FML JANSA
«Aus meinem Leben»
IV
KRIEGSSCHULE
Wien
1907-1910
In der Lehár-Gasse im VI.Bezirk steht neben dem auffallend großen Gebäude für die Kulissen der Hoftheater ein schlichtes zweistöckiges Haus, das heute der Technischen Hochschule gehört. Dieses Haus war die k.u.k. Kriegsschule, die Pflanzstätte für den k.u.k. Generalstab. Es hatte keinerlei Tradition: es war von FZM Beck dazu bestimmt worden. Die Gasse hieß zu meiner Schulzeit noch nicht Lehár-, sondern Dreihufeisen-Gasse; Lehárs Stern begann zu dieser Zeit erst aufzugehen, nämlich mit seiner glänzenden Operette «Die lustige Witwe», die vom benachbarten Theater an der Wien aus die Welt eroberte.
Ich fand in der Köstlergasse 6 als Hauptmieter eine Zweizimmer-Hof-Wohnung mit Vorzimmer und Küche, in welcher der Offiziersdiener wohnte, da ja das Kochen sich auf Kaffee und Tee beschränkte. Ich möblierte die Wohnung mit meinen schon in Pressburg gehabten Sachen. Dazu stellte mir mein guter Bruder Heinrich wieder ein Riesen-Reißbrett auf zwei Böcken als Arbeitstisch bei. Eine große flache Gummiwanne im Schlafzimmer ersetzte den fehlenden Baderaum. Während der drei anstrengenden Kriegsschuljahre behielt ich diese Wohnung bei.
Finanziell stand ich außerordentlich knapp, denn die 24 Kronen Kriegsschul-Zulage monatlich reichten nichteinmal aus, um die jeden Monat neu zu beschaffenden Skripten, Papiere, Landkarten, Tusche, Farben, Zeichenstifte usw. zu erstehen. Da es an der Kriegsschule keine Offiziersmesse gab wie beim Regiment, in der man sich wenigstens einmal am Tag gut und billig sattessen konnte, waren wir auf die für die Bezüge eines Leutnants viel zu teuren Restaurants angewiesen. So blieben mir nach strenger Kalkulation bloß 20 Heller für das Nachtmahl, was heute etwa 2 Schilling entspricht, um welche der Offiziersdiener abwechselnd Brot und Butter oder Brot und Fleisch-Abschnitzel, wie man sie in den Selchereien bekam, besorgte und mir dazu in meiner Nonplusultra-Maschine 2 Schalen Tee kochte. Zum Frühstück brachte er mir ¼ l Milch und 2 Semmeln.
Der Tag begann für uns recht früh. Schon um 6h mußten wir in der Reitschule sein, in der wir täglich durch eine Stunde scharf hergenommen wurden. Oft hatte man kaum Zeit, das verschwitzte Hemd zu wechseln, da der Unterricht im Lehrsaal schon um halb 8h begann und mit ganz kurzen Atempausen bis etwa 3h nachmittags währte. Dann erst konnten wir mittagessen und etwas spazieren gehen. Nachher wurde bis Mitternacht zuhause gelernt und Aufgaben gemacht. Leichter war es nur alle vierzehn Tage einmal, wenn wir mittags nach Mödling zum Unterricht in Naturwissenschaften zu fahren hatten, der wegen des Experimentier-Lehrsaales an der dortigen Technischen Akademie erfolgte. Da aßen wir in dem ausgezeichnet geführten Restaurant am Südbahnhof zu Mittag und kamen gegen 6h Nachmittag nach Wien zurück. An Samstagen schloß der Unterricht - wenn nicht Taktikaufgaben im Gelände zu bearbeiten waren - gegen 13h.
Für mich waren es drei aufreibend harte Lehrjahre. Immer wieder mußte ich erkennen, um wieviel leichter sich die zurechtfanden, die aus der Akademie in Wr.Neustadt kamen, besonders jene, die bei der Kavallerie dienten. Zunächst mußten wir Kadettenschüler so vieles, was die Neustädter in ihrer Akademie gelernt hatten, erst noch nachholen, und dann konnten sich die von der Kavallerie kommenden Offiziere - durchwegs wohlhabenderen Familien entstammend - viel leichter ernähren, was bei der enormen geistigen und physischen Beanspruchung bedeutsam war. Anderseits hat die spartanische Lebens- und Arbeitsweise uns Kadettenschüler bessere Prüfungserfolge erzielen lassen als die wegen ihrer besseren Bedingungen oft leichtsinnigeren Akademiker: bei Beendigung der Kriegsschule waren unter den sechs Bestbeurteilten denn auch nur 2 Neustädter, jedoch 4 Kadettenschüler. Unter zweiundvierzig Frequetanten absolvierte ich selbst die Kriegsschule mit „vorzüglichem” Erfolg als Viertbester.
Die Hauptunterrichtsfächer waren:
a) Taktik, di. die Truppenführung im Kampf
b) Operativer Generalstabsdienst, di. die Heranführung der Truppen aufs Kampffeld und ihre materielle Versorgung;
c) Kriegsgeschichte, di. die hohe Führung im Zusammenspiel mit der Politik;
d) Militärgeographie, di. die genaue geographische und topographische Kenntnis der öst-ung. Monarchie, und
e) Befestigung und Festungskrieg.
Diese fünf Fächer liefen durch alle drei Jahre und wurden im Lehrsaal durch Vorträge und schriftliche Aufgaben, sowie durch Aufgaben im Gelände bearbeitet. Alle Aufgaben, besonders jene im Gelände und auf den jährlichen Übungsreisen, wurden unter großen physischen Anstrengungen und starkem Zeitdruck bei der Beantwortung von Haupt- und Zwischenfragen gelöst, um den Verhältnissen in einem Krieg möglichst nahe zu kommen.
Die anderen auf die drei Jahre verteilten Unterrichtsfächer geringerer Bedeutung waren:
a) Heerwesen, di. die Kenntnis der Zusammensetzung der eigenen und fremden Heere im Frieden und Krieg;
b) Allgemeiner Generalstabsdienst, di. die kanzleitechnische Arbeit bei den höheren Kommandos im Frieden und Krieg, von uns Frequetanten „Haarschneiden und Frisieren” genannt;
c) Croquieren und Kartenwesen, das bedeutsam war, weil FM Conrad großen Wert auf graphische Darstellungen an Stelle langatmiger Erklärungen legte;
d) Marinewesen;
e) Staats- und Völkerrecht vorgetragen von Dr.Fuhrmann, der gelegentlich einmal in einem Vortrage die schwierigen politischen Verhältnisse der Monarchie als unlösbare Probleme bezeichnet und so den Untergang der Monarchie vorausgesagt hatte;
f) Staatswissenschaftliche Vorträge, gehalten von dem bedeutenden Staatsrechtslehrer Hofrat Guglia;
g) Naturwissenschaften und
h) Reiten.
Sehr instruktiv und für unsere Beurteilung und Klassifikation bedeutsam waren die jährlichen Übungsreisen uzw. im ersten Jahrgang in die Karpathen und nach Galizien, im zweiten Jahr in den italienischen Grenzraum mit alpinen Fußtouren und im dritten Jahr auf den Balkan nach Bosnien-Herzegovina sowie Dalmatien. Diese Reisen geschahen unter Lösung von taktischen und operativen Aufgaben, wie sie ein Krieg stellen konnte, wieder unter Forderung angespannter physischer und geistiger Leistungen.
Schließlich gab es noch Reisen zur Besichtigung von Fabriken wie Škoda in Pilsen, Steyr, Werften in Triest und Pola, Lagerhäuser und den Donau-Schiffpark.
Nach dem 1.Jahrgang wurde ich für sechs Wochen zum Div.Art.Rgt.Nr.6 in Wien eingeteilt, nach dem 2.Jahrgang zum DragonerRgt.Nr.2 nach Ostgalizien, nach dem 3.Jahrgang zur 3.Inf.Div. in Linz für die Manöver.
Denke ich heute nach fünfzig Jahren an diese Zeit zurück, so muß ich feststellen, daß diese Generalstabsschule ganz ausgezeichnet war, weil wir dort nicht nur fachlich unendlich viel gelernt, sondern auch die Sicherheit erworben hatten, vor keiner Aufgabe im späteren Leben des Krieges und Friedens zurückzuschrecken, vielmehr sie mit Ruhe zu betrachten und folgerichtig zu lösen. Wir entsprachen darum im Kriege durchwegs so gut, daß selbst die reichsdeutschen Generale, die alles Österreichische gern heruntermachten, uns Generalstabsoffiziere ausgezeichnet beurteilten. Und auch nach dem Zusammenbruch der Monarchie haben wir sowohl in den Nachfolgestaaten gute Armeen neu geschaffen, wie im zivilen wirtschaftlichen Leben solide Arbeit geleistet und vielfach angesehene Positionen gewonnen.
Dabei hatten wir an der Kriegsschule keine überragenden Persönlichkeiten als Lehrer; es waren vorwiegend gut beurteilte, aber durchschnittliche Stabsoffiziere. Auf diese ist es wohl auch zurückzuführen, daß die Folgerungen aus dem russisch-japanischen Krieg 1904/05, die vielfach auch für Europa gültig waren, nicht in jenem Maße erkannt und gelehrt wurden, wie sie dann im Weltkrieg 1914-18 zutage traten.
Das kameradschaftliche Verhältnis unter uns Frequetanten war gut. Es gab keine wetteifernde Streberei, weil unser Jahrgang so klein war, daß fast jeder mit seiner Übernahme in den Generalstab rechnen konnte. Diese gute Kameradschaft hat uns Generalstabsoffiziere während unseres ganzen Lebens begleitet. Wir fühlten uns der Dynastie besonders verpflichtet und stützten auch nachher einer den anderen wann und wo immer bis in unsere alten Tage.
Eigens erwähnen möchte ich das noble Verhalten meines Bruders Heinrich während meiner ganzen Kriegsschulzeit. Er, der sich danach gesehnt hatte, selbst Offizier zu werden, aber durch seinen zertrümmerten Fuß daran gehindert war, nahm an meinem militärischen Werdegang innigsten Anteil. In die Zeit meiner Kriegsschuljahre fiel sein Dienst bei der Donau-Regulierungskommission, und seine Verwendung im Strom-Baudienst brachte ihm verhältnismäßig hohe Zulagen ein, die er teils für seine elegante Garderobe, teils für seine und meine wöchentliche Entspannung nützte. So war ich an jedem verfügbaren Samstag Abend sein Gast in einem der Wiener Theater und anschließend meist im Opern-Restaurant zum Souper.
An den Sonntagen waren wir beide bei meinem Vater zum Mittagstisch geladen. Er wohnte damals immer noch im III.Bezirk am stillen Kolonitzplatz. Eine hervorragend kochende böhmische Dienstmagd betreute den 1903 zum Witwer gewordenen alten Herrn aufs beste. Nachmittags fuhr Heinrich dann wieder an seine Donau-Außendienststelle, und ich kehrte in meine Wohnung zurück, um weiter zu lernen.
Im Herbst 1910 schloß ich die Kriegsschule ab. Mit 1.November wurde ich „dem Generalstabe zugeteilt” und zur 9.Gebirgsbrigade in Sarajevo abkommandiert. Die Einteilung zu einer Gebirgsbrigade galt als Auszeichnung, und ich war mit ihr fürs erste voll zufrieden.
Diese große Veränderung in meinem Lebenslauf trug mir überdies 800 Kronen zur Pferdbeschaffung und 600 Kronen für Sattel- und Zaumzeug ein. Letzteres kaufte ich in hoher Qualität in Wien. Den Ankauf eines Pferdes hob ich mir jedoch für die Zeit nach meinem Einrücken in den Südosten der Donaumonarchie auf.
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG