehmen in der Tschechoslowakei. Auf seine Frage, was ich jetzt in Wien mache - er sei aus Geschäftsgründen hier -, erzählte ich ihm von meinem Lernen an der Handelsakademie und meinem Umsehen nach einer geeigneten Verdienstmöglichkeit. Darauf erwiderte er prompt, ich möge nicht in Wien suchen, sondern nach Prag kommen, wo er mich in der Poldihütte plazieren könne. Ich hatte schon in Vittorio empfunden, daß ich ihm als Mann für seine Schwester, an der er sehr hing, willkommen wäre, aber geglaubt, daß er durch Georg wisse, daß ich schon verlobt sei. Jetzt erzählte ich ihm, daß ich vor ein paar Tagen von meiner Braut gekommen sei, wo unsere seelische Verbindung sich noch mehr vertieft habe. Er wiederholte sehr taktvoll, daß er mich in der Poldihütte plazieren könnte; aber ich müsse nach Prag kommen; bei der sehr reduzierten Werkvertretung in Wien könne ich nur eine geringe Position haben. Ich gab meiner Freude über unsere Begegnung Ausdruck, und wir verabschiedeten uns in gegenseitiger Hochachtung. Ich bin ihm im Leben nicht mehr begegnet.
Ein Lichtpunkt in dieser schweren Zeit war das hochanständige Verhalten der österreichischen Regierung, die sich bereit erklärte, allen Offizieren und Beamten solange das entsprechende Gehalt zu zahlen, bis sie sich eine neue Existenz geschaffen hätten. Damit war wenigstens der gefürchtete Zeitdruck gemildert.
Als ich Ende Januar wieder einmal im Staatsamt für Heerwesen vorsprach, fragte der dort beschäftigte Hptm.v.Hubicki, ob ich nicht nach Salzburg gehen könnte. Aus devisentechnischen Gründen errichte das Finanzministerium dort unter Hofrat Graf Künigl eine Briefzensurstelle und verlange einen Generalstabsoffizier als dessen Stellvertreter. Sofort sagte ich zu. Wien in seinem trostlosen Nachkriegszustand, an das mich außer meinem Bruder nichts band, machte mir den Abgang in die Provinz leicht. Hubicki sagte, daß mich das Staatsamt für Heerwesen weiter evident halten würde.
Der Abschied von Heinrichs Familie war rasch geschehen. Mit einem Nachtzug traf ich bereits am 2.Februar in Salzburg ein.
Salzburg
2.II.1919 - 31.VIII.1920
Damals kannte ich die Stadt nur von einem kurzen Besuch im Jahr 1902, den ich beim pensionierten, sehr wohlhabenden Obersten Kieslinger und seiner Familie kurz nach meiner Ausmusterung aus der Kadettenschule gemacht hatte. Ihre Schönheit war mir jedoch in guter Erinnerung geblieben. Als ich am frostklaren Wintermorgen mit meinem kleinen Köfferchen in der Hand auf den Bahnhofsvorplatz trat, von wo ich den schneebedeckten, von der Sonne leuchtend bestrahlten Untersberg erblickte, war ich glücklich, weil ich deutlich empfand, daß Judith sich hier wohlfühlen werde. Während ich überlegte, wie ich am besten und billigsten von dem ziemlich weit außerhalb liegenden Bahnhof in die Stadt kommen könnte, blieben meine Augen an einem handgeschriebenen Zettel haften, der an einer Telegraphensäule aufgeklebt war. Darauf stand, daß in Maxglan, Ganshofgasse 13a eine Dreizimmerwohnung zu mieten wäre. Blitzartig erkannte ich die Gelegenheit, die man sofort nützen mußte. Ich sprang in den nächsten Einspänner und gab ihm die gelesene Adresse als Fahrziel.
Nach längerer Fahrt durch die Stadt und den Mönchsbergtunnel hielt der Wagen vor einem netten, zwischen Gärten gelegenen, anscheinend neu gebauten Landhaus. Ich trat ein und fand im Parterre zwei Damen über die Vermietung der leeren Wohnung sprechen; ich stellte mich als Major vor. Als ich hörte, daß die jüngere, an der Wohnung interessierte Dame sich unsicher zeigte und Bedenkzeit wünschte, erklärte ich, daß mir die Wohnung gefiele, ich sie prompt mieten und gleich einen Dreimonatszins im voraus erlegen wolle. Die Hausfrau war einverstanden. Ihrerseits stellte sie sich als Gattin eines älteren Regimentsarztes vor, der jetzt eine Zahnarztpraxis führte. Gleich stieg ich mit ihr in den ersten Stock, stellte mich ihm ebenfalls vor und unterschrieb den Mietvertrag, nachdem auch er einverstanden war und mir einen kleinen Teil des Gartens zum Gemüseanbau zusicherte.
Gegenüber meiner neuen Wohnung lag der „Ganshof”, in dem ich abstieg und in der Folge von der Gastwirtin mit Abendessen gut versorgt wurde. Die gemietete Wohnung blieb zunächst leer in meinem Besitz.
Das war ein glücklicher Anfang. So rasch zu einer Dreizimmerwohnung mit Küche, Keller- und Dachbodenabteil zu kommen, in freier, schöner Lage mit Aussicht auf den Untersberg, war kaum zu erwarten. Diese frohe Kunde schrieb ich natürlich sofort an Judith und Heinrich und bat beide, die uns oder mir gehörigen Sachen gleich herzusenden. Heinrich entsprach meiner Bitte umgehend, und so konnte ich die Wohnung wenigstens mit der Sattelkiste und ein paar Koffern effektiv belegen, was angesichts der allgemeinen Wohnungsnot von Bedeutung war.
Dann meldete ich beim Platzkommando mein Eintreffen in Salzburg, wo ich erfuhr, daß die Zensurstelle am Bahnhofspostamt amtiere. Dort stellte ich mich bald vor. Hofrat Graf Künigl war in der Bukowina Bezirkshauptmann gewesen und hatte die Zensurstelle ebenso als Verlegenheitsposten erhalten wie ich und sechs bis acht andere Offiziere unsere Einteilung als Zensoren.
Unsere Aufgabe bestand in der Prüfung aller über Salzburg aus dem Ausland kommenden und in dieses abgehenden Post auf Devisensendungen, die zu beschlagnahmen waren. Das beschäftigte uns täglich von 8h morgens bis Mittag. Mehr war nicht zu tun. Als sein Stellvertreter kam ich mit Graf Künigl bald in ein gutes Verhältnis. Er war in Salzburg allein. Seine Familie hatte er auf das kleine Stammschloß der Künigls ins Tirol gesandt, wo sie beim Majoratsherrn ein bitteres Gnadenbrot bekam. Künigl war ein kränklicher Mann, an die 60 Jahre alt und bedrückend pessimistisch; er konnte nicht begreifen, daß ich in dieser turbulenten Elendszeit den Mut zu einer Heirat besaß.
Einen dürftigen, jedoch bezahlbaren Mittagstisch fand ich in der Kaserne in der Paris-Lodron-Straße, wo sich die Offiziere des heimischen InfRgt.Nr 59 in ihrer alten Offiziersmesse ein Kasino geschaffen hatten. Ich wurde dort nett aufgenommen. Das war für mich nicht nur wegen des Mittagessens, sondern auch zur Orientierung über die personellen und städtischen Verhältnisse von Bedeutung. Dort erfuhr ich die Adresse von Obstlt.Sigismund v.Schilhawsky, der mit einer Baumeisterstochter verheiratet am Bürgelstein wohnte, und jene des hochverehrten Obst.v.Salis-Samaden, der schon in einer Buchhandlung untergekommen war. Als alten Kameraden aus der Sarajevoer Friedenszeit fand ich auch Obstlt.Viktor Neugebauer mit seiner schönen blonden Frau. Er entstammte der großen akademischen Buchhandlung in Prag, die er zusammen mit seinem buchhändlerischen Bruder nach Salzburg verlegt hatte; bald darauf kaufte und betrieb er auch ein Spielwarengeschäft.
Der bedeutsamste für mich war Obstlt.d.Geniestabes Weingartner, mit dem ich bei der 6.Armee in Italien Freundschaft geschlossen hatte. Baron Meyer-Melnhof war Besitzer des Untersberger Marmorsteinbruchs und bereit, einen kleinen Zweigbetrieb abzustoßen. Weingartner wollte diesen kaufen und eine Steinmetzerei betreiben; er lud mich ein, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich besaß rund 25.000,- Kronen und stellte sofort 10.000,- zur Verfügung. Für die Betriebskonzession mußte jedoch der Meisterbrief fürs Bau-, Brunnen- und Steinmetzgewerbe nachgewiesen werden. Für Weingartner als technischem Offizier war das leicht; für mich freilich der Anlaß, sogleich in die Staatsgewerbeschule zu gehen. Dort fand ich im alten Regierungsrat Dvorzak einen reizenden, hilfsbereiten Mann, der mich sofort in den dritten Jahrgang seiner Schule einschrieb, so daß ich nach eineinhalb Jahren das Gewerberecht gewinnen konnte. Mit dem Schulbesuch hatte es wegen meiner Tätigkeit in der Zensurstelle seine Schwierigkeiten. Aber soweit ich Zeit hatte, war ich an den Nachmittagen in der Schule. Die Abende verbrachte ich im Ganshof.
Von dort schrieb ich wieder täglich einen Brief an Judith, die ich über alles Geschehen eingehendst orientierte.
Maxglan war damals noch nicht der heutige große Vorort Salzburgs, sondern eine kleine Siedlung mit weiten Gartenflächen zwischen den Häusern. Sie galt als Arbeitersiedlung. Bei den einfachen Leuten fand ich überall mehr tätige Hilfsbereitschaft als im Innern der Stadt. Die Ganshof-Wirtin kaufte für mich im Schleichhandel Butter, die sie zu Butterschmalz umformte, und Mehl als Grundlage eines eigenen Haushaltes. Der Bäcker überließ mir Holz von seinen Vorräten; in dem Gemischtwarenladen konnte ich Seife und Waschmittel, aber auch etwas Öl, Konserven und gedörrtes Obst kaufen. Nur mit der Absendung von Judiths Aussteuer, die ich erbeten hatte, um die Wohnung so einzurichten, daß Judith gleich in ein fertiges Heim gekommen wäre, klappte es nicht. Da hatte der Schwiegervater - entgegen unseren letzten Besprechungen in Nagyvárad - immer neue Gründe, um die von der Schwiegermutter gewollte Sendung zu verzögern. Das war das erstemal, daß Judith mir gekränkt antwortete, als ich sie bat, sich für die Absendung bei ihrem Vater nachdrücklicher einzusetzen. Ich ließ darauf dieses Thema in meinen Briefen fallen, obwohl nach und nach immer stärkere Begehrlichkeiten auf die leerstehende Wohnung abzuwehren waren.
Da ich für die Eheschließung ein Ehefähigkeitszeugnis benötigte, so erbat ich beim Pfarrer in Maxglan schon Ende Februar unser Eheaufgebot von der Kanzel verkündigen zu lassen. Weiters hatte ich auch einen Reisepaß besorgt. Denn, eingedenk der Bitten, Judith sobald wie möglich nach Österreich zu bringen, plante ich die Hochzeit für Mitte Mai.
Da kam Anfang April plötzlich ein dringendes Telegramm meines Schwiegervaters, ich möge sofort heiraten kommen, da in Nagyvárad der Einmarsch der Rumänen und die Besetzung des von ihnen beanspruchten Gebietes bevorstünde. Der Urlaub war mir von Graf Künigl bewilligt; ich fuhr los. So sehr ich mich auf die Vereinigung mit Judith freute, so sehr bedrückte mich die leere Wohnung. Denn das hieß im Hotel Wohnung nehmen, was angesichts meiner infolge der Teuerung rasch zusammenschmelzenden Geldreserven sehr bedenklich wurde. Was war doch mein Schwiegervater für ein inkonsequenter, schwerfälliger Mann, daß er Judiths Heiratsgut nicht abgesandt hatte! Ich selbst war körperlich in keiner guten Verfassung. Nervlich durch den Zusammenbruch der Monarchie und die ungewisse Zukunft stark beansprucht, hatte mich die völlig unzureichende Ernährung um 20 kg abmagern lassen. Und ich sorgte mich, wie die in Ungarn doch viel besser versorgte junge Frau die österreichische Not ertragen werde.
Die Reise verlief glatt. In der doch kurzen Zeit seit Kriegsende war in Österreich und Ungarn viel für das Eisenbahnwesen geschehen.
Judith und ihre Mutter fand ich etwas verlegen wegen Vaters Telegramm. Sie fürchteten, ich könnte es einmal benützen, um zu sagen, daß ich zum Heiraten sozusagen befohlen worden sei. Ich konnte beide Frauen bald beruhigen; hatten wir doch die Hochzeit für Mitte Mai geplant; also handelte es sich bloß um eine Vorverschiebung von eineinhalb Monaten. Ich bat nur meine Schwiegermutter innig, Judiths Sachen so rasch wie möglich nach Salzburg zu senden, was diese mir auch fest versprach.
Die allgemeine Stimmung in Nagyvárad war wesentlich schlechter als vor fünf Monaten. Die Terrorherrschaft der Kommunisten hatte den guten Ungarn die Augen über deren Wesen geöffnet, so daß der bevorstehende Einmarsch der nicht kommunistischen Rumänen (ursprünglich mehr als der Kommunismus gefürchtet) trotz des nationalen Schmerzes viel ruhiger erwartet wurde.
Die Hochzeit wurde gleich für den folgenden Tag, den 8.April in der calvinischen Kirche für den späten Vormittag festgesetzt. Aus Angst vor kirchenfeindlichen kommunistischen Störungen begaben wir uns vom Standesamt einzeln auf verschiedenen Wegen in die Kirche. Ich war in meinem Leutnantszivil sehr bescheiden gekleidet, Judith ebenfalls in einem abgetragenen Kostüm, der Schwiegervater in einem ledernen Jagdanzug und meine Schwiegermutter im einfachen Schwarz, das sie seit dem Tod ihrer Mutter nie mehr abgelegt hatte. Als Trauzeugen fungierten der von Debrecen gekommene Onkel Adám und ein Herr Dénes. Der in bischöflichem Rang stehende Pfarrer hielt eine sehr schöne, ergreifende Ansprache, nach der Judith laut und deutlich ihr Ja sagte, ebenso ich. Der Pfarrer hatte auf die ungewisse Zukunft hingewiesen, der wir entgegengingen, und betont, daß auch die schwerste Not uns nicht trennen dürfe. Als Vermählungsringe hatten wir unsere Verlobungsringe gewählt, weil Judith immer als den wichtigsten Tag unserer Verbindung den 10.Februar 1918 ansah, den Tag ihres erstmaligen Ja.
Die Kirche verließen alle wieder einzeln, nur meine Frau ging mit mir gemeinsam. Nach einem guten Mittagessen in der Wohnung meiner Schwiegereltern fuhren wir mit dem Nachmittags-Schnellzug nach Budapest, wohin uns zu begleiten mein Schwiegervater sich nicht nehmen ließ. Im Hotel Hungaria fand sich eine Menge Bekannter zusammen, die uns alles eher als erwünscht waren. Wir mußten aber in Budapest Halt machen, um von der ungarisch-kommunistischen Behörde die Ausfuhrgenehmigung für Judiths Handgepäck und einen Reisekoffer mit Judiths Kleidern Schuhen und einem bescheidenen Vorrat an Leibwäsche zu erhalten, den die Schwiegermutter nachsenden wollte. Beschwingt vom ersten Beisammensein mit meiner geliebten Frau, bekam ich beide notwendigen Genehmigungen so flott, daß wir bald nach Wien weiterreisen konnten. Der Abschied vom geliebten Vater fiel meiner Frau sehr schwer. Im überfüllten Eisenbahnabteil konnten wir nicht allzuviel miteinander sprechen. Umso überraschender und beglückender war der Jubelschrei meiner lieben Frau, den sie nach Betreten des Wiener Bodens, mir um den Hals fallend, ausstieß. Damit hatte sie sich aus freiem Willen als Österreicherin bekannt und ist diesem Entschluss stets in herzerhebender Weise treugeblieben.
Wir stiegen in meinem alten Hotel Elisabeth in der Weihburggasse ab, wo es gegen sehr hohe Preise schon gutes Essen gab. Wie glücklich waren wir, uns nun unbeobachtet allein zu gehören! Wir machten kurze Besuche bei meinem Bruder Heinrich und bei Judiths Großmutter und Halbtante Leona. Dann fuhren wir weiter nach Salzburg.
Leider herrschte bei unserer Ankunft ein so dichter Nebel, daß man von den Herrlichkeiten der Stadt und ihrer Umgebung nichts sehen konnte. Meine arme kleine Frau, die Berge in strahlender Sonne erwartet hatte, war darüber tief enttäuscht, und ich erfuhr zum ersten Mal, wie nahe bei diesem sensiblen Menschen das himmelhohe Jauchzen dem Zu-Tode-betrübt-Sein lag. Da ich ihr den einfachen Ganshof in Maxglan nicht sofort zumuten wollte, nahm ich in dem an der Staatsbrücke gelegenen Hotel Stein ein schönes Zimmer. Mit der bald durchbrechenden Sonne und der Sicht in die herrliche Bergwelt fand sich auch das strahlende Glück in ihren schönen großen Augen wieder.
Sozusagen als Flitterwoche hatte ich uns acht Tage im Hotel, in dem wir auch Frühstück, Mittag- und Abendessen nahmen, zugestanden. Denn das teure Hotel zehrte stark an meinen Geldreserven, trotz der tausend Kronen, die mir Onkel Adám als Hochzeitsgabe zugesteckt hatte. Ich durfte mich nicht ganz verausgaben.
Judiths Möbel waren nicht gekommen, also mußte ich für die provisorische Möblierung der Wohnung sorgen, und das kostete wieder Geld. Judith, mit der ich unsere Lage durchsprach, war umsomehr mit dem Plan, in unsere Wohnung zu ziehen, einverstanden, als ihr die hübsche freie Lage der Villa mit dem Ausblick auf den Untersberg sehr gefiel. Da die Wohnung kein Badezimmer besaß, hatte ich schon früher bei einem Tischler einen so großen, weiß lackierten Waschtisch bestellt, daß man unter diesen eine Badewanne schieben konnte. Das Waschgeschirr und einen Paravent hatte ich ebenso besorgt wie einen riesigen Pfeiftopf für den mit Holz zu heizenden Herd in der Küche. Gas war leider nicht installiert. Das Baden war somit für eine verwöhnte junge Dame etwas beschwerlich, doch besser als nichts.
Die von Staatssekretär Deutsch sinnlos als „Sachdemobilisierung” betriebene Verschleuderung militärischen Gutes ermöglichte es mir, drei Offiziersbetten, komplett mit Roßhaarmatratzen, Kissen, Decken und einem Dutzend Leintücher um ein Spottgeld zu kaufen; zwei Betten waren für Judith und mich bestimmt, das dritte für das Dienstmädchen. Aus einer militärischen Kriegsbaracke konnte ich, auch sehr billig, einen großen Tisch kaufen, den ich in Salzburg als unseren Schreibtisch adaptierte und der uns später in St.Pölten durch 12 Jahre als Speisetisch diente. Ein kleinerer Tisch wurde ins Schlafzimmer für Judiths Toilettesachen gestellt. Dann kaufte ich noch einen Liegedivan, weil man so ein Möbel immer brauchen konnte, und eine komplette Ausstattung Küchengeschirr. Für die Küche arbeitete mir der Tischler einen korrekten Küchentisch und einen Schubladenschrank, die uns nicht nur nach St.Pölten, sondern mich zuletzt auch über Wien nach Erfurt begleiteten.
Um andere Möbel zu kaufen, fehlte mir einerseits das Geld, anderseits hätte es keinen Sinn gehabt, kostbare Möbel zu beschaffen, die man dann, sobald Judiths Aussteuer kommen würde, abstoßen müßte. So kamen wir auf den Gedanken, bei Trödlern, deren es in Salzburg viele gab, einen ovalen Tisch mit geschnitzten Sesseln und einen alten aufklappbaren Schrank als Kredenz in das schöne sonnige Wohnzimmer zu stellen. Das zwischen dem Schlaf- und Wohnzimmer gelegene einfenstrige Kabinett richteten wir in der Form als Garderobe ein, daß wir an die Wände Kleiderträger anschlugen und die Koffer wie Truhen benützten. Dazu sandte mir mein guter Bruder noch alle jene Kleinigkeiten, die er nach dem Ableben unseres Vaters aus Pietät behalten hatte, er aber in seinem Haushalt nicht benötigte. Dieserart bekam unsere Wohnung ein bescheidenes, aber sehr nettes und heimeliges Ansehen, wie unsere Gäste staunend betonten.
Darin lebten wir glücklich und zufrieden. Wie wenig äußere Habe braucht man, wenn in zwei Herzen reine Liebe glüht! Sorglos durchwanderten wir die herrliche Umgebung, machten auch weitere Touren über St.Gilgen, Mondsee, Ischl oder Attersee. Wenn unsere besorgte Hausfrau uns ab und zu aufforderte, die Wohnung doch besser und auch die Fenster zu schließen, wenn wir ausgingen, antworteten wir lachend, daß uns niemand etwas wegtragen, höchstens etwas bringen könne.
Nicht lange und meine liebe Frau vertraute mir ihr süßes Geheimnis an. Ich hatte keinerlei Ahnung von Gynäkologie; dazu stellte sich heraus, daß Judiths Mama ihr ebenfalls nichts übers Kinderkriegen erzählt hatte. Da ich nichts versäumen wollte, was etwa vorsehend zu tun wäre, gingen wir zum guten Maxglaner Arzt Dr.Pöchl. Lächelnd erklärte er uns, daß Judith ganz normal leben und viel Bewegung machen solle. Dann, als er sie länger angesehen und von ihrer schweren Grippeerkrankung im vergangenen Spätherbst gehört hatte, stellte er doch eine gewisse Blutarmut fest und verschrieb ihr zu dauerndem Genuß Eisenwein und täglich einen halben Liter frischer Milch. Den Eisenwein bekamen wir in der Apotheke; bezüglich der Milch wies er mich auf den Direktor der Stiegelbrauerei hin, welche eine prachtvolle Landwirtschaft mit mehreren schönen Meierhöfen besaß. Auf Direktor Kiener verwiesen begreiflicherweise viele Salzburger Ärzte ihre Patienten, deren es bei der latenten Hungersnot mehr gab als verfügbare Milch. Daher wurden wir zunächst abgewiesen, aber nach vielen Bitten wenigstens für den Zeitpunkt vorgemerkt, da die eine oder andere berücksichtigte Person ausfallen würde. Das ergab sich etwa nach Monatsfrist, so daß Judith ab Mitte Juni täglich ihren halben Liter bester Alpenmilch konsumieren konnte. Ihr tat dies so gut, daß die sehr knappe sonstige Ernährung ausgeglichen schien.
Damals gab es noch keinerlei Krankenkassenvorsorge, und ich war doppelt froh, noch eine Geldreserve zu besitzen. Da die Krone aber immer mehr an Kurswert verlor, plagte mich die Sorge, ob wir bis zu der für Ende Januar nächsten Jahres zu erwartende Niederkunft wertmäßig noch genügend Geld haben würden. Der prächtige Maxglaner Arzt riet mir klug, mit dem Direktor des Landeskrankenhauses zu sprechen. So suchten wir Prof.Dr.Lumpe auf, einen liebenswürdigen alten Herrn, der auch Gynäkologe war. Zuerst wollte er garnicht an Judiths Schwangerschaft glauben, weil sie schlank aussah. Als er sie dann aber untersucht und die Niederkunft für Anfang Februar prognostiziert hatte, nahm er uns für diesen Zeitpunkt in Vormerkung und gestattete mir obendrein, die Kosten des Klinikaufenthaltes gleich im voraus zu erlegen. Mir fiel ein Stein vom Herzen: nun war gesundheitlich und materiell bestens vorgesorgt.
Ich machte meinen leichten Dienst in der Zensurstelle und war an den zwei wöchentlichen Unterrichtsnachmittagen an der Staatsgewerbeschule. Die Buben lachten gutmütig, wenn ihr Kollege von „seiner Frau” abgeholt wurde. Die Professoren und der Direktor der Anstalt waren von entzückender Herzlichkeit zu Judith, wie ihr überhaupt in Salzburg jedermann mit herzlicher Sympathie begegnete. Deshalb fühlte sie sich in der schlichten Lebensform der Salzburger bald heimisch.
Den republikanisch-demokratischen Spielregeln Rechnung tragend, hatten sich in Wien alle Offiziere in einen Offiziersverband zusammengeschlossen, der auch die Länder Österreichs durch Zweigstellen erfaßte. Dieser infolge seiner zahlenmäßigen Stärke als Wähler für die politischen Parteien nicht gering zu achtende Verband setzte durch, daß die Offiziere im Wesen nicht schlechter behandelt wurden als die Beamten.
Zwar kümmerte ich mich wenig oder garnicht um Politik, doch teilte ich die allgemeine Auffassung, daß die damals noch für sehr arm gehaltenen österreichischen Alpenländer mit dem „Wasserkopf Wien” als Staat nicht lebensfähig seien, sie daher den Anschluß an ein größeres Wirtschaftsgebiet suchen müßten. Schon der Sprache wegen schien Deutschland am natürlichsten. Nur, Deutschland zeigte damals für einen Anschluß keinerlei Interesse; man hoffte, ohne Österreich einen besseren Frieden zu erhalten. Die dann folgenden Friedensschlüsse von Versailles für Deutschland, Saint-Germain für Österreich und Trianon für Ungarn mit ihren auch beim besten Willen unerfüllbaren Bedingungen, ließen eine Erholung der geschlagenen und ausgehungerten Länder eigentlich bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges nicht zu.
Im Herbst 1919 wurde die Zensurstelle Salzburg aufgelöst. Man wies mich der Heimkehrer-Zerstreuungsstation zu. Das war wieder so eine Verlegenheitsverwendung, die eigentlich nur bestand, um der Auszahlung des durch die Geldentwertung immer kärglicher werdenden Monatsgehaltes einen Namen zu geben. Italien begann nämlich damals, die vielen beim Zusammenbruch der Monarchie gemachten öst-ung. Kriegsgefangenen heimzusenden. Wir sollten abwechselnd in Innsbruck die über den Brenner kommenden Transportzüge übernehmen, die Heimkehrer nach ihrer Länderzugehörigkeit teilen und in ihre Heimat geleiten. Tatsächlich aber wurden die Transporte schon in Italien so richtig zusammengestellt und mit Begleitärzten versehen, daß für uns praktisch nichts zu tun übrig blieb. An mich kam so eine Abholungstour von November auf Dezember 1919. So mußte meine liebe Frau erstmals etwas über einen Monat allein bleiben. Sie war aber bis dahin in Salzburg schon so gut eingeführt, daß ich ohne Sorge reisen konnte.
Um diese Zeit begann auch die Post nach Nagyvárad zu funktionieren. Wir erfuhren, daß die Rumänen aus Sorge vor Aufständen meinen Schwiegervater und andere Offiziere in eine milde Haft genommen hatten, daß er nun wieder frei sei und sie, nachdem die Rumänen in dem von ihnen besetzten ungarischen Gebiet den Kommunismus liquidiert hatten, leidliche Lebensmöglichkeiten hätten. Wir erfuhren weiter, daß sich, gefördert durch die bisher feindlich gewesenen Mächte, unter Admiral Horthy in Szeged eine kleine ungarische Armee bilde, um in dem durch den Friedensvertrag klein gewordenen Kern-Ungarn den Kommunismus niederzuschlagen. Ja, die Schwiegermutter hatte sogar einmal gewagt, mit dem Pächter nach Aba puszta zu schauen, wo jedoch der Kommunismus ein Verweilen unmöglich machte. Aber die Gebäude stünden noch unversehrt.
Meine Reise nach Innsbruck war für uns vorteilhaft, weil ich dort höhere Reisegebühren und täglich eine Fleischkonserve als Zubuße bekam. Ich wohnte mit anderen Kameraden in einer Baracke im Lager Pradl. Bei Spaziergängen konnte ich die Verhältnisse in Innsbruck beobachten, das damals wie ganz Tirol von der italienischen Armee besetzt war. Zur Ehre der Italiener muß ich sagen, daß sie sich sehr korrekt und anständig benahmen. Ja, die Fürsorge der Italiener für die hungernde Bevölkerung war achtunggebietend: es gab in Innsbruck Öl, Wurst, Käse und Orangen aus italienischen Beständen zu kaufen, weswegen ich natürlich manches Postpaket an Judith und auch an Heinrich sandte. Weniger imponierend war das Benehmen der Innsbrucker weiblichen Bevölkerung, die sich den Italienern so sehr anbiederte, daß die Einheimischen ihren Mädeln - wiederholt wahrnehmbar - zur Strafe die Zöpfe abschnitten, was damals viel bedeutete, da die Bubikopf-Frisuren erst nach dem Krieg aufkamen. Ich glaube, daß diese kurze Frauen-Haartracht von Rußland nach dem Westen kam.
Es bedeutete für unseren kleinen Haushalt viel, als ich von Innsbruck mit einem vollen Rucksack Fleischkonserven und sogar etwas Schokolade nach Salzburg kam. Das erste Weihnachtsfest feierten wir stillvergnügt allein. An Geschenken gab es nur praktische Dinge für das bevorstehende große Ereignis: eine kleine hölzerne Badewanne; einen großen Korb, der auf ein Wiegegestell montiert werden konnte; kleine Hemdchen und sonstige Kinderausstattungssachen, teils geschenkt, gekauft oder von Judith selbst mit der Hand genäht. Auch mein Bruder erwies sich sehr großzügig, indem er uns alles, was bei seinem nun schon 6 Jahre alten Töchterchen entbehrlich war, überließ.
Ende Jänner hatte ich noch einen Maxglaner Einspänner zum Bereitschaftsdienst verpflichtet. Am 2.Februar nach dem Nachtmahl meinte Judith, sie verspüre ziehende Schmerzen im Rücken. Ich holte sogleich den Einspänner, mit dem wir nun rasch in das Landeskrankenhaus fuhren. In einem Koffer hatte Judith für den erwarteten Sprößling alles Nötige bereit gelegt und war gleich mir der Meinung, daß ich in ihrer schweren Stunde bei ihr bleiben dürfe. Darum war ich schwer enttäuscht, als die Hebamme mir die Tür vor der Nase zuschlug. Der diensthabende Arzt bewog mich nach Hause zu gehen, da ja Professor Lumpe alles normal befunden habe, so daß es eine leichte Geburt sein werde.
So ging ich denn heim, schlief nicht viel und war um 7h früh in der Klinik. Ich begriff nicht ganz, als mir die Reinigungsfrau am Gang nur zurief, „ein Mädl”. Als ich ins Zimmer trat, fand ich meine Frau weinend vor. Auf meine bestürzte Frage, ob sie sehr leide, sagte sie nein, aber es sei ein Mädchen und sie hätte mir so gern einen Buben geboren. Mir war das ganz gleich, ob Bub oder Mädl; daß nur alles glücklich überstanden sei! Dafür dankte ich Gott und freute mich innig, als die Hebamme das quäkende kleine Ding zum Stillen brachte und dabei erzählte, daß Judith sehr tapfer war und um 2h früh alles glatt bewältigt hatte. Um ihr zu beweisen, wie sehr mir das Kind lieb sei, schlug ich ihr vor, dem Kind ihren Namen zu geben, mein Inbegriff alles Lieben und Guten. Sie wollte anfänglich nicht, in der Meinung, es werde Konfusionen bringen, wenn Mutter und Tochter den gleichen Namen trügen, beruhigte sich jedoch allmählich und willigte schließlich ein.
Von der Klinik ging ich direkt in die Gewerbeschule zum Unterricht, kam freilich etwas spät: der Baumechanikprofessor trug bereits die Berechnung einer Träger-Abmessung vor. In der Klasse entstand eine ungewöhnliche Unruhe, und als der Professor unwillig fragte, was denn los sei, da brachen alle Buben lachend in den Ruf aus: „Der Herr Major hat a Mäderl kriegt. Wir gratulieren!” Ich war baff. Der Professor gratulierte auch, und dann ging der Unterricht weiter. Als ich in der Pause fragte, woher denn die Buben diese frohe Botschaft hätten, erfuhr ich, daß der „Leitner” (Sohn des Spitalverwalters) in der Klinik wohne. Rührend war, daß in der nächsten Pause Direktor Dvorzak persönlich in die Klasse kam, um mir zu gratulieren. Erst nach Schulschluß machte ich mich an die Benachrichtigung der Eltern, Verwandten und Bekannten.
Judith hatte sich in der Klinik wohl alles erklären lassen; aber davon bis zur Selbsttätigkeit war anscheinend ein weiter Weg. Und unser Dienstmädl war ein 15jähriges Bauerndirndl, das nicht viel wußte. Die Frau des Zahndoktors über uns hatte ebenso kein Kind gehabt wie die Ganshof-Wirtin. Da ging ich halt zu unserem lieben Doktor Pöchl. Der hatte mich anscheinend so verstanden, daß an unserer kleinen Judith etwas nicht in Ordnung wäre. Er kam, besah sich Mutter und Kind und fand alles in bester Ordnung. Erst als er sich erhob und gehen wollte, rückte meine gute Frau mit ihren Fragen über Wickeln, Baden, Ernähren usw. heraus. Der gute Doktor war ein alter Junggeselle und brummte gutmütig: „Ja, da brauchen Sie halt eine Kinderpflegerin; die kriegt man aber nicht, und wenn zufällig eine da wäre, so können Sie sie nicht bezahlen.” Doch dann fiel ihm eine emeritierte Hebamme ein, die er uns schicken werde. Wir sollten aber darauf schauen, daß sie sich die Hände wasche, bevor sie das Kind berühre!
Und richtig kam so ein altes Weibl und schwätzte mit Judith tagelang und zeigte ihr auch viele praktische Griffe. Trotzdem kam es beim Baden vor, daß Judith einmal etwas zu richten vergessen hatte und mir zurief, ich solle die liebe Kleine inzwischen halten. Ich muß mich recht ungeschickt angestellt haben, denn das Resultat war, daß das arme Würmchen auf einmal zwischen uns auf dem Boden lag. Großes Erschrecken! Aber gottlob war nichts Böses geschehen.
Bald tauften wir unser liebes Kind, als Mädchen vereinbarungsgemäß in der "evangelischen" Kirche helvetischen Bekenntnisses. Als Pate war mein Bruder von Wien gekommen und hatte seine von der Gräfin Mier erhaltene Taufgabe, ein silbernes Eßbesteck mit Becher, an unsere Kleine weitergereicht.
Dann normalisierte sich das Leben. Das Frühjahr kam, und wir machten unsere Spaziergänge mit der Kleinen im Kinderwagen, den uns mein Bruder gebracht hatte. Als wir einmal so zur Kirche Maria Plain emporgestiegen waren, wobei natürlich ich den Kinderwagen hinaufgeschoben hatte, begegneten wir dem Pfarrer. „Was, da herauf habt's bei der Hitz den Wagen g'schoben? Na, dann sind Euch alle Sünden vergeben!” Er erteilte uns das Segens-Kreuz und ging weiter. Meine liebe Frau strahlte vor Entzücken: so viel Herz habe halt nur ein katholischer Priester!
Ich war inzwischen durch Pensionierung des alten, zum neuen Kommandanten der Heimkehrzerstreuungsstation am Bahnhof Gnigl bestellt worden, hatte dort einen Adjutanten, der die wenigen Dienstsachen bearbeitete und mich nur gegen Mittag für ein paar Unterschriften brauchte, so daß ich die Gewerbeschule frequentieren konnte. Bedingung für die Erreichung der Baumeisterbefähigung war aber eine halbjährige praktische Betätigung bei einem Baumeister. Direktor Dvorzak hatte mich dem christlichsozialen Baumeister Wagner empfohlen, bei dem ich nun am 26.März als Maurerlehrling aufgedingt wurde. Das war kein leichter Entschluß; denn es handelte sich nicht um Arbeit in der Baukanzlei, sondern um echte Maurerarbeit mit Ziegeln, Mörtel, Hammer und Kelle. Ich besprach mich mit Weingartner und Schilhawsky. Den Ausschlag gab ein Obstlt.Reuter, der in gleicher Weise das Schmiedehandwerk erlernte. Wir kamen überein, daß die Not der Zeit mit der Pflicht gegenüber der Familie alle bestehenen Standesbedenken aufhebe.
Meine Frau war nicht begeistert, mich nun von 7h früh bis 4h nachmittags bei irgendeinem Bau zu wissen; aber schließlich hatte ja ihr eigener Vater auch keine Bedenken gehabt, als Tischler zu arbeiten. Die Tage wurden länger, und ab 5h stand ich gewaschen und geputzt für den Spaziergang zur Verfügung. Und der Stundenlohn als Lehrling - wenn auch nicht groß - war immerhin ausreichend, die Kleiderabnützung zu bedecken. Die zu leistenden Arbeiten bestanden im Ausbessern von Fassaden, Mauer-Durchbrüchen, Erhellung von Stiegenhäusern durch Einbau von Glasziegeln im Dach, Verlegung von Waschküchen aus Kellern in Dachgeschoße usw. Dazu mußte das Material von der Abladestelle oft recht weit mit dem Schubkarren befördert werden. Da lernte ich die Gedanken von Arbeitern am eigenen Leib kennen, wenn ich sah, wie Herren mit Frauen aller Art in glänzenden Autos rücksichtslos vorüberfuhren: verdammte Gesellschaft, die mit allen möglichen Mitteln Geld erwarb und verprasste, während wir die schwerste Arbeit leisten mußten, um leben zu können! Wenn ich dabei daran dachte, wie der Staatssekretär Deutsch diesen Hyänen kostbarstes Staatsgut unter dem tit „Sachdemobilisierung” in die gierigen Rachen warf und den Generalstab verlachte, weil dieser staatserhaltend Monate zu dem gebraucht hätte, was „er” in ein paar Wochen geschafft habe, da mußte ich oft an mich halten, um nicht den Hammer in so ein Auto zu schleudern.
Im August 1920, als ich zusammen mit Lt.Bandian beim Selcher Hofer auf dem Dachboden eine neue Waschküche zementierte, kam am frühen Nachmittag meine Frau hinauf zur Baustelle mit einem Brief, der den Stempel „Staatsamt für Heerwesen” trug. Da müsse doch etwas Wichtiges drinnenstehen, darum habe sie ihn hergebracht; das Dienstmädel warte unten mit dem Kinderwagen. Und es stand etwas Wichtiges drin: meine provisorische Ernennung zum Stabschef der 3.Brigade in St.Pölten. Als ich das halblaut vorlas, stieß Judith einen Freudenschrei aus. Da sah ich, wie sehr die gute Seele darunter litt, daß ich da als Maurerlehrling tätig war, trotzdem es uns zumeist seitens des Selchers ein Stück Wurst über die Lebensmittelkarten-Gebühr, eintrug.
Bandian, der die Gewerbeschule mit gleichem Ziel besuchte, hatte zugehört und sagte, daß meine Ernennung nach St.Pölten auch für ihn großartig wäre. Sein Vater, der Feldmarschalleutnant und ehemalige Kommandant des St.Pöltner Landwehrregimentes, wolle so gern nach Salzburg übersiedeln, da könnten wir nun Wohnungen tauschen. Bandian und seine Schwester lebten in Salzburg, um für ihre Familie eine Wohnung zu erobern. Und nun ergab sich die Möglichkeit eines Tausches! Er und seine Schwester waren öfters bei uns zum Tee gewesen; sie kannten unser Heim, welches ihnen sehr gefiel.
Mir ging das anlaufende Steinmetzgeschäft Weingartners durch den Kopf, das ja die Ursache meiner Bauhandwerkerarbeit war. Ich bat Judith sich in den nahen Mirabell-Garten zu setzen und zu warten, bis ich sie nach Arbeitsschluß gereinigt und gewaschen abholen käme. Bandian drängte mich, wegen des Wohnungstausches nach St.Pölten zu fahren. Mich dort umsehen konnte ich ja schließlich.
Mit meiner Frau spazierte ich dann in Richtung Anif zu Weingartner. Ich zeigte ihm den Brief und war erstaunt, daß er mir riet, anzunehmen. Er meinte, das Steinmetzgeschäft werde, so wie er dies bis jetzt überblicke, nur eine Familie ausreichend ernähren können; die Einlage von 10.000,- Kronen könne ich mit dem darauf entfallenden Gewinnanteil jederzeit abheben. Das bekräftigte meinen Entschluß, beim Baumeister Wagner um Urlaub zu bitten und nach St.Pölten zu fahren.
St.Pölten
1.IX.1920 - 30.IX.1932
In St.Pölten erwarteten mich bereits Brigadier Obst.Viktor Sagai und sein Stellvertreter Hptm.Walter Adam. Die undisziplinierte Volkswehrhorde und ein Bengel, der keinen Tag im Krieg gewesen war, als Brigade-Soldatenrat waren darnach, daß ich mich am liebsten umgedreht hätte und wieder weggefahren wäre. Obst.Sagai, im Krieg ruhmreicher Kommandant des kroatischen k.u.k.InfRgt.Nr.16, hieß mich bleiben: wenn alle guten Offiziere sich davonmachten, würde aus dem jetzigen wüsten roten Haufen nie ein ordentliches Heer. So begann ich also meine Funktion als Stabschef der Brigade Niederösterreich Nr.3, in welcher Stellung ich dann, nach und nach zum Oberstleutnant und Obersten befördert, neun volle Jahre verblieb.
Die Wohnung, die ich von FML Bandian im Tausch mit meiner in Salzburg gelegenen übernahm, war eine der schönsten und modernsten in St.Pölten. Sie lag in der Kalcherstraße, hatte aber die Hauptfront in die Josefstraße und war vom Brigadekommandogebäude fünf Gehminuten entfernt.
Als ich nach etwa vierzehn Tagen nach Salzburg kam, meine Lieben abzuholen, erwartete mich Judith mit der guten Nachricht, daß die von ihrer Mutter geschickten Möbel vom Spediteur gerade avisiert worden waren. Wir ließen unsere in Salzburg erworbenen Sachen dazupacken und den Möbelwagen nach St.Pölten senden. Judith und ich hatten Salzburg sehr liebgewonnen, der Abschied fiel uns nicht leicht. Doch ging es in eine gesicherte Lebensstellung, was Judith sehr beruhigte. Die kleine Stadt St.Pölten gefiel meiner Frau vom ersten Augenblick an sehr gut. Ihrer Erziehung am Genfer See und an der Themse zum Trotz war sie eine naturverbundene Frau geworden, der ihr Heim in einer ruhigen anspruchslosen Umgebung das größte Glück bedeutete.
Meine Schwiegermama hatte uns wirklich nobel bedacht. Zur Schlaf- und Sitzzimmergarnitur hatte sie den reichen Schatz aller ihrer Perserteppiche, die elf prachtvollen Karamanis für die Fenster, den wunderbaren türkischen, aus fünf verschiedenfarbigen Streifen zusammengestellten Zeltbehang, Stores für 6 Fenster und viele schön gerahmte Ölgemälde gesandt. Dazu kam das weiße Porzellan ihrer Mutter, reichlich Glasservice, wunderbare Nippes und schön neu umgearbeitete Matratzen mit Kissen, Decken und einer großen Reserve an Gansfedern. Lediglich mit Silberbesteck waren wir sparsam bedacht worden, weil die Mutter selbst nicht ausreichend Silber für ihren Stadt- und Landhaushalt besaß; später wurde das reichlich nachgebracht. Unsere Kassette mit dem edlen Eßbesteck für zwölf Personen stammt von Schwiegermutters Freundin Luise v.Huzly, der Nichte des katholischen Bischofs von Debrecen. Die alte Dame war nach dem Weltkrieg ohne Einkommen und lebte vom Verkauf ihrer reichen Kunst- und Silbersachen. Der Schwiegervater erwarb die Kasette um 20.000,- Kronen, welche er durch Lieferung von Lebensmitteln aus Aba puszta bezahlte. Die Gravierung HL mit Krone haben Judith und ich belassen, dafür aber alle Teile durch einen Juwelier neu ausglühen und auf Neuwert putzen lassen. (Die rostfreien Messerklingen ließ ich 1950 einarbeiten.) Jedenfalls war unsere Wohnung in St.Pölten mit Salon, Schlaf- und Kinderzimmer sehr bald schön und vornehm eingerichtet. Das Speisezimmer war zusammengestückelt, aber dank der Bilder und Perserdecken durchaus gut anzusehen.
Die Not an Lebensmitteln, die bis ins Jahr 1926 dauerte, war in St.Pölten nicht geringer als in Salzburg. Besonders wichtig war für Klein-Judith gute Milch. Hier war es wieder ein alter praktischer Arzt, Dr.Klaus, der uns auf einen Bauernhof Kern, dreiviertel Gehstunden westlich der Stadt, hinwies. Dieser tägliche Weg war, namentlich im Winter, oft eine peinvolle Tour; denn der Westwind blies stets in solcher Stärke, daß alle Straßenbäume wie in Holland schief gewachsen waren; und aus melktechnischen Gründen konnte der halbe Liter Milch erst gegen 6h Abend geholt werden. Sonst aber war St.Pölten eine liebenswerte, hübsche und wohlhabende Kleinstadt. In der Vergangenheit wegen der Fabriken reichsdeutscher Herkunft großdeutsch gesinnt, war sie nach dem Krieg mit ansehnlicher Mehrheit sozialdemokratisch geworden. Zum Glück war ihr Bürgermeister Schnofel ein ruhiger, umgänglicher Mann, mit dem ich dienstlich in meiner ganzen 12jährigen Tätigkeit gut auskam.
Was nun die dienstliche Tätigkeit in der Brigade betraf, so durfte ich zufrieden sein, trotz der anfangs großen Schwierigkeiten wegen des politisierten Soldatentums. In meinem Wirkungskreis genoß ich viel Selbständigkeit, weil die Brigadiere Sagai, Schneider und Themer in den ersten fünf Jahren alle in Wien wohnten und in St.Pölten sozusagen nur sporadisch amtierten. Als dann der vierte Brigadier, GM.Janda, eine Kasernenwohnung in St.Pölten bezog, war seine Leidenschaft für Jagd und Fischerei sowie für den Gemüseanbau so groß, daß auch unter ihm meine Selbständigkeit keine Einbuße erlitt.
Die Brigade bestand aus den Infanterie-Regimentern Nr.5 in Wien, Nr.6 mit zwei Bataillonen in Krems und Nr.3 in St.Pölten, dem Jägerbaon.Nr.3 in Stockerau, wo sich auch die Dragoner-Schwadron Nr.3 und die Brigade Art.Abt.Nr.3 befanden, dem Pionierbaon Nr.3 in Melk und schließlich dem Brückenbaon in Krems. In St.Pölten waren außer dem Inf.Baon.III/6 auch die Brigadekommando-Truppen, uzw. die Telegraphenkomp.3, die Kraftfahr(Train)komp.3 und die Train Eskadron 3 stationiert. Das brachte viel Bewegung zwischen diesen Orten, wobei ich immer auch den Abteien Melk, Göttweig, Herzogenburg und Lilienfeld Besuche abstattete.
Bald verfügte ich wieder über ein gutes Reitpferd und tummelte mich mit ihm täglich vor Amtsbeginn zwei Stunden im Gelände. Kam ich dann in mein Büro, so hatte ich einen prachtvollen Ausblick auf die Reisalpe, den Gippel und Göller, die den prachtvollen Ötscher umrahmten. In diese sich am Horizont abzeichnende Bergwelt blickte ich oft und lang. Aus ihr sog ich die Kraft, der konfusen dienstlichen Verhältnisse nach und nach Herr zu werden.
Mir wurde klar, daß nur persönliches Beispiel und intensive Beschäftigung der Truppen in den rein militärischen Aufgaben und Pflichten nach und nach eine disziplinierte Truppe schaffen konnten. Die Weisungen, die wir von unserem roten Ministerium bekamen, betrafen vornehmlich die sogenannte Geistes-, die Sportausbildung und die Arbeitsschulung für das dem Militärdienst folgende zivile Leben. So blieb mir nichts übrig, als die ersten Vorschriften zur Schulung im rein fachlich-militärischen, welche gänzlich fehlten, allein zu verfassen; dafür brachte ich ja alle Voraussetzungen aus dem Krieg mit. Bald wurde ich von den gutwilligen Offizieren verstanden. Ja, ich hatte die Befriedigung, daß das Ministerium, dem ich die Schulungsweisungen vorlegte, sie anfangs zum Teil übernahm und allgemein gültig machte. Meine Brigadiere waren mit der Anerkennung des Ministeriums zufrieden und bei den Truppen zeigten sich Fortschritte, die auch dringend nötig waren, denn bald brauchte man eine zuverlässige Staatsmacht.
In den Friedensverträgen von Saint-Germain und Trianon war das deutsche Westungarn quasi als Ersatz für die Abtretung des deutschen Teiles von Südtirol an Italien, Österreich zugesprochen worden. Die Besitznahme dieses später „Burgenland” genannten Gebietes durch die Gendarmerie war an dem vom ungarischen Reserveoffizier Hejjas organisierten Widerstand ungarischer Freischärler gescheitert. So wurde die Landnahme dem neuen Bundesheer übertragen.
Meine Brigade wurde deshalb im Herbst 1921 in den Raum um Wr.Neustadt verlegt. Ich nahm die behördlichen Bitten um Sicherung unseres Gebietes, insbesonders des Elektrizitätswerkes Neufeld, gegen ungarische Banden ernst und bewog auch Obst.Sagai zu gleicher Haltung. Das war für die Disziplin und den Ernst der Haltung aller Truppen ebenso gut, wie unsere Auffassung von Pflicht auch das Vertrauen der Behörden gewann. Es war interessant wahrzunehmen, wie der brennrote Bürgermeister Püchler von Wr.Neustadt Sagai und mir wiederholt sein Vertrauen in alle unsere Maßnahmen aussprach, obwohl wir ihn nicht im Zweifel ließen, daß wir keineswegs sozialdemokratisch dächten.
In diese Zeit fiel der erste unglückliche Restaurationsversuch des armen Kaisers und Königs Karl in Ungarn, der die Gemüter pro und kontra stark bewegte. Die Frage der Gültigkeit des Eides wurde viel diskutiert. Ich nahm den eindeutigen Standpunkt ein, daß unser der Republik Österreich mit Wissen und Willen des Kaisers geleistete Eid uns an die Republik band. Die nachträglich von monarchistischer Seite aufgestellte Behauptung, daß der Kaiser niemanden von dem ihm geschworenen Eide entbunden und nur die Ablegung eines Gelöbnisses für die neuen Staaten bewilligt habe, lehnte ich rundum ab. Daß meine Auffassung richtig war, konnte ich 38 Jahre später auch aktenmäßig feststellen: Als ich zur Vollendung der Geschichte des k.u.k. Generalstabes die Akten der kaiserlichen Militärkanzlei durchstudierte, fand ich vom Herbst 1918 eine Anfrage aus Graz, ob über Verlangen der neuen Gewalten nicht nur ein Gelöbnis, sondern auch ein Eid geschworen werden dürfe. Die Antwort der Militärkanzlei laute: „Ja, auch der verlangte Eid kann geschworen werden.” In gleichem Sinne hatte mich ja auch seinerzeit in der Militärkanzlei der Obst.v.Káry orientiert.
Schwieriger war die Lage unserer Kameraden in Ungarn, das der Admiral v.Hórthy mit Billigung der Entente-Mächte vom Kommunismus befreit hatte. In Ungarn war Karl rechtsgültig zum König gekrönt worden. Die Bildung neuer Staaten war ja bloß in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern (das war also die österreichische Reichshälfte) erfolgt. Ungarn hatte bloß Gebiete an Nachbarstaaten abzutreten; es blieb ein eigener Staat mit einem gekrönten König. Jedenfalls mußten wir Österreicher Gott danken, daß uns Situationen, wie sie in Ungarn, besonders beim zweiten Restaurationsversuch des unglücklichen Karl entstanden, erspart geblieben sind.
Der frühe Tod des Monarchen auf Madeira hat alle Erörterungen über die Verbindlichkeit des dem Kaiser und König geleisteten Eides beendet. Allerdings bleibt eine untilgbare Schmach des siegreichen englischen Königshauses, daß es Karl auf Madeira verhungern ließ, nachdem die englische Marine ihn dorthin gebracht hatte. Wir Generalstabsoffiziere haben unserem letzten Chef, dem Generalobersten Baron Arz mit Abgaben von unseren kärglichen Gehalten so lange unter die Arme gegriffen, bis Ungarn sich endlich entschloß, diesem verdienten, aber in Hermannstadt, das zu Rumänien gekommen war, geborenen General ein Ruhegehalt zu bewilligen. Der englische König und damals auch noch Kaiser von Indien hatte hingegen nicht das Solidaritätsgefühl, den in bitterster Not befindlichen Standesgenossen wenigstens nicht hungern zu lassen. Bis nach Ordnung der zerrütteten Geldverhältnisse das österreichische Bürgertum und der übriggebliebene Adel helfen konnten, kam das nur noch der verwitweten Kaiserin und ihren Kindern zugute.
Nach Weisungen der Ententeoffiziere traten wir den Vormarsch ins Burgenland an, der sich reibungslos vollzog. Das Brigadekommando gelangte nach St.Martin, wo es bis Februar 1922 verblieb. Dann wurde es nach St.Pölten zurückverlegt.
Inzwischen war auch wieder eine regelmäßige Postverbindung zu den Schwiegereltern in Gang gekommen. Nach der Beseitigung des Kommunismus in Ungarn waren die Eltern auch wieder in den ungestörten Besitz von Aba puszta gekommen. Mein Schwiegervater war Brigadier im neuen ungarischen Heer in Nyiregyháza geworden. Und Onkel Adám hatte Frau Tóth geheiratet, seine Quartiergeberin in Debrecen.
Bevor ich weitererzähle, möchte ich auf unser Einleben in St.Pölten zurückkommen. Da mir daran lag, meiner frommen Frau ihre gottesdienstlichen Pflichten zu ermöglichen, besuchte ich den evangelischen Pfarrer, einen Schwaben aus Württemberg, und machte ihn darauf aufmerksam, daß meine Frau nicht Luther anhing, sondern Calvin. Er antwortete, das tue nichts, er besorge beide Bekenntnisse. Als er meinen Besuch (ich glaube, mit seiner Frau) in meiner Abwesenheit erwiderte, sagte er zu Judith, sie möge ihren Mann nur streng zur Arbeit anhalten; die Herren Offiziere glaubten bessere Menschen zu sein und legten gern die Hände in den Schoß. Judith war über diese Taktlosigkeit empört und gab ihm, mein Leben in Salzburg schildernd, die richtige Antwort. Als sie dann auch noch nach mehrmaligen Besuch des Gottesdienstes hörte, daß dieser Diener Gottes die katholische Kirche und besonders das Haus und die Schule der Englischen Fräulein immer hetzerisch angriff und sie herabzusetzen bemüht war, hatte sie von der evangelischen Kirche genug und besuchte sie nicht mehr.
Bei der Brigade hingegen war mit Pfarrer Hofer eine großherzige, von echter christlicher Liebe und Hilfsbereitschaft erfüllte Persönlichkeit tätig. Ich hatte ihm unsere religiöse Mischehe offen bekannt, damit er verstehe, warum ich nicht zum Empfang der Sakramente kommen könne. Nachdem er unser Eheleben eine zeitlang beobachtet hatte, sagte er zu mir und Judith, daß es nicht auf äußere Umstände ankomme; wenn zwei Menschen ihr Ehegelöbnis aufrichtig hielten, sei dies Gott gefällig. Nicht nur versuchte er mit keinem Wort eine Konversion Judiths zu fördern, vielmehr referierte er über uns in den katholischen Kreisen anscheinend so gut, daß Judith regelmäßig Einladungen zu Festveranstaltungen katholischer Kreise, besonders auch vom Institut der Englischen Fräulein erhielt. Dabei wurde ihr immer ein meiner Stellung gemäßer Ehrenplatz eingeräumt. Als Judith einmal bei solchem Anlass der Oberin bescheiden sagte, daß ihr kein Ehrenplatz zukomme, sie sei schließlich Protestantin, erwiderte ihr die Oberin schlicht, daß sie das wisse, jedoch nach Lebensführung und Stellung ihr der Ehrenplatz sehr wohl zukomme.
Als berührende Einzelheit will ich hier meinen braven Pferdewärter Franz Kern nennen, der während des Krieges bei mir war. An seinem Hofamt Priel hatte er gehört, daß ich in St.Pölten sei. Auf einmal erschien er mit seinem Bruder und mit zwei riesigen Rucksäcken voll Lebensmittel. Judith und ich waren glücklich und besuchten in der Folge einige Male seinen Hof nächst Maria Taferl.
So kam es, daß meine Frau sich in St.Pölten wohl und geborgen fühlte, auch wenn ich einmal dienstlich durch längere Zeit abwesend sein mußte. Gesellschaftlich bot die kleine Stadt genug: es gab ein freiwilliges Symphonieorchester unter Leitung des Musikprofessors vom Lehrerseminar, ein entzückendes kleines Stadttheater, einen geistigen Kreis durch Zusammenschluß der Ingenieure der Voith-Turbinen-u.Glanzstoffabriken mit den Richtern des Kreisgerichtes, den Beamten der Bezirkshauptmannschaft und uns Offizieren, wo regelmäßig sehr interessante Vorträge aus allen Gebieten gebracht wurden. Nach und nach konnte auch wieder ein repräsentables Offizierskasino aufgebaut werden, und der Turnverein unter Professor Trattnigg veranstaltete ebenfalls kleine Feste. Es wurde im Fasching getanzt und einmal besuchten wir sogar in Wien einen Fliegerball. Da die Brigadiere nicht in St.Pölten wohnten, kam Judith die Rolle der ersten Dame des Offizierskreises zu, was ihr natürlich auch schmeichelte.
Im Sommer fand sich unter Führung des im gleichen Haus wie wir wohnenden Schlaraffenrepräsentanten Marko eine kleine Bergsteigergesellschaft zusammen, mit der wir jeden zweiten Sonntag die Berge ums obere Traisental, Gippel, Göller, Reisalpe und Ötscher bestiegen. Wir konnten uns für solche bescheidene Unternehmungen frei machen, weil es damals noch Dienstpersonal gab und außerdem uns gegenüber die Lehrer-Familie Tobner wohnte, deren Töchter, besonders die kleine Gelli, gerne Klein-Judith betreuen kamen.
Im Sommer 1922 konnten wir zum ersten Mal nach Aba puszta reisen. Die Wiedersehensfreude mit Judiths Eltern war groß und wir wurden liebevoll aufgenommen. Wenn Aba im Gebirge und nicht in der glühend heißen Tiefebene gelegen wäre, hätte man sich keinen idealeren Erholungsaufenthalt denken können.
So glücklich sich Judith daheim bei den Eltern fühlte, um so kritischer beobachtete sie - durch die soziale Fürsorge in Österreich wach geworden - die Lage und die Behandlung der Landarbeiter auf dem Gut. Soweit sie konnte, versuchte sie deren Lage zu verbessern, stieß freilich auf den Widerstand der Eltern. Meine Schwiegermutter vertrat den Standpunkt, man hätte die Bauern nie lesen und schreiben lehren sollen; solang sie unwissend gewesen waren, hätten sie aufs Wort gehorcht; jetzt seien sie verdorben und von den Juden in den kleinen Ortschaften der Umgebung aufgehetzt. Daß gerade die harte Behandlung durch die Gutsherrschaft die Leute für den Kommunismus hellhörig gemacht hatte, wollte sie nicht gelten lassen. Mein Schwiegervater hatte allerlei Pläne zur Besserung der materiellen Lage der Arbeiter, konnte sie aber mangels an Geldmitteln nicht ausführen. Mehr Einnahmen vom Gut zu erhalten war sein Verlangen. Sobald er pensioniert wurde, zogen sie ganz nach Aba, gaben die Stadtwohnung in Nyiregyháza auf und kamen dafür im Winter nach Neujahr zu uns nach St.Pölten zu Besuch.
Die vorweihnachtliche Zeit mit ihren langen Abenden benützten Judith und ich eifrig, um Spielsachen zu fertigen, anfangs für Klein-Judith, später auch für unsere zweite Tochter. Ich stellte kleine Holzsachen her, während Judith Puppenkleider nähte. In ihrer Beliebtheit brachte sie einmal die ganze Nähschule, die sie besuchte, dazu, eine reizende komplette Brautausstattung für Klein-Judiths Lieblingspuppe zu nähen. An anderen Abenden lasen wir viel: ich brachte aus der neu entstehenden Brigadebücherei aktuelle Werke heim und las sie vor, während Judith Hand- und Näharbeiten machte.
Ein großes Erlebnis war für uns das in Österreich erst nach dem Krieg aufkommende Radio. Es krankte ja anfangs nicht nur an der primitiven Apparatur, die wir vom Brigade-Telegraphenoffizier Obstlt.Lassbacher gekauft hatten, sondern auch an dem meist unzureichend aufgeladenen Akkumulator; denn der Anschluß an das Starkstromnetz war damals noch nicht bekannt. Trotzdem waren es schöne Abende, wenn wir - den Kopfhörer an den Ohren - die Übertragungen aus der Wiener Oper hören und anhand des Textbuches verfolgen konnten.
Einen engeren persönlichen Verkehr pflogen wir, außer mit Pfarrer Hofer, nur mit drei Familien: Frau und Herrn Oberst Schneck, die gebürtige St.Pöltner waren, Frau und Herrn Landesgerichtsrat v.Grimburg und Frau und Herrn Von der Heide. Letzterer war Direktor der Glanzstoffabrik.
Infolge der Absperrung der Staaten um Österreich herum und der desolaten Währungsverhältnisse waren eben auch die Ernährungsverhältnisse bis ins Jahr 1926 hinein schlecht. Die österreichischen Alpenländer hatten vor dem Krieg keine intensive Landwirtschaft getrieben, weil sie aus den fruchtstrotzenden böhmisch-mährischen und ungarischen Ebenen leicht und billig alles bekamen. Die Intensivierung der österreichischen Landwirtschaft brauchte Jahre und in der Zwischenzeit mußten wir das Notwendige gegen harte Dollar aus Amerika heranholen. Unter diesen Umständen war es für uns eine Wohltat, wenn die liebe Schwiegermutter jeden Herbst prachtvolles Obst, Nüsse, Honig und Kolbáz, das waren die langen dünnen, prächtig schmeckenden Würste, aber auch Speck und einen gut gemästeten Indian (Truthahn) sandte.
Wenn meine Schwiegereltern zu Besuch kamen, so boten wir ihnen natürlich alles, was ohne Schulden zu machen im Bereich der Möglichkeit lag. Ja, wir fuhren mit ihnen einmal sogar zu mehrtägigem Aufenthalt nach Mariazell, das ja infolge seiner Gründung durch König Ludwig den Ungarn viel bedeutete. Sonst aber mußten wir, auch nach der Währungsreform, jeden Groschen sparen. Denn das Gehalt eines Obersten betrug bloß 600,- Schilling, und das war für die Deckung aller Auslagen herzlich wenig und als Dauerzustand bedrückend.
Meinen Schwiegereltern behagte diese finanzielle Enge garnicht, obwohl sie selbst stets in Geldverlegenheit waren, der reichen Nutznießung aus Aba zum Trotz. So war mein Schwiegervater empört, daß sein Sohn Georg in Budapest andauernd hohe Schulden machte, die durch Geldaufnahmen der Eltern und Belastung des Gutes abgedeckt wurden. Wenn meine Schwiegereltern unmutige Äußerungen über meine kärglich sparsame Wirtschaft machten und ich dann die Frage stellte, ob ich wie Schwager Georg Schulden machen und ihnen zur Bezahlung melden solle, wiesen sie diesen Gedanken weit von sich. Mich bedrückte es selbstverständlich, daß ich trotz emsigem Fleiß und Einsatz aller meiner Kräfte im Dienst keinen Groschen mehr als mein Gehalt beschaffen konnte. Hoch muß ich da die wunderbare moralische Kraft meiner lieben Frau preisen, die in diesen Jahren treu und gewissenhaft zu mir hielt und der hochfahrigen ungarischen Lotterwirtschaft eine Absage erteilte. Allerdings konnte ich meinen Schwiegervater dazu bestimmen, seiner Tochter zu deren alleiniger Verfügung eine Jahresapanage von 2.000,- Pengö, gleich ebensoviel Schilling, zu geben, die Judith in der Folge mehr oder weniger regelmäßig ausbezahlt wurde; daraus konnte sie ihre Leibwäsche und zum Teil auch ihren Kleiderbedarf decken.
Ende 1922 wurde in Aba puszta die Pacht mit Pächter Gödöny nicht erneuert. Mein Schwiegervater übernahm die Bewirtschaftung des kleinen Gutes in der Erwartung, selbst mehr aus dem Gut herauswirtschaften zu können. Dem waren während meines Urlaubes in Aba lange Besprechungen vorangegangen. Durch frühere Briefe der Eltern veranlaßt, hatte ich in meinem weiten Brigadebereich Erkundigungen über die Rentabilität kleiner Güter wie Aba eingezogen, das etwa 120 Hektar mit einem Grundwert von 160.000,- alten Kronen hatte und anscheinend aus steuerlichen Gründen auch in Pengö nicht höher bewertet war. In Österreich wurde mir gesagt, daß solche Mittelgüter, wenn nicht Kulturen hohen Wertes wie Hopfen, Arzneipflanzen, Wein, Mastviehzucht, Hühnerfarmen usw. betrieben würden, sich als Herrenbesitz nicht halten könnten und früher oder später nur große Bauerngüter würden.
Schweren Herzens also hatte sich meine Schwiegermutter bewegen lassen, die Bearbeitung des Gutes ihrem Gatten László anzuvertrauen, der immerhin ein gereifter Mann war und viele Pläne zur rationelleren Bewirtschaftung des Gutes hatte. Sie bat mich aber in rührendem Vertrauen zu meinem Charakter, ihrem Manne mit Rat und Tat beizustehen. Auch dieser wünschte, daß ich mich in österreichischen Agrarkreisen umsehen und ihn über Anregungen und Erfahrungen aus diesen Kreisen informieren möge.
Unverständlicherweise aber legte er sehr häufig meiner Frau, von der er wußte, daß sie trotz ihres treu bewahrten Österreichertums mit ihrem Herzen an Abas Erde hing, dar, sie sei eine reiche Frau und solle nur Vertrauen zu ihm haben; er werde auch sie über den vitézi szék [von Hórthy gegründeter „Ritterorden”] zur Grundbesitzerin machen. So gerne ich den Wünschen beider Schwiegereltern entsprach, mußte ich doch anderseits meine Frau vor Illusionen bewahren: ich sah die Lage so, daß wir zu Lebzeiten der guten Eltern dankbar alle Lebensmittel- und Urlaubsaufenthaltsunterstützungen annehmen konnten, jedoch nie damit rechnen sollten, daß Judith sich nach deren Ableben in Aba jemals daheim fühlen würde. Ihr Bruder Georg, der Alleinerbe, war ein kalter Egoist und würde für seine Schwester nie einen Finger rühren.
Mein Schwiegervater ging die Bewirtschaftung Abas mit großem Elan an, freilich ohne Kapital. Und leider blieb ihm der Erfolg versagt. So gab es viel Mühen, Plage und Sorgen ohne Ende. Als Hilfskraft beschäftigte Vater bald Boris Bagenski, einen kreuzbraven russischen Kosakenoffizier, der als Flüchtling der weißen Armee über die Türkei nach Ungarn gekommen war.
Da zeigte sich meinem guten Schwiegervater mit der von Ungarn nach dem Vorbild der alten österreichischen militärischen Grenzbesiedlung in Angriff genommenen Vitéz-Institution ein Silberstreifen am Horizont. Im Krieg hoch ausgezeichnete Offiziere und Soldaten sollten mit Grund bedacht werden, dessen Abgabe vom patriotischen Sinn der Großgrundbesitzer, besonders des Adels, erwartet wurde. Hier hoffte mein Schwiegervater durch die tapfere Führung seines Regimentes während der ganzen Kriegsdauer zum Zug zu kommen.
Anderseits richtete mein Schwiegervater seine Augen auf seinen jüngeren Bruder Adám in Debrecen, obwohl dessen Eheschließung mit einer einfachen Bürgersfrau anfangs seine Entrüstung hervorgerufen hatte, umsomehr als derem verstorbenen Mann kriminelle Verfehlungen nachgetratscht wurden. Die kluge und dem Alter nach sehr gut zu Adám passende Jolán Tóth besaß in Debrecen ein solid gebautes Landhaus mit einem Joch Garten, der ihr samt Hühner- und Entenhaltung alles zum Leben Notwendige reichlich bot. Außerdem hatte sie ein 50 ha großes Grundstück gut verpachtet. Dazu kam nun Adáms Ruhegehalt, so daß die beiden alten Leute ein behagliches Leben führen und sogar Auslandsreisen unternehmen konnten. Der anfängliche Groll gegen diese Ehe besänftigte sich in dem Maß, als Jolán regelmäßig einmal meinem Schwiegervater, einmal meiner Schwiegermutter mit 100,- oder 200,- Pengö aushelfen konnte.
Gemäß meinem langjährigen Freundschaftsverhältnis zu Onkel Adám hatten Judith und ich die beiden gleich bei unserem ersten Urlaub 1922 in Debrecen besucht. Der Onkel wies darauf hin, daß seine Frau und er keine Erben hätten und brachte wieder den Gedanken meiner Adoption durch ihn vor, womit seine Frau einverstanden wäre und ich ins Erbe eintreten könnte. Wie bei früheren Gelegenheiten wies ich den Gedanken einer Adoption behutsam unter Hinweis auf meine aussichtsreiche Stellung in Österreich zurück, was Jolán gut verstand. Sie sagte dazu auch, daß als Erbe nur ihr Landhaus mit Garten in Betracht komme, weil sie mit Rücksicht auf die Art, wie ihr verstorbener Mann die 50 ha Acker erworben habe, diese einem wohltätigen Zweck widmen wolle. Damit betrachteten Judith und ich die Geschichte als erledigt; mein Schwiegervater hingegen behielt sie für die Zukunft im Auge.
Solange kein Schulzwang meine beiden Damen früher zur Rückreise nach St.Pölten nötigte, fuhr ich nach Ablauf meines Urlaubes allein heim. Judith und Kind genossen noch lange den nach dem heißen Sommer schönen milden ostungarischen Herbst.
Dienstlich hatte sich in Österreich für mich Entscheidendes geändert. Das Heeresressort kam aus den Händen des Staatssekretärs Deutsch nach kurzen Zwischenbesetzungen in jene des christlichsozialen Ministers Carl Vaugoin. Dieser war anfangs aktiver Train-Oberleutnant gewesen, hatte dann aber den Dienst mit Versicherungswesen und Politik vertauscht. Vaugoin war nicht nur ein österreichischer Patriot mit hohem Ansehen in seiner christlichsozialen Partei, sondern auch ein sehr guter, die alte kaiserliche Armee verehrender Soldat. Als solcher war er gleich nach Übernahme des Ressorts bestrebt, das mit Ausnahme des Großteils der Offiziere, man kann wohl sagen, rote Heer in eine dem bürgerlichen Element nahekommende, im alten Geist disziplinierte Armee umzuwandeln. Angesichts der Stärke der sozialdemokratischen Partei ging das nur langsam Schritt für Schritt. Und da die Soldaten die vollen politischen Rechte besaßen, wurde den sozialistisch und kommunistisch Organisierten der „Wehrbund” als Vereinigung aller bürgerlichen Elemente entgegengestellt.
Die Ordnung, die wir in der 3.Brigade schon, schärfer als in den anderen, erreicht hatten, wurde in den folgenden Jahren immer weiter ausgebaut. Im Verein mit meinen Kommandanten bemühte ich mich sehr, den Richtlinien Vaugoins nachzukommen und aus dem katholischen „Reichsbund” gute Leute für die Rekrutierung gewillt zu machen. Denn das uns von den Entente-Mächten aufgezwungene Wehrgesetz sah nicht die allgemeine Wehrpflicht vor, sondern ein Berufsheer mit einer 12jährigen Dienstpflicht der Mannschaft. Meine Kommandanten und ich konnten uns jedoch nicht entschließen, selbst dem christlichsozial organisierten „Wehrbund” beizutreten. Wir glaubten der Konsolidierung des Heeres als unpolitische Offiziere wie in der k.u.k. Armee besser dienen zu können. Einige Offiziere waren allerdings, ob aus Überzeugung möchte ich dahingestellt lassen, wie Obst.Körner sozialdemokratisch geworden und ließen sich nun christlichsozial organisieren; andere wiederum, die unpolitisch geblieben waren, meinten nun der Sache und sich besser dienen zu können, wenn sie sich dem „Wehrbund” unmittelbar anschlossen. Mir jedenfalls widerstrebte es, gute Soldaten schlecht zu behandeln, weil sie überzeugte Sozialdemokraten waren, sowie christlichsozial organisierte zu fördern, wenn sie schlechte Soldaten waren. Disziplin und militärische Leistung verbunden mit einem anständigen Charakter blieben für mich immer maßgebend.
Den „Roten” gegenüber hielt ich eine starke Position: im Dienst schonte ich mich nicht, und bei den allseits gepflogenen Recherchen über das Vorleben der Offiziere war meine Arbeit als Maurergeselle bekannt geworden. Beliebte Titulaturen wie „Arbeitermörder”, „unsozialer Kapitalist” und ähnliche prallten an mir überzeugend ab. Wenn Leute frech zu werden drohten, konnte ich ihnen mit aller Schärfe ins Gesicht sagen, daß ich als Gebildeter manuelle Arbeit nicht gescheut hätte; sie jedoch seien nichteinmal zu manueller Arbeit gewillt, offenbar nur zum Querulieren. Darauf wurde Soldat oder Politiker natürlich klein.
Leider wuchsen die politischen Spannungen. Je besser wir das Heer mit Disziplin, moralischem Gehalt und militärischem Können erfüllten, umso schärfer entwickelte die sozialdemokratische Partei ihre brachiale Gewalt im „Republikanischen Schutzbund”, worauf wieder die Bürgerlichen mit der „Heimwehr” ein Gegengewicht schufen.
Als der geniale Staatsmann Prälat Seipel die Regierung übernahm, bot er den Sozialdemokraten dreimal die Zusammenarbeit in einer Koalition an. Diese lehnten dreimal ab und deklarierten durch ihren gescheiten, aber ehrsüchtigen Führer Bauer in Linz ein neues Parteiprogramm, das klar die „Diktatur des Proletariats”, also den Kommunismus als ihr Ziel herausstellte. Dem setzte die „Heimwehr” ihr faszistisches Ziel im „Korneuburger Programm” entgegen. Während die ungesetzlichen Parteiarmeen aus privaten Mitteln aufgerüstet wurden, verkümmerte das gesetzliche Bundesheer mangels staatlicher Mittel.
Minister Vaugoin war es 1923 gelungen, Obst.Körner als Exponenten alles „Roten” im Bundesheer nach Beförderung zum General durch Versetzung in den Ruhestand auszuscheiden. Dieser trat bald darauf öffentlich als oberster Führer des „Republikanischen Schutzbundes” in Erscheinung, was bei allen bürgerlich Gesinnten Abscheu erweckte. In der Folge sah man diesen Mann bei allen sonntäglichen Aufmärschen des „Schutzbundes” und sonstiger Organisationen zur Einschüchterung des Bürgertums an der Spitze marschieren, wohl in Zivilkleidung, doch auffällig durch seinen Backenbart und die militärische Haltung. Im Bundesheer aber war mit Körner das Haupthindernis für die Konsolidierung beseitigt.
Nicht in St.Pölten, jedoch in Wien, Linz, Wr.Neustadt und Graz kam es zu wilden Angriffen der „Roten” auf Abteilungen des Bundesheeres, wenn diese mit den Kriegsauszeichnungen an der Brust an kirchlichen Feiern, besonders an Fronleichnamsprozessionen, teilnahmen. Dank der energischen Haltung Bundeskanzler Seipels und Minister Vaugoins konnten sich nach und nach Bundesheer und verschiedene Heimwehren immer mehr als Ordnungsmächte durchsetzen. Allen im öffentlichen Leben Stehenden wurde immer klarer, daß diese unguten Verhältnisse einmal zum Bürgerkrieg führen müßten, wenn Österreich sich vor dem Kommunismus bewahren wollte.
Mit diesem kurzen politischen Überblick bin ich meinem Tun und Geschehen vorausgeeilt, um das unruhige Milieu, in dem wir zu leben hatten, darzustellen. Meine bei allen Gelegenheiten bewundernswert sozial denkende und auch politisch klarsichtige Frau war mir ein tapferer Lebenskamerad. Wir sahen im Frühjahr 1923 der Geburt unseres zweiten Kindes entgegen, das für Judiths und mein simples Denken ein Bub sein werde. Alle möglichen Namen hatten wir bereits durchgesprochen, am besten gefiel uns Leopold. Während die Schwiegermama die Zeit der Niederkunft Judiths im März für ihren Besuch ausgewählt hatte, besuchte mein Schwiegervater uns im Jänner und Februar 1923.
Ein für uns heikles Thema schnitt er mit dem Gedanken an, seine Frau solle ihm ihren Grundbesitz zur Gänze als „vitézi telek” schenken. Dadurch würde der Besitz staatlich gebunden, was eine Sicherung gegen die von Georg nach dem Tod der Eltern zu gewärtigende Verschleuderung des Besitzes wäre. Die Mutter gelegentlich ihrer Anwesenheit in St.Pölten zu beeinflußen, lehnte ich rundweg ab, hing sie doch mit Stolz an Aba puszta.
Der Gesundheitszustand meiner Frau war ausgezeichnet. Der Gynäkologe stellte eine leichte Geburt in Aussicht und empfahl uns eine zuverlässige Hebamme, weshalb wir eine Heimgeburt beschlossen. Wir hatten ein Dienstmädchen und eine Bedienerin. Die Hebamme, Frau Angelmaier, kam einmal zu Besuch und sagte uns genau, was alles vorzubereiten war. Meine liebe Frau hatte für die Entbindung das neben der Küche gelegene Kabinett gewählt, weil dort die beiden in Salzburg erworbenen Militärbetten standen, deren durchbrochene Rück- und Fußteile Judith wegen der leichten Festhalte-Möglichkeit vorzog.
Meine liebe Schwiegermama war - hervorgerufen durch ihr Basedowleiden - in einem außerordentlich nervösen Zustand angekommen, der sich vor der Geburt so steigerte, daß ich die Arme nach Eintritt der Wehen am anderen Ende der Wohnung in die Loggia setzen mußte.
Judith war es sehr recht, daß an Stelle ihrer Mutter ich der Hebamme assistierte. Sie war außerordentlich tapfer, ließ keinen Laut hören und um 9h abends war alles glatt überstanden. Wir hatten von Gott ein gesundes Frühlingskind geschenkt erhalten. Wie erstaunt waren wir beide jedoch, daß es ein Mädchen war! Wieder mußte ich meiner lieben Frau versichern, daß mir das Mäderl ebenso lieb sei wie ein Bub.
Die liebe Schwiegermutter wollte es gar nicht glauben, als ich ihr um 10h abends sagte, daß alles glücklich beendet sei. Sie hätte doch gar kein Schreien gehört, wovor sie sich so sehr gefürchtet habe. Trotzdem blieb meine Erstgeborene ihr Lieblingsenkel; die so rosig schlafende Zweite hatte ihr zuviel Aufregung bereitet.
In den Jahren 1923 und 1924 fuhren Judith und ich nicht nach Aba puszta. Die beschwerliche Reise mit der Kleinen schreckte uns weniger, vielmehr schienen uns die große Hitze, der Mangel an guter Milch und die Milliarden Fliegen zu gefährlich. Ab 1925 waren wir sommers wieder regelmäßig auf dem ostungarischen Gut.
Bei uns daheim war das Jahr 1924 ein sorgenreiches. Im Frühjahr hatte ich einen heftigen Gallenanfall erlitten, und kurz darauf begann meine Frau zu kränkeln. Sie fühlte sich schwach und klagte über starke Rückenschmerzen. Dr.Klaus untersuchte Judith ganz genau. Er fand keine akute Ursache. Der Herzfehler und die hochgradige Blutarmut waren ja schon bekannt, und sie trank konsequent ihren Eisenwein. Dr.Klaus führte ihre körperliche Schwäche auf zu langes Stillen zurück und war der Meinung, daß man nur Geduld haben solle, sie werde sich schon erholen. Mir sagte er, ich möge kein drittes Kind forcieren. Um ganz sicher zu gehen, bat ich auch den Militärarzt Dr.Steingötter, der einen ausgezeichneten Ruf genoß, Judith zu untersuchen. Der hatte angesichts des blassen Teints meiner Frau zuerst die Sorge, daß es sich um einen der damals so häufigen Lungenspitzenkatarrhe handeln könnte. Er legte darum besonderes Gewicht auf die gründlichste Untersuchung der Lunge, fand jedoch keinen Anlaß zu irgendeiner Sorge. Gleich Dr.Klaus war er der Meinung, sie möge ruhig weiterleben, es werde alles wieder gut werden. Und so war es auch: Judith erholte sich nach und nach wieder ganz.
Im Herbst 1924 bekamen unsere beiden Kinder den Keuchhusten, an dem sie lange laborierten. Dr.Klaus organisierte für das Frühjahr 1925 für seine Schützlinge, die alle den Keuchhusten hatten, einen zweimonatigen Aufenthalt in Grado, wo die salzige Meerluft die Kinder seiner Erfahrung nach völlig ausheile. Zwar war ich sofort dafür, doch betrugen die Kosten alles in allem 2.000.- Schilling pro Kind. Da mein erspartes Geld längst dahin war, zögerte ich nicht, ein damals mögliches Gesuch um einen Gehaltsvorschuß zu stellen, der in 48 Monatsraten zurückzuzahlen war. Der wurde mir bewilligt. Also reiste meine Frau Anfang Mai mit dem ganzen Konvoi nach Grado; nachdem sie sich überzeugt hatte, daß die Kinder dort gut versorgt würden, kehrte sie bald heim. Von ihrem Adria-Aufenthalt kamen die Kinder dann gesund und braun nach Hause.
Nach unserer Rückkehr vom Sommeraufenthalt in Aba behandelten wir beide Kinder erfolgreich mit dem damals neu herausgekommenen Diphterie-Serum, das durch längere Zeit einzureiben war - die Diphterie mit all ihren bösen Folgen blieb uns erspart. Masern und Schafblattern gingen ohne besondere Schwierigkeiten vorbei.
Nach dem Krieg gab es in St.Pölten viel tuberkulose Kinder. Der Appetitmangel unserer Älteren weckte in mir die Angst, sie könne ebenfalls infiziert sein. Ich entschloß mich, mit ihr zum berühmten Kinderarzt Baron Pirquet nach Wien zu fahren. Wir suchten ihn in seiner Privatordination in der Alserstraße auf. Er war eine ganz eigenartig große, vornehme Erscheinung, hatte jedoch das Lächeln verlernt. Sein in der Kriegsnotzeit erdachtes Nem-System (1 Nem entsprach dem Nährwert eines Würfels Zucker) war in ganz Europa bekannt geworden. Er hatte auf seinem Schreibtisch unter Glas Tabellen, auf denen die Berechnungen festgehalten waren, wieviel Nem Nahrung ein Kind seinem Alter nach aufnehmen müsse, um zu gedeihen. Nachdem ich meine Sorge wegen Tuberkulose vorgebracht hatte, untersuchte er die Kleine ganz genau und wandte sich dann zu meiner Frau mit der Äußerung, der Kleinen fehle organisch gar nichts, sie sei ausgehungert. Wir beide waren über diese Diagnose erleichtert und erstaunt. Pirquet schrieb, immer auf seinen Tabellen nachsehend, eine lange Liste auf, die er dann meiner Frau reichte. Da war ein Wochen-Speiseplan aufgeschrieben, nach Gramm und Flüssigmaß genau, wieviel unsere Tochter bei jeder Mahlzeit essen mußte. Als meine Frau die Vorschreibung überlesen hatte, meinte sie, das wäre ganz schön, aber soviel Nahrung werde ihr Kind einfach verweigern. Darauf erwiderte Pirquet: „Dann müssen Sie die Kleine halt stopfen wie ein Stück Geflügel.” Schließlich äußerte sich Judith noch fragend, ob die Gesichtsblässe nicht krankhaft sei, worauf Pirquet, schon etwas ungeduldig geworden, erwiderte: „Nein, das ist halt Ihr Kind! Und Ihre Mutter hat sicher auch den blassen Teint. Solche Mütter können keine rotbackigen Kinder haben.” Das Honorar bezahlte ich froh, nun gewiß zu sein, daß meine liebes Kind gesund sei.
Daheim begann dann eine Mast in Mengen, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Es gab Tränen, aber nach einiger Zeit war die Wirkung groß. Da ich in der Sorge um die Kinder sehr genau war, steckte ich Klein-Judith auch täglich das Thermometer in die Achsel und war beunruhigt, daß es fast immer 37,1 bis 37,2 zeigte, die typische Temperatur aller an der Lunge laborierenden Menschen. Zum Glück war neben uns im gleichen Haus ein Kinderarzt, Dr.Ossoinigg, eingezogen, der an der Grazer Klinik als Schüler des berühmten Professors Hamburger gearbeitet hatte. Auf Patientensuche sah er einmal Klein-Judith unaufgefordert an und fragte, ob das Kind nicht erhöhte Temperaturen habe; ich bejahte. Darauf erwiderte er, das Kind habe zu große Halsmandeln, die müßten ihm genommen werden; nach St.Pölten sei soeben ein Spezialist zugezogen, der werde die Operation in Ossoiniggs Wohnung für uns möglichst bequem arrangieren; und es werde uns auch wenig kosten, weil die Krankenkasse das bezahle. Ob es sich da nicht um eine reißerische Patientenwerbung handelte? Vorher wollte ich jedenfalls nocheinmal Pirquets Meinung hören. Da kam am nächsten Tag die erschütternde Nachricht, daß dieser große Arzt gemeinsam mit seiner Frau durch Gift aus dem Leben geschieden war. Wir betrauerten ihn aufrichtig. Nach Rückfrage bei Steingötter sagten wir Ossoinigg zu. Das Ergebnis war sehr gut: die erhöhten Temperaturen schwanden und die Kleine blühte auf.
1926 war sie schulreif geworden, und wir hätten das Kind gern in der ausgezeichneten Schule der Englischen Fräulein gesehen. Die dauernde Hetze des Pastors gegen dieses Institut erreichte schließlich, daß der Bischof, Exzellenz Memelauer, die Aufnahme protestantischer Kinder auch als Externe verbot. So mußte unsere Tochter den Unterricht in der öffentlichen Volksschule beginnen, was insofern eine Zurücksetzung bedeutete, als Mädchen aus gut bürgerlichen Familien durchwegs bei den Englischen Fräulein eingeschult wurden. Auch für unsere Jüngere brachte unsere Mischehe eine Enttäuschung: die jährliche Fronleichnamsprozession, die sich auf dem großen Platz vor Franziskanerkirche und Rathaus abspielte, wurde von meiner Frau und den Kindern von den Fenstern des Schneck-Hauses mitverfolgt, und es kränkte uns oft, wenn wir wahrnahmen, wie sehr das Kind zu den schön gekleideten Mädchen im Prozessionszug wollte; denn als Kalvinerin durfte sie nicht mitmachen.
Auch meine Frau zog es zur katholischen Kirche. Trotzdem sprachen wir nie von einer Konversion; wir wollten der Schwiegermutter diesen Schmerz nicht antun. Nach zwei Jahren änderte sich die Lage: der neue protestantische Direktor der Glanzstoffabrik Von der Heide brachte den von der finanziellen Unterstützung durch diese Fabrik abhängigen Pastor dazu, seine Tonart wesentlich zu ändern. Die Familie Von der Heide, mit der wir bald in netten Verkehr kamen, hatte ein gleichaltriges Mädchen, Ilse, und es gelang unseren vereinten Bemühungen, den Bischof zur Aufhebung seines Verbotes der Einschulung protestantischer Kinder zu bestimmen. Dadurch konnte unsere Ältere zu den Englischen Fräulein umgeschult und später unsere Jüngere dort direkt hingebracht werden.
Die militärisch-dienstlichen Verhältnisse waren hinsichtlich der Disziplin der Truppen zwar immer besser, sonst jedoch unerfreulich geworden. Die finanzielle Ordnung war durch Bundeskanzler Seipel beim Völkerbund in Genf mit einer Auslandanleihe nur gegen Zubilligung der Kontrolle unserer Finanzgebarung durch einen holländischen Einsparungskommissär geglückt. Wenn in Österreich Einsparungen gemacht werden müssen, dann ist es alte österreichische Tradition, beim Heer zu beginnen. So auch jetzt.
Im zuständigen Ministerium war an die Stelle von Gen.Körner ein General Schiebel getreten, dessen Geistesvermögen sich am besten durch seinen mir gegenüber 1929 gemachten Ausspruch charakterisieren läßt: „Einem jeden, der mir sagt, daß innerhalb der nächsten zwanzig Jahre ein Krieg möglich wäre, dem sage ich, daß er ein Trottel ist.” Als 1939 der II.Weltkrieg ausbrach, war ich schon in Erfurt konfiniert und deshalb des zweifelhaften Vergnügens enthoben, ihn zu fragen, wer nun eigentlich der „Trottel” sei.
Gemeinsam mit Minister Vaugoin setzte dieser General den Abbaumaßnahmen nicht den geringsten Widerstand entgegen. Der nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain mit 30.000 festgelegte Stand des Heeres wurde bis auf 18.000 reduziert. Im Heer herrschte dadurch nach und nach über die ministerielle Führung eine Verbitterung, die sich in der Meinung äußerte, daß Vaugoin und Schiebel bereit wären das ganze Bundesheer abzubauen, wenn nur der eine Minister und der andere Sektionschef bleiben könne. Es war daher kein Wunder, wenn die Offiziere neidvoll oder bewundernd nach Deutschland zu blicken begannen, wo für das 100.000 Mann starke Heer nicht nur alle finanziellen Mittel reichlich gegeben wurden, sondern auch noch genug Geld für die Entwicklung neuer Waffen auf russischem Staatsgebiet vorhanden war.
Die durch die starre Negationspolitik der Sozialdemokratischen Partei immer mehr zu einem Bürgerkrieg treibende Innenpolitik zwang das Bundesheer, sich entsprechend auf die Auseinandersetzung im Inneren einzurichten. Es war ein Wunder und gibt ein beredtes Zeugnis von den hohen Qualitäten der aus dem kaiserlichen Heer hervorgegangenen Offiziere, daß der operativ-taktische Ausbildungsgrad des Heeres, besonders unter dem hervorragend begabten Heeresinspektor Siegmund Knaus, trotzdem eine vom Ausland nicht übertroffene Höhe erreichte. Sogar auf dem Gebiet der Waffentechnik wurden mit geringsten Mitteln gute Erfolge errungen, wenigstens mit Modell-Entwicklungen.
Ein Beispiel, wie tief an höchster Stelle die Moral bezüglich der Verteidigungspflicht gesunken war, will ich anführen: 1927, als infolge des gespannten Verhältnisses zwischen Italien und Jugoslawien mit der Möglichkeit eines Krieges gerechnet werden mußte, verlangte das Land Kärnten mit Recht Vorkehrungen zum Schutz seiner Grenzen. Das BMf.Landesverteidigung übertrug die Verantwortung dafür und die Leitung unserem 3.Brigadekommando. Der Weisung entsprechend studierte und bearbeitete ich alle Maßnahmen zur Sicherung der Grenzen gründlich und ernst. Mein Brigadier GM.Janda und ich fuhren nach Kärnten, besahen unsere nach der Karte entworfenen Maßnahmen im Gelände und pflogen Rücksprache mit der Landesregierung. Der damalige Landeshauptmann Lemisch war Gutsbesitzer und erfüllt von seiner Verantwortung. Er sagte uns alle Unterstützung zu, die das Land aus Eigenem geben konnte. Nach St.Pölten zurückgekehrt faßten wir unsere Anträge zu einem Bericht zusammen und legten diesen dem Ministerium mit den geringst berechneten Erfordernissen vor. Als längere Zeit keine Antwort kam, bewog ich den Brigadier zu einer persönlichen Berichterstattung beim Minister für Landesverteidigung. Als Janda von Wien zurückkam, zeigte er sich über meinen Rat recht verärgert, die Erfordernisse dem Minister unmittelbar vorzutragen. Er habe nichts erreicht; Gen.Schiebel wäre sehr ungehalten gewesen, daß der Brigadier den Minister selbst zu sprechen wünschte; der ganze Auftrag sei der Brigade nur gegeben worden, um den Kärntner Landeshauptmann zu beruhigen. Im Ministerium denke man nicht daran, in Kärnten etwas zu tun, was Geld kosten könnte. Beim Vortrag vor Vaugoin, bei dem Schiebel auch zugegen gewesen sei, hätte der Minister für den sittlichen Ernst, mit dem wir den Auftrag des Ministeriums bearbeiteten, nur spöttische Bemerkungen übriggehabt, jedoch strengstes Stillschweigen gegenüber der Kärntner Landesregierung geboten. Aus Sorge vor seiner etwaigen Pensionierung fügte sich Janda. Ich arbeitete mit dem Leiter der Heeresverwaltungsstelle Klagenfurt und dem Kommando des dortigen Infanterieregimentes im Stillen weiter und es wurden nach und nach wenigstens jene Sicherungsarbeiten vollbracht, die aus Landesmitteln geschehen konnten. [Anm.v.Knaus: Es ist interessant, daß ich als damaliger Präsidialchef im Heeresministerium, als gebürtiger Kärntner und ehemaliger Stabschef bei der Verteidigung Kärntens von diesen Vorgängen im J.1927 nicht unterrichtet wurde. Knaus GdI. 5.4.1962 e.h.]
Sonst verliefen die Jahre der militärischen Tätigkeit im üblichen Friedensrhythmus: Rekrutenausbildung, Wintermarschübungen, Kriegsspiele und applikatorische Übungen, Sport- und Alpinausbildung, Frühjahresinspizierungen aller Garnisonen, Hilfeleistungen bei Elementarereignissen, Übungslager für die Truppen, Herbstmanöver, Waffenruhe und bei den berittenen Truppen in Stockerau Jagdritte.
In diesem Jahr 1927 überraschte mich in Aba puszta die Nachricht vom kommunistischen Exzeß in Wien. Die ewig aufhetzende Tätigkeit der Sozialdemokraten hatte es dazu gebracht, daß die kommunistisch eingestellten Teile der sozialdemokratischen Partei von Floridsdorf mit Petroleumkannen zum Justizpalast zogen und diesen einfach anzündeten, um das die bürgerlichen Besitzverhältnisse festhaltende Grundbuch zu vernichten, was ihnen auch gelang. Der sozialistische Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien, Otto Seitz, lehnte den Einsatz des Bundesheeres ab, so daß die dem regelrechten Aufruhr kaum gewachsene Polizei erst nach ihrer Bewaffnung mit Gewehren unter beiderseitigen schweren blutigen Verlusten die Ordnung wieder herstellen konnte. [Anm.v.Knaus: Nein, nicht Seitz, sondern der Polizeipräsident Joh.Schober, der stets ein Gegner des Bundesheeres war. Erst um 5h nachm. des 15.7.1927 erhielt ich vom Bundeskanzler Dr.Seipel die Erlaubnis, daß das Bundesheer eingreifen kann. Teile der IR 4 u. 5 stellten bis 7h abends die volle Ruhe her. Knaus GdI. 5.4.1962]
In den Ländern war es völlig ruhig geblieben. Das Grundbuch konnte wieder hergestellt werden, aber die von Otto Bauer aufgeputschte Sozialdemokratie hatte vorexerziert, wessen man sich in Österreich vorzusehen hatte. Die starke Haltung des Regierungschefs zwang die Aufrührer nieder. In der nächsten Zeit bekämpfte er mit Erfolg das von der Sozialdemokratie für sich beanspruchte Einschüchterungsrecht der Bevölkerung durch Aufmärsche, indem er ebenso inszenierte Aufmärsche der „Heimwehr” begünstigte. In Wr.Neustadt wurde das Bundesheer erstmals aufgeboten, um den „Schutzbund” von der „Heimwehr” zu trennen. [Anm.v.Knaus: Das erfolgreiche Auftreten des Bundesheeres am 15.Juli 1927 hatte zur Folge: höhere Geldmittel für Anschaffung von Kraftwagen für schnell zu befördernde Kpn.; Ausbau des milit.Radionetzes, Fertigstellung der allg.Dienstvorschrift, zielbewußtes Auftreten des BH. .K.5.4.1962.]
Das Jahr 1929 brachte in meiner dienstlichen Stellung eine Veränderung. Ich wurde nach 8½jähriger Tätigkeit als Stabschef mit 1.Februar zum „zugeteilten Offizier” beim gleichen Brigadekommando bestellt, womit ich in die Prüfungszeit für meine Eignung zum Brigadekommandanten eintrat:
im Sommer war ich Lehrer am Stabsoffizierskurs in Wien unter GM.Schäfer;
Anfang Herbst führte ich die 3.Brigade bei den in Kärnten von GM.Janda entworfenen Manövern gegen die 6.Tirolische Brigade;
im Spätherbst war ich bei der vom Heeresinspektor, Gen.Eimannsberger, geleiteten Übungsreise in Oberösterreich an der Traun nächst Lambach eingeteilt.
Bei allen drei Anlässen wurde mir die „hervorragende Eignung” zugesprochen.
Zu meinem Nachfolger als Stabschef war der bisher im Ministerium beschäftigt gewesene Obst.Ruggera ernannt worden. Das war ein sehr gelehrter und fleißiger, insbesonders im infanteristischen Schießwesen gut bewanderter Generalstabsoffizier, dem aber die Fähigkeit zu selbständigen Dispositionen mangelte. Der Brigadier, durch mich gewohnt, sich dem Dienst täglich nicht mehr als zwei Stunden widmen zu müssen, stöhnte über seinen neuen Stabschef ebenso, wie die Referenten klagten, nie klare Weisungen für ihre Aufgaben zu erhalten. Ich konnte alle nur damit trösten, daß Ruggera halt Zeit brauche, um sich einzuarbeiten.
An einem Sonntag im Sommer 1929 spielte sich Eigenartiges ab. Unzufrieden mit der vernünftig ruhigen sozialistischen Arbeiterführung durch Bürgermeister Schnofel hatte die sozialdemokratische Partei einen großen „Schutzbund”-Aufmarsch in St.Pölten angeordnet, was in St.Pölten niemandem recht war und die „Heimwehr” ihrerseits zu einem Gegenaufmarsch veranlaßte. Dieserart konnte es leicht zu schweren Zusammenstößen kommen, obwohl Schnofel sich sehr bemühte, beide Aufmärsche voneinander zu trennen. Aus Sorge um meine Familie war ich für diesen Tag nach St.Pölten gekommen. Ich hatte mich - um über alles Geschehen rasch orientiert zu sein - im Brigadekommando ins Zimmer des „zugeteilten Offiziers” gesetzt und sah die Taktikaufgaben meiner Frequentanten im Stabsoffizierskurs durch. Da betrat plötzlich GM.Janda das Zimmer mit den Worten: „Du lieber Jansa, ich bitte dich, spiel' heute nocheinmal den Stabschef! Mit dem Ruggera ist nichts anzufangen, der ist ganz konfus!”
Die Lage war folgende: Bezirkshauptmann Wolff hatte den Auftrag erhalten, den sozialistischen Aufmarsch aufzulösen und im Falle der Widersetzlichkeit militärische Gewalt zur Erzwingung der Auflösung anzufordern. Der alte Praktiker sagte richtig, daß er diesen Auflösungsbefehl den „Roten” erst kundtun könne, wenn die Militärassistenz, die er hiemit anfordere, aktionsbereit sei; er kam fragen, wann das militärischerseits der Fall sein könne. Die „Roten” hatten mit Autos und Eisenbahn etwa 8.000 Schutzbündler herangefahren, die am Trabrennplatz aus mitgebrachten Küchen Mittagessen wollen, um anschließend den Terrormarsch durch die Stadt zu machen, in deren Ostteil die „Heimwehr” ihrerseits biwakiere. Das war um etwa 10h vormittags. Trotzdem für solche Fälle, von mir vorbereitet, alle nötigen Befehle in einer Mappe bereit lagen, waren Brigadier und Stabschef nicht in der Lage dem Bezirkshauptmann eine klare Antwort zu geben.
Ich hatte die Sache noch im Kopf und erwiderte dem Bezirkshauptmann, die Garnison St.Pölten wäre in einer halben Stunde bereit, aber zahlenmäßig zu schwach; die Garnisonen Melk und Krems, zusammen 4 Bataillone, könnten in 2 Stunden per Autotransport dasein; ihre Einweisung würde 15 Minuten brauchen, so daß um 12h15 der ganze „Schutzbund” arretiert werden könne; außerdem würde ich aus Wien vom Inf.Rgt.5 noch die automobilisierte Alarmkompagnie heranholen, die aber erst nach 14h hier sein könne. Der Bezirkshauptmann bedankte sich und ging befriedigt in sein Amt, kannte er mich ja seit Jahren.
Die Alarm-Mappe mit den vorbereiteten Befehlen brauchte ich garnicht, sondern befahl Melk, Krems und Wien rasch telephonisch aus dem Stegreif alles Nötige. Dann nahm ich den Ortsplan von St.Pölten und zeichnete
1.) die Absperrung des Trabrennplatzes durch enfilierende Aufstellung von Maschinengewehren an den vier Längs- und Kurzseiten durch die Garnisonen St.Pölten und Melk,
2.) von der Garnison Krems ein Bataillon zur Sicherung des Marschweges vom Trabrennplatz zum Bahnhof und Autopark der Sozis, um Ausbrüche derselben in die Stadt zu verhindern,
3.) ein Reserve-Bataillon am Schießstattring.
Mit diesen Karteneinzeichnungen sandte ich je einen Offizier mit Auto den von Melk und Krems anrollenden Truppen zur deren rascher Einweisung entgegen. GM.Janda bat ich, die „Heimwehr” im Ostteil St.Pöltens zu bitten, sich ganz ruhig zu verhalten. Meiner Frau gab ich Nachricht, sie möge sich keine Sorgen machen, aber mit den Kindern nicht ausgehen. Dann nahm ich die Korrektur der Taktikaufgaben meiner Frequentanten aus dem Stabsoffizierskurs wieder auf.
Alles lief dank der in früheren Monaten bis ins kleinste Detail getroffenen Alarmvorbereitungen klaglos pünktlich ab. Ich begab mich mit GM.Janda zum Eingang des Trabrennplatzes und prüfte im Vorbeigehen die Truppenaufstellung: alle Gewehre und Maschinengewehre waren scharf geladen und schußbereit; unübersichtliche Stellen mit Hindernis-Drahtrollen gesichert, ebenso der Marschweg zum Bahnhof, wo der Bahnhofvorstand jetzt von Obstlt.Tengler orientiert wurde, die Transportgarnituren zur Aufnahme und zum Heimtransport der Schutzbündler bereitzumachen.
Pünktlich um 12h15 erschien von der Bezirkshauptmannschaft ziemlich schlotternd der Bezirkskommissär Dr.Schneider, welcher der Schutzbundführung die Auflösungsweisung zu überbringen hatte. Wir hatten beobachtet, wo sich Dr.Deutsch und Gen.Körner befanden. Janda zeigte ihm die beiden und sagte ihm, er solle sehr fest auftreten und besonders Körner sagen, daß der Platz von Truppen umstellt sei, die jeden Widerstand sofort mit Waffengewalt brechen würden. Wir konnten noch beobachten, daß sich die Schutzbündler gerade für den geplanten Terrormarsch zu rangieren begannen. Nun sahen wir, wie Schneider mit Deutsch und Körner sprach und dann zu uns zurückkam. Deutsch hatte protestiert, dann aber mit Zustimmung Körners gesagt, daß sie die Weisung befolgen würden.
Und nun begann statt eines Terrormarsches der stille Abzug der „Roten” durch das Truppenspalier zum Bahnhof und dem Autopark. Körner und Deutsch marschierten an der Spitze. Als Körner an Janda und mir vorbeikam, machte er uns im Gehen eine Verbeugung, welchen Gruß wir durch Salutierung kurz erwiderten.
Ich eilte dann in die Wiener Straße, um die aus Wien kommende Alarmkompanie des Inf.Rgt.Nr.5 zu empfangen. Sie war prächtig gefahren und schon um halb 2h da. Das Ministerium hatte ihr zur Sicherheit noch die Alarmkompagnien der Regimenter 3 und 4 nachgesandt. Diesen gab ich nun den Befehl, sich in die abfahrenden Autokolonnen einzuschieben und diese nur in kleinen Gruppen nach Wien hineinzulassen, damit die „Roten” dort nicht mit geschlossener Masse Eindruck schinden könnten.
Um 5h Nachmittag war der ganze Zauber beendet. Alles war reibungslos abgelaufen. Es war für alle eine augenscheinliche Belehrung, daß die „Roten” nicht mehr nach ihrem Gutdünken die Straße beherrschen und das Bürgertum einschüchtern konnten. Bürgermeister Schnofel, dem ich am Heimweg zu meiner Familie begegnete, grüßte mich sehr zuvorkommend; er war offensichtlich froh, daß alles zu einem guten Ende gekommen war.
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Bevor das Jahr 1929 zur Neige ging, erfaßte ich in St.Pölten erstmals, was der Nationalsozialismus zu bedeuten hatte.
Außerhalb der Stadt lag auf einer Anhöhe das Munitionsdepot Maman, in dem scharfe Gewehrmunition, aber auch hochbrisante Handgranaten lagerten. Als zugeteilter Offizier beim Brigadekommando war ich besonders mit den Agenden des Ortskommandos befaßt, zu denen auch die Kontrolle des Wachdienstes gehörte. Es traten immer wieder Gerüchte auf, daß der „Schutzbund” sich durch Überfälle auf die Wachen Munition beschaffen wolle.
Berichte der Inspektionsoffiziere ließen mich mutmaßen, daß der Wachdienst vielleicht nicht mit der nötigen Schärfe gehandhabt wurde,so daß ich beschloß, mir selbst ein Bild zu machen. Ich wählte dazu den Heiligen Abend, der uns Christen, nicht aber den „Roten” heilig war. Als nach der Bescherung die lieben Kinder zur Ruhe gebracht waren, steckte ich ein paar Schokoladen für die Wache zu mir und zog los. Meine Frau meinte zwar, ich wäre verrückt, ließ mich aber schließlich gehen. Als ich mich gegen 11h dem Munitionsdepot näherte, wurde ich vom Posten sofort angerufen. Es herrschte also gute Aufmerksamkeit. Ich gab die Losung und kam an das Depot heran. Der Wachkommandant trat eben heraus, als sich der Posten bei mir meldete. Ich war zufrieden, ermahnte die Wache auch weiterhin so aufmerksam zu sein, gab ihr die mitgebrachten Schokoladen und ging in die Stadt zurück.
Als ich mich dem Rathausplatz näherte, schlug die Uhr Mitternacht und das Geläute der Franziskanerkirche bewog mich, dort zur Christmette einzutreten. Die Kirche war gut besucht; ich wollte mich nicht vordrängen und blieb nahe dem Eingang stehen. Kurz vor der heiligen Wandlung hörte ich vor und gleich darauf in der Kirche beim Eingang lautes Schreien und Heil-Hitler-Rufe. Als ich mich umblickte, sah ich ein paar Männer in der SA-Uniform, die auf leise Ruhe-Rufe seitens der Andächtigen, noch lauter schrieen, also offenkundig die heilige Handlung stören wollten. Ich trat auf die Leute zu, und mit ein paar sofort anpackenden Männern drängte ich die SA-Leute aus der Kirche. Vom Rathaus kam uns schon die Polizei entgegen, der gegenüber die fünf SA-Leute, die nicht betrunken waren, ihre Namen und wir die Klage wegen Störung des Gottesdienstes angaben. Wir katholischen Männer gingen in die Kirche zurück, und nach Schluß der Mette heim.
Bisher war ich der nationalsozialistischen Bewegung ganz desinteressiert gegenüber gestanden. Ich erinnerte mich nur, daß Bundeskanzler Seipel einem gewissen Adolf Hitler die österreichische Staatsbürgerschaft abgesprochen hatte. Meine Aufmerksamkeit war seit Jahren ganz der Sozialdemokratie mit ihrem „Schutzbund” zugewandt. Da die großdeutschen Parlamentarier mit der christlichsozialen Regierung verbunden waren, betrachtete ich die nationale Bewegung nicht unfreundlich und den aufkommenden Nationalsozialismus als eine militante, mit den Christlichsozialen und der „Heimwehr” zusammen gegen den Kommunismus gerichtete Bewegung.
Die erlebte Störung veranlaßte mich nun, mir nach den Feiertagen in der Buchhandlung Schubert Hitlers «Mein Kampf» auszuleihen. Zur Gänze habe ich diese Bekenntnisse eines gescheiterten Menschen nie gelesen; mir genügten schon die ersten fünfzig Seiten mit ihren Haßausbrüchen gegen die öst-ung.Monarchie und gröblichen Beschimpfungen der Dynastie, in voller Verkennung der Bedeutung dieses übernationalen, auf den Schutz der kleinen Völker ausgerichtet gewesenen Staates. Und das verkündete „praktische Christentum” dieser Partei bedeutete also in Wirklichkeit die Bekämpfung der katholischen Kirche! Diese Enthüllung der Bewegung durch die SA-Männer war für mich der Weckruf, die Tätigkeit aller Anhänger dieser Bewegung in der Brigade unter die Lupe zu nehmen. Bei den Offizieren höheren Grades, die der kaiserlichen Armee entstammten, war wie bei mir die Unkenntnis der Wege und Ziele dieser Bewegung charakteristisch. Propagiert und getragen wurde deren Gedankengut von kleinen Leuten: einzelnen Unteroffizieren und aus der Volkswehr, also auch aus dem Mannschaftsstand hervorgegangenen Leutnants, Oberleutnants und besonders einem Hptm.Leopold beim Inf.Rgt.Nr.6. Dabei waren fast alle dieser Nazi-Bewegung anhängenden Leute gute, tüchtige, diensteifrige Soldaten.
Ich machte aus meinen neu gewonnenen Erfahrungen kein Hehl und besprach sie mit dem Brigadier und den Offizieren. Da die Soldaten des Bundesheeres wehrgesetzlich alle politischen Rechte, daher auch die Koalitionsfreiheit besaßen, konnte man den Zusammenschlüssen dieser nationalsozialistischen Soldaten nicht begegnen. Im Einvernehmen mit dem Brigadier beschloß ich, einmal eine solche von Stabswachtmeister Hesele in St.Pölten präsidierte Versammlung zu besuchen, um selbst Erfahrung zu gewinnen, was diese Leute eigentlich planten. Der Eindruck war anfangs nicht schlecht: Hesele ermahnte alle zu strengstem Gehorsam und genauer Erfüllung ihrer Dienstpflichten. Dann kam aber der Pferdefuß: „..., denn der Führer bedarf guter, tüchtiger Soldaten”. Auf meine Frage, ob der „Führer” ihnen mehr gelte als ihr der Republik Österreich geschworene Eid, antwortete mir Hesele, daß es da keinen Widerspruch gebe, denn der Führer werde den Zusammenschluß aller Deutschen mit großem Geschick und strengster Legalität lösen. Nun wußte ich genug, um die Gefährlichkeit dieser Bewegung zu erkennen.
Dieses Vorfühlen hätte mich vielleicht den Kragen gekostet. Minister Vaugoin hatte sofort von meinem Besuch einer Naziversammlung erfahren und meinen Brigadier gelegentlich seiner nächsten Besprechung im Ministerium gefragt, was ich dort zu tun gehabt hätte. Janda erklärte dem Minister die Ursache, den Zweck, seine Zustimmung und die gewonnene Erfahrung. Damit war der Minister beruhigt.
Da nach fast völliger Ausschaltung des sozialdemokratischen Elementes im Heere sich nun der christlichsoziale „Wehrbund” mit der nationalsozialistischen Gewerkschaft zu streiten begann, wäre nach der übereinstimmenden Meinung aller älteren Offiziere nun der Zeitpunkt gekommen, das Heer völlig der Politik zu entziehen. Es sind auch solche Anträge im Parlament gestellt worden; Minister Vaugoin konnte und wollte jedoch von der Politik nicht abgehen; das war nach seinen vielen großen Verdiensten um die Konsolidierung des Bundesheeres sein schwerster Fehler, weil dadurch der nationalsozialistischen Agitation rechtlich Vorschub geleistet wurde.
Mit 1.Juni 1930 wurde ich zum Kommandanten meiner mir liebgewordenen 3.Brigade bestellt und mit 28.Juni zum Generalmajor ernannt. Einen halben Monat später wurde ich erst 46 Jahre alt, durfte also mit meiner militärischen Laufbahn zufrieden sein.
Mein bisheriger Brigadier kam auf einen Nebenposten ins Ministerium und wurde mit Jahresende in den Ruhestand versetzt. Trotzdem GM.Janda die unwahrscheinlich lange Zeit von 5 Jahren als Generalmajor hatte aktiv dienen können, trennte er sich sehr schwer von seinem Amt, wußte er ja, daß sein Nebenposten ihm nur seine anrechnungsfähige Dienstzeit für den vollen Ruhegenuß vollenden helfen sollte. Zu seiner Verabschiedung arrangierte ich im schönen Garten der ehemaligen Militärunterrealschule ein Abendfest, bei dem auch ein Tanzparkett errichtet worden war. Leider ist es bei solchen Festen meist unabwendbar, daß sich Interesse und Lobhudelei eher dem neuernannten Kommandanten zuwenden, als dem scheidenden Abschiedsbeileid. Nun, daß mich die Herren gern hatten und mich wegen meiner Pflichterfüllung schätzten, wußte ich; neu war mir hingegen das strahlende Glück, das mir aus den Augen meiner Frau entgegenleuchtete. In ihrer Jugendfrische fand sie allgemein besondere Ehrung; und sie tanzte so viel wie nie zuvor in ihrem Leben.
Nach elfjähriger Ehe erkannte ich erst jetzt, daß alle bisher zur Schau gestellte Gleichgültigkeit militärischen Geselligkeiten gegenüber (als Erbe ihrer Mutter ausgegeben) nicht ganz echt gewesen war. In den ersten fünf Jahren, als meine drei Brigadiere in Wien wohnten, war meine Frau die erste Dame der militärischen Gesellschaft. Als dann Janda mit seiner Familie von Linz nach St.Pölten übersiedelte, war natürlich seine als Witwer geehelichte, junge Frau die erste Dame geworden, wie das ja allgemein üblich und natürlich ist. Sie war sehr nett und wir harmonierten gut; doch blieb nicht unbekannt, welch begeisterter Jäger, Fischer und Gemüsegärtner der Brigadier war, während ich im militärischen Dienst aufging. Das hatte meine liebe Frau anscheinend bedrückt.
Als Kommandant konnte ich nun der Brigade jenes gewisse „etwas” aufprägen, was ein Stabschef nie vermag und eben nur aus der Persönlichkeit des Kommandanten werden kann. Das war zum ersten eine Präzision im gesamten Dienstbetrieb und eine Strammheit im Auftreten jedes einzelnen Soldaten und jeder Abteilung, die meine Truppen von der Haltung in den anderen Brigaden hervorstechen ließ, was besonders an dem in Wien garnisonierenden Inf.Rgt.Nr.5 bei Paraden der Wiener Garnison zu bemerken war. Das Bestreben gesinnungsmäßig brave Leute aus der bürgerlichen Gesellschaft für den Dienst im Bundesheer zu gewinnen, hatte über Wunsch des Ministers dazu geführt, daß man den Leuten den Dienst möglichst leicht machen wollte, was, besonders in Wien, zu einer schon sehr legeren Haltung der Truppen führte. Mein Bestreben nach Straffung von Dienst und Haltung stieß beim neuen, mit 1.3.1930 zum Heeresinspektor berufenen Gen.Knaus auf großes Verständnis.
Zum zweiten vertiefte ich durch die Art meiner Inspizierungen die Kenntnis der neuen Felddienstvorschriften und die Gefechtsausbildung. Im Unterschied zu meinen Vorgängern ließ ich es nämlich nicht bei dem bewenden, was die Truppe selbst zeigen wollte, sondern arbeitete mir für jeden Termin ein genaues Prüfungsprogramm aus, das bei jeder Unterabteilung eine andere Aufgabe stellte und so den ganzen Ausbildungsstoff unter Kontrolle brachte, was bald die Intensität der Ausbildung vertiefte.
Zum dritten störte es mich, wenn ein Wehrmann bei den unvermeidlichen Stänkereien und Wirtshausraufereien den Kürzeren zog. Darum verstärkte ich die sportliche Ausbildung in waffenloser Verteidigung und führte in allen meinen Garnisonen den Boxsport ein, welchen die jungen Subalternoffiziere und Hauptleute genauso wie die Mannschaften üben mußten. Die Mittel zur Anschaffung der Geräte erbrachten die der Öffentlichkeit gegen Eintrittsgeld vorgeführten Sportfeste. Bald wurde keiner meiner Soldaten mehr angestänkert.
Dem Nationalsozialismus, der allmählich das Offizierskorps aufzuspalten drohte, suchte ich dadurch zu begegnen, daß ich der politischen, christlichsozial ausgerichteten Soldatenvereinigung „Wehrbund” beitrat und diesen Schritt in einem Offiziersbefehl allgemein als Richtungsweisung verlautbarte. Jetzt, da ich militärisch an Rang und Stellung alles erreicht hatte, was im Bundesheer billigerweise zu erwarten war, konnte niemand diesen Schritt als Opportunitätshandlung gegenüber Minister Vaugoin mißdeuten, wenn auch die betont nationale Presse nun über mich sozusagen als „Verräter an der nationalen Sache” (sprich Nazi) herfiel. Das Gros aller Offiziere der Brigade folgte meinem Beispiel; nur wenige schlossen sich den Nazis an. Es war in der Brigade eine wohltuende Klarheit der Haltung eingetreten.
Die wenigen dem Nazitum angehörenden Offiziere und Soldaten wegen ihrer politischen Gesinnung schlecht und ungerecht zu behandeln, widerstrebte mir, und ich habe es auch nicht getan. Zu dieser Zeit war der Nationalsozialismus in Österreich noch nicht verboten. Aber meine Gesinnung war für alle zweifelsfrei klargestellt und niemand konnte die Person des Kommandanten zu Werbezwecken fürs Nazitum ausspielen. Und das galt viel.
Als Kommandant kam ich auch mehr mit den lokalen Politikern in Berührung. Bürgermeister Schnofel habe ich bereits geschildert. Auch der sozialdemokratische Parlamentarier Schneidmadl war vernünftig und offensichtlich mit der Führung der Partei nicht einverstanden. Das konnte ich gelegentlich des Attentates auf Bundeskanzler Seipel in Wien wahrnehmen. Es war für jeden, der klar sehen wollte, eine Folge der sozialistisch-kommunistischen Aufhetzung der Menschen gegen die demokratische Ordnung in der Republik und gegen das katholische Christentum als Hort der persönlichen Freiheit. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß diese Gegensätze mit guten Worten nicht mehr überbrückt werden konnten und früher oder später zwangsläufig zur Austragung mit den Waffen führen mußten. So nahm ich, auch um politisch ausreichend informiert zu sein, enge Tuchfühlung mit den christlichsozialen Abgeordneten Raab, Heitzinger, Prader und Dengler, unter denen Raab als lokaler Heimwehrführer für mich der bedeutsamste war.
Das Bundesheer mußte unter diesen Verhältnissen zuverlässig und nicht nur gut feldmäßig, sondern auch für besonders rasche Alarmierung und Straßenkämpfe im Fall eines Bürgerkrieges geschult sein. Ich war unablässig bei Tag und in Abständen auch bei Nacht tätig, um die höchste Bereitschaft und Schlagfertigkeit aller meiner Truppen sicherzustellen, und forderte dieses genaue persönliche Aufgehen im Dienst unerbittlich von allen Offizieren, Beamten und Unteroffizieren. Ganz die gleichen Forderungen stellte auch der Heeresinspektor, und es befriedigte mich sehr, wenn er nach seinen immer überfallartigen Inspizierungen meinen Brigadebereich lobte; einmal sagte er zu mir, er wisse nicht, woran es liege, aber in meinem Bereiche fall ihm immer die gute, von den anderen Brigaden abstechend stramme und korrekte Haltung aller auf. Ich wußte, woran es lag: am rastlosen Einsatz und der auch die geringste Kleinigkeit stets im Auge behaltenden Kontrolle durch alle Kommandanten. Jetzt konnte ich meine reichen Erfahrungen im Krieg und besonders auch den damals wahrgenommenen preußischen Drill nützlich einsetzen.
Vaugoin war unter Beibehaltung des Heeresressorts Bundeskanzler geworden. Von seiner Energie erwartete ich die immer dringender werdende Notwendigkeit der Entwaffnung des „Schutzbundes”. Die Manöver dieses Jahres führten meine Brigade zuerst nach Nord-Niederösterreich, dann zu dem von Gen.Knaus geleiteten Schlußmanöver bei Sieghartskirchen und endlich zu einer großen Parade der 1., 2., 3. und 4. Brigade auf dem Heldenplatz in Wien. Ich nahm, um für alle Fälle einsatzfähig zu sein, auf zwei Wagen der Kraftfahrkompagnie scharfe Munition mit. Während der Übungen in Nord-Niederösterreich führte ich zur Stärkung des Selbstbewußtseins der Brigade Ehrenabteilungen aller Truppen zu einer Feldmesse am Grab von FML Radetzky in Wetzdorf zusammen, nach welcher ich zu den Truppen sprach. Der Eindruck der großen Parade in Wien war mächtig; es kam zu keinerlei Störungen und daher auch nicht zur erhofften Entwaffnung des „Schutzbundes”.
Erst nach Abschluß der Manöver konnte ich mir ein paar kurze Urlaubstage gönnen, die ich wie immer bei meinen Lieben in Aba puszta verbrachte.
Angesichts der vielen Geldsorgen ihres Vaters bat mich Judith um mein Einverständnis zu ihrem Verzicht auf ihre Apanage; als General bedürfe ich doch nicht mehr der Unterstützung durch ihren bedrängten Vater. Ich hatte ja nun tatsächlich ein Nettogehalt von rund 1.000,- Schilling monatlich, und natürlich konnte man von dem leben, aber nur bei großer Sparsamkeit, worauf ich meine gute Frau aufmerksam machte. Diese Apanage war freilich mehr Anspruch als Realität - sie hatte schon seit zwei Jahren kein Geld erhalten -, also willigte ich ein. Schwiegervater freute sich so sehr über die Bescheidenheit seiner Tochter, daß er seinem Sohn Georg, unter neuerlicher Belastung des Gutes, das von diesem heißersehnte Personenauto kaufte.
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Wieder in St.Pölten eingetroffen, fand ich die Einladung von Schwadron und Brigade-Artillerieabteilung in Stockerau zu ihren Herbstjagdritten. Mein Vorgänger hatte diesen Einladungen nie stattgegeben. Ich überlegte: obwohl ich gerne ritt, hatte ich doch nie an einem Hindernis-Parcours teilgenommen; meinen braven Schimmel „Sieger” nach Stockerau zu senden, hätte nicht viel Sinn gehabt, weil das Pferd schon alt war und nach längerem Galopp zum Lahmen neigte; in Stockerau würde ich mich auf ein von der Schwadron beigestelltes fremdes Pferd setzen und losreiten müssen. Konnte ich das? Wenn ich herunterfiel oder nur den Gaul nicht über die Hindernisse brachte, wäre dies äußerst blamabel; ginge es aber glatt, dann würde meine Geltung nicht nur bei den berittenen Truppen, sondern in der ganzen Brigade und über diese hinaus gewaltig steigen, denn außer dem alten Kavalleristen Englisch-Popparich in Linz hatte bisher noch kein General an den Jagdritten teilgenommen. Da die Welt dem Mutigen gehört und ich mich über einen Mangel an Soldatenglück nicht beklagen konnte, sagte ich zu mit dem Auftrag, ein passendes Pferd für mich bereitzustellen.
An einem prachtvoll schönen Herbsttag fuhr ich mittags mit dem Auto nach Stockerau. Dort machte ich am wartenden Gaul die Bügelriemen kurz (soviel wußte ich noch von der Kriegsschulzeit), und unter Führung von Obstlt.Ottenschläger als Master breschten wir los. Es war ein wunderbarer glatter Ritt über viele, mäßig hohe und breite Hindernisse. Nur ein Leutnant war etwas böse gestürzt. Ich nahm nach dem Ritt im Kasino den Tee und fuhr dann, mächtig befriedigt, nach St.Pölten heim zur Bridge-Partie, die meine Frau für diesen Abend mit Grimburgs arrangiert hatte. Sie war ganz stolz, als ich von dem schönen Nachmittag erzählte.
Die Tatsache, daß ich mit gutem Erfolg am Jagdritt teilgenommen hatte, eilte natürlich wie ein Lauffeuer nach Wien ins Ministerium. Bei dem war gerade die Nachricht eingelangt, daß der schwedische Kronprinz in den nächsten Tagen Wien besuchen werde und dazu den Wunsch geäußert habe, an Jagdritten teilzunehmen. Was lag da näher als den Kronprinzen nach Stockerau zu weisen, wo ein repräsentativer General und Brigadekommandant an den Ritten selbst teilnahm?
Alle Vorbereitungen für den Jagdritt und den Hubertus Ritt ließ ich in den bewährten Händen des Artilleriekommandanten Obstlt.Ottenschläger, der von Schwadronkommandant Mjr.Schmidt bestens unterstützt wurde. Für mich verlangte ich das ausgezeichnete Jagdpferd, mit dem ich den vergangenen Ritt bewältigt hatte, während für den Kronprinzen und sein Gefolge Pferde aus Wien nach Stockerau gesandt wurden, aus der Reserve des Ministeriums im Reit- und Fahrlehrerinstitut. Zum Hubertusritt hatte ich anstandshalber auch Kavallerieinspektor Gen.Höberth trotz seiner ehemals roten Gesinnung geladen. Als Hausherr in Stockerau bat Ottenschläger auch den damaligen Präsidenten der Wiener Reitervereinigung, Szentkirály, zum Hubertusritt und hatte mit dem Besitzer der prachtvollen, wildreichen Donauauen, Grafen Hardegg, über dessen Bruder, den ehemaligen k.u.k Ulanenoberstleutnant, wegen Führung der Jagd durch diese Auen Fühlung genommen. Der Majoratsherr hatte dem Hubertusritt durch sein Jagdgebiet unter der Bedingung zugestimmt, daß sein Bruder als Master die Jagd zu führen habe und keine Hunde eingesetzt werden dürften.
Dementsprechend wurden der Jagdritt am 31.Oktober nachmittags und der Hubertusritt, der von den Gästen mit Zylinder, vom Master mit rotem Jagdrock absolviert wurde, am 3.November vormittags durchgeführt, beide bei schönem Wetter. Besonders der Hubertusritt war herrlich, wenn wir ganze Rudel von Rehen und Hirschen aufstöberten, die dann eine Weile neben uns galoppierten, bevor sie sich wieder in ein für uns undurchdringliches Dickicht zurückzogen. Für beide Anlässe konnte ich im Ministerium Geld freibekommen, um dem Kronprinzen einmal den Tee und nach dem Hubertusritt einen Lunch im Offizierskasino zu bieten. Der Prinz sprach gut deutsch und zeigte sich freundlich, bescheiden und dankbar.
Solche Jagdritte habe ich auch in den folgenden Jahren mitgemacht.
Zwei Klarstellungen verdienen noch Erwähnung: Die Nachkriegszeit hatte es auch in den Offizierskorps dazu gebracht, daß Witwen mit und ohne Kinder mit ledigen Offizieren zusammenlebten ohne zu heiraten, um beide Einkommen ungeschmälert zu erhalten. Die Notzeit nach dem Krieg tolerierte diese im Frieden vor dem Krieg für Offiziere unmöglich gewesenen Konkubinate. Ich konnte und wollte als Stabschef auch nicht dagegen einschreiten, solange sich dieser Personenkreis nicht bei öffentlichen Geselligkeiten zeigte. Mein Vorgänger hatte es aber geduldet, daß so unehelich zusammenlebende Frauen und Offiziere zu den Kasinounterhaltungen und Bällen erschienen, die Frauen zumeist in reicherer Kleidung, als sie den gesetzlichen Ehefrauen möglich war, was kritisiert wurde. Meine diesbezüglichen Vorstellungen hatte GM.Janda nicht gelten lassen wollen. Als Kommandant machte ich - nach vorheriger Absicherung im Ministerium - reinen Tisch. In Briefen an die Truppenkommandanten und den Bezirkshauptmann von St.Pölten ersuchte ich diese, den betreffenden Herren zu eröffnen, daß ich deren Erscheinen mit ihren unehelichen Damen bei Garnisonsbällen und sonstigen Veranstaltungen des geselligen Lebens nicht wünsche. Es gab natürlich, besonders in Krems, Verstimmungen, die mich aber nicht rührten.
Das andere betraf das Verhältnis des Offizierskorps zum Adel der Umgebung. Dieser Adel sah sich gern zu den Garnisonsbällen geladen, um seine Töchter tanzen zu lassen und selbst an einem besonderen Ehrentisch hofiert zu werden. Sonstigen geselligen Verkehr mit den Offiziersfamilien lehnte er jedoch ab; besonders die adeligen Damen fanden es nicht der Mühe wert, ihnen von verheirateten Offizieren mit deren Frauen gemachte Besuche zu erwidern; das überließen sie ihren Männern allein. Mein Vorgänger hatte das im Interesse seiner Jagdleidenschaft hingenommen und dieser selbst dann nachgegeben, wenn er bei Jagdeinladungen nicht ins Schloß gebeten, sondern vom Verwalter zusammen mit den bäuerlichen Gästen vor Jagdbeginn empfangen und bewirtet wurde. Sobald ich Kommandant geworden war, stellte ich deshalb die beiden zunächst wohnenden Grafen Kufstein und Trauttmannsdorff zur Rede. Beide baten vielmals um Entschuldigung, verständigten mich aber nach ein paar Tagen mit neuerlichen Entschuldigungen, daß sie ihre Frauen zu Besuchen bei Offiziersfamilien nicht bringen könnten. Ich nahm das zur Kenntnis und zog daraus in der Form die Konsequenzen, daß ich zu unseren Unterhaltungen und Bällen niemand von dieser hochnasigen Gesellschaft einlud, und hatte dafür alle Offiziere auf meiner Seite. Im Fasching wurde ich mehrfach von den hochadeligen Damen telephonisch gefragt, ob es denn keinen Garnisonsball gäbe, da sie noch keine Einladungen erhalten hätten und ihre Töchter doch gerne tanzen würden; sehr höflich teilte ich ihnen mit, daß es diese Bälle natürlich gebe, sie nur deswegen keine Einladungen bekämen, weil die Damen es ablehnten, in üblicher Weise mit Offiziersfamilien geselligen Verkehr zu pflegen. Das genügte; ich wurde als „rot” vertratscht, was mir freilich gleichgültig war.
Überdies habe ich bei diesen Unterhaltungen den sogenannten Ehrentisch abgeschafft, an dem sich mein Vorgänger mit seiner Familie und seinen hochadeligen Gästen - für die anderen Offiziersfrauen unzugänglich - gesonnt hatte. Während meiner Kommandoführung nahmen die Offiziersfamilien mit ihren Gästen Platz, wie und wo sie wollten. Meine Frau und ich, von allen freudig als ihre Höchstrepräsentanten anerkannt, nahmen abwechselnd an jedem Tisch Platz und jede Offiziersfrau galt uns ebenbürtig.
Schließlich nahm ich mir auch die Verbotslisten aller Offiziere und Beamten vor, weil ich aus meiner Leutnantszeit wußte, wie schlecht der Einfluß verschuldeter Offiziere auf ihre Kameraden, besonders auf ihre Untergebenen ist. Zwei schwere Fälle hatte ich in der Brigade. Der eine betraf einen sonst hervorragend tüchtigen Regimentskommandanten, dessen 15.000,- Schilling Schulden ich mit Hilfe des Ministeriums zu sanieren bemüht war; dort versagte man mir aber die Unterstützung, obwohl der betreffende Oberst als besonderer Günstling Vaugoins galt. In der k.u.k.Armee bestand für solche Fälle der von FM Erzh.Albrecht gegründete „Albrechts-Fond”. In der Republik war Sektionschef Schiebel, der als alle Personalien behandelnder Mann dazu berufen gewesen wäre, zu gleichgültig, um eine ähnliche Hilfsinstitution aufzuziehen. Der verschuldete Oberst ist noch General geworden und hat dann später, wie ich es befürchtet hatte, als Wechselfälscher geendet, während sein Komplize, ein hoher Generalstabsoffizier, sich nach Aufdeckung der Fälschungen erschoß. Der zweite Offizier hatte sich nicht gescheut, bei Mannschaftspersonen Schulden zu machen. Er hat disziplinär die Charge verloren und ist aus dem Heer ausgestoßen worden. Hätten sich meine Vorgänger um diese Dinge zeitgerecht gekümmert, so hätte das Ärgste vielleicht vermieden werden können. Andere kleinere Fälle konnte ich zeitgerecht aufgreifen und durch scharfe Ermahnungen und Gehaltsvorschüsse mit kontrollierter Schuldenausgleichung in Ordnung bringen.
Obwohl an sich unbefriedigend entlohnt, waren die Offiziere in der Republik im allgemeinen wesentlich besser gestellt als unter dem Kaiser. Alles, was wir uns in der Monarchie von der auch sehr klein bemessenen „Gage” selbst bezahlen mußten, wie zB. Uniform, Beschuhung, Waffen, Feldstecher, Pferde und Sattelzeug, bekamen wir in der Republik in guter Qualität beigestellt. Darüber hinaus war die Schaffung der Bundeskrankenkasse mit freier Arztwahl für den Offizier und alle seine Familienmitglieder von segensreicher Wirkung. Auch im Wohnungswesen wurde durch Einbau von schönen Wohnungen in unausgenützten militärischen Objekten viel getan.
Im Jahr 1931 hatten die Brigaden 5 und 6 große Manöver. Ich konnte daher meine Brigade, ohne alles lästige Schaugepränge, durch 24 Stunden im Gelände östlich St.Pölten (Langmannersdorfer Höhe) in einem durch Tag und Nacht ununterbrochenen Angriff schulen und so allen Waffen, besonders der Artillerie, Zeit schaffen, ihre Befehle für den Einsatz und die Feuer-Regelung wie unter Kriegsverhältnissen zu geben. Unter der Übungsannahme, daß der bei Tag angesetzte Angriff nicht durchgedrungen sei, ließ ich in der Nacht die Umgruppierung zu neuem Ansatz durchführen. Den dann am Morgen durchgeführten Angriff inspizierte der gestrenge Heeresinspektor. Nachher bekamen wir von ihm eine fulminante Belobung für Idee, Anlage und Durchführung der Übung.
Im doppelten geistigen Kampf gegen die sozialistisch-kommunistischen Einflüsse einerseits und jene des Nationalsozialismus anderseits erstrebte ich namentlich bei den Offizieren eine gründliche Kenntnis der in ihrer kriegerischen und kulturellen Großartigkeit faszinierenden österreichischen Geschichte. Leider gab es damals keine «Österreichische Geschichte». Durch Zufall hörte ich einmal im Radio den Wiener Universitätsprofessor Eibl gerade in der Art über österreichische Geschichte sprechen, wie ich sie zur Steigerung unseres Selbstbewußtseins suchte: er wies nach, daß die ganze „deutsche” Geschichte ohne die „österreichische” ein Torso sei.
Diesen Professor Eibl suchte ich in Wien auf und bat ihn um eine Kopie seiner Vorträge. Er verwies mich aufs Handbuch der christlich-deutschen Turnerschaft, in dem seine Geschichte einen Abschnitt fülle. Dort war er aber aus seiner Geschichtsauffassung leider zur Folgerung gekommen, daß Österreich an Deutschland angeschlossen werden müsse, und vertrat diesen Standpunkt auch unbeschadet des Umstandes, daß Deutschland inzwischen durchs Nazitum der größte Feind Österreichs geworden war. Nachdem ich das Turnerbuch gelesen hatte, suchte ich Prof.Eibl in Wien noch einmal auf, um ihn zu einer Abänderung seiner Konklusionen dahingehend zu bringen, daß Österreich, gerade aus seinem großartigen eigenständigen Geschichtsbewußtsein heraus, sich dem es beschimpfenden Nazitum versagen müsse. Der Professor war nicht umzustimmen. So konnte ich leider seine sonst großartige Geschichtsdarstellung nicht benützen.
Dem Mangel einer eigenständigen Geschichtsdarstellung Österreichs hat erst viel später Prof.Hantsch abgeholfen. Um 1930 haben unsere Universitätslehrer versagt. Um wieviel leichter hat es das Bundesheer der zweiten österreichischen Republik!
Sonst sind die zweieindrittel Jahre meiner Kommandoführung mit Winterkriegsspielen, Feiern von Gedenktagen, Denkmalweihen und anderen Anlässen ausgefüllt gewesen, alles in allem ein schöner und befriedigender Wirkungskreis.
1931 gönnte sich mein Schwiegervater erstmals einen Kuraufenthalt am Plattensee in Balatonfüred. Zu diesem nahm er seine Frau mit und lud auch seine Tochter ein. Die ganze Gesellschaft erfreute sich dort unter anderem an Georgs neuem Auto. Im Juli besuchten wir Georg in Baja und wurden dann von ihm nach Aba pusta gebracht. Doch mußte ich bald wieder nach St.Pölten abreisen.
Erst 1932, in welchem Jahre aus besonderen Einsparungsgründen keine Gelder für Truppenübungen bewilligt wurden, konnte ich einen längeren Urlaub in Aba verbringen, meinen letzten.
Dort orientierte mein gesundheitlich schon angegriffener Schwiegervater meine Frau und mich wie folgt: Sein seinerzeitiger Plan, daß Judith und ich die Bewirtschaftung des Landbesitzes übernehmen sollten, war gegenstandslos geworden. Es war meinem Schwiegervater gelungen, seinen Sohn Georg in eine ähnliche Stellung, wie er sie in Baja innegehabt hatte, beim Szabolcser Komitat mit Dienstsitz in Mátészalka zu plazieren. Dieser Ort lag Aba puszta so günstig nahe, daß Georg von ihm aus gemeinsam mit dem schon gut eingearbeiteten Verwalter Bagenszky die Landwirtschaft seines künftigen Besitzes und Aradvány sehr gut leiten konnte. Dort hatte Schwiegervater, den ungünstigen Boden- und Niederschlagsverhältnissen Rechnung tragend, 60% des Areals mit der rasch wachsenden Akazie bepflanzt und auf den verbleibenden 40% anbaufähigem Grund einen großen Edelobst- und Weingarten angelegt, so daß für den Ackerbau nur eine verhältnismäßig kleine Fläche blieb, die im Wechsel von Tabak und Lupinen mit Brotgetreide, Kartoffel und Rüben bebaut wurde sowie die Haltung eines Kleinbestandes an Vieh ermöglichte. Natürlich hatte das alles Geld gekostet, das den Grundbesitz mit Hypotheken belastete. Weiters orientierte er uns über sein Testament: hiernach sollten Georg und Judith gleichberechtigte Erben werden.
Meine gute Frau, die von Zahlen nicht viel verstand, glaubte nun wirklich reich zu sein. Doch angesichts unserer knappen Einkommensverhältnisse hielt ich es für richtig, sie nicht in diesem Glauben zu lassen. Damals schätzte ich den Schuldenstand von Aba puszta auf mindestens 50.000,- Pengö, so daß vom Grundwert von rund 160.000,- Abas höchstens 100.000,- in Rechnung gestellt werden könnten; ziehe man von diesen verschiedene gemachte Investitionen ab, so blieben höchstens 40 bis 50.000,- Pengö zwischen Georg und seiner Schwester zu teilen; sie möge sich darum nicht mehr als 20 bis höchstens 25.000,- Pengö Bargeld erwarten. Wir würden immer sparsam wirtschaften müssen! Diese meine Kalkulation lehnte meine liebe Frau gänzlich ab und betrachtete sich nach den Aussprüchen ihres geliebten Vaters als zumindest sehr wohlhabend.
Der Gesundheitszustand meines von mir als Soldat, Mensch und fürsorglicher Vater seiner Kinder hochverehrten Schwiegervaters bereitete mir große Sorge, die ich meiner Frau gegenüber allerdings nicht äußerte. Schon im Sommer 1930 hatte er gelegentlich eines seiner öfteren Besuche in Debrecen einen leichten Schlaganfall erlitten, der bloß eine Gesichtshälfte etwas entstellte und sich bald völlig ausglich.
Anläßlich seines Winterbesuches in St.Pölten wünschte er vom damals berühmten Leiter der 1.medizinischen Klinik in Wien, Prof.Dr.Wenckebach untersucht zu werden. Ich vereinbarte mit diesem brieflich die Zeit der Konsultation und sprach in meinem Schreiben - der abergläubischen Ängstlichkeit meines Schwiegervaters Rechnung tragend - die Bitte aus, dem alten Herrn direkt nichts Ungünstiges zu sagen, sondern nachher mir anzuvertrauen. Die Untersuchung war für mich enttäuschend: Prof.Wenckebach klopfte und hörte meinen Schwiegervater ab, machte mit dem Hammer auf die Knie schlagend die obligate Reaktionsprobe und verschrieb dann ein Herzmedikament. Es erfolgte keinerlei Röntgenaufnahme, obwohl er das häufige schwere Aufstoßen des Patienten hörte. Zu meinem Schwiegervater sagte der Professor bloß, er möge weniger essen. Als ich dann mit diesem in den Nebenraum trat, um die Honorarfrage zu ordnen, fragte ich ihn um seine wahre Meinung. Er erwiderte mir bloß, daß es ein Schlaganfall gewesen sei und er nicht sagen könne, ob und wann sich dieser wiederholen werde. Meine Frage, ob das häufige schwere Aufstoßen nicht irgend ein Unheil im Magen andeute, verneinte Wenckebach und wiederholte abschließend bloß, der Patient möge weniger essen. Auch mein Schwiegervater war von der Untersuchung durch den Internisten von Weltruf mehr enttäuscht als beruhigt. Leider versäumte er es, sich in Budapest, wo man der Durchleuchtung des Leibes schon mehr Bedeutung zumaß, nocheinmal untersuchen zu lassen.
In diesem letzten Sommer, den ich durch mehrere Wochen in Aba verbringen konnte, fiel mir seine rapid abnehmende Leistungskraft auf: er, der früher stundenlang die Feldarbeiten kontrollierte, ermüdete jetzt sehr rasch und schlief häufig, sobald er sich setzte, gleich ein. Dabei war er doch erst 68 Jahre alt und sah auch noch sehr gut und stattlich aus. Ich riet meiner Schwiegermutter, ihn im Frühjahr unbedingt wieder nach Balatonfüred zu bringen und dort gründlich untersuchen zu lassen.
Es war auch in diesem Sommer 1932, daß der gut befreundete Gutsnachbar Jármy krank darniederlag. Was diesem fehlte, war nicht klar. Er hatte keine Schmerzen, verfiel aber von einem Tag zum anderen immer mehr. Bald nachdem wir nach St.Pölten zurückgekehrt waren, kam die Nachricht von dessen Tod. Mein Schwiegervater soll sie aber ruhig aufgenommen und keinerlei Rückschlüsse auf seinen eigenen Gesundheitszustand gezogen haben.
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG