FML JANSA
«Aus meinem Leben»
II
MILITÄRISCHE ERZIEHUNG
Breitensee
1898-1902
Anfang September 1898 bestand ich in der Stiftskaserne, wo die Wiener Infanteriekadettenschule bis dahin untergebracht gewesen war, die Aufnahmsprüfung und wurde, nach der ärztlichen Untersuchung als „mittelkräftig” bezeichnet, mit neunzig anderen jungen Burschen aufgenommen. Am 15.September rückte ich in das neue, gerade fertig gewordene Heim der Schule in Breitensee ein. Das war ein ganz moderner, luftiger Bau mit einem großen Exerzierplatz und einem ansprechenden Park. Es gab schöne Schlafsäle für je 20 Zöglinge, zwischen je zwei Schlafsälen einen großen Waschraum mit je zehn Wasserausläufen an jeder Seite, so daß in je zwei Partien alle sich gründlich und rasch reinigen konnten. Einen Stock tiefer lagen die hellen Lehrsäle mit großen Tischen und bequemen Stühlen, erleuchtet von vielen Gaslampen, die das Licht zur Decke strahlten und, nach unten abgeschirmt, eine ruhige schattenfreie Beleuchtung schufen. Es war auch an Zeichen-, Physik-, und Chemie-Lehr- und Experimentiersäle gedacht worden. Im Hochparterre befanden sich ein riesiger, für 400 Benützer berechneter Speisesaal, eine Kantine, je ein Fecht- und Turnsaal, ein Musikzimmer mit einem großen Festsaal, während das Erdgeschoß neben Depoträumen ein geräumiges Schwimmbad umschloß. Stiegenhäuser und Gänge waren breit und durch viele Fenster ebenfalls hell gehalten. Im Garten gab es einen Teich, Tennisplätze und einen Pionierübungsplatz für Erdarbeiten sowie ein schönes Zöglingsspital. Es gab weiters ein Pferdestall-, Werkstätten- und Arrestgebäude, schließlich einen Unteroffiziers- und Mannschaftspavillon, in dem das Personal wohnte, dem Küche, Bedienung, Reinigung und Instandhaltung des ganzen Komplexes oblag.
All das machte auf mich einen mächtigen Eindruck, viel schöner als ich es erwartet hatte. Außerhalb dieses Komplexes, jenseits der Straße gelegen, gehörte noch ein großes Offizierswohnhaus zu dieser ansprechenden Anstalt.
Schulkommandant war bei meinem Eintritt und während der beiden ersten Jahre Obst.Zednik v.Zeldegg, eine imponierende Erscheinung. Die Zöglinge waren, entsprechend den vier Lehrjahrgängen, in vier Kompanien gegliedert. Was in den Zivilschulen der Klassenvorstand bedeutete, war hier ein Hauptmann-Kompaniekommandant mit einem zugeteilten Oberleutnant und einem Rechnungsunteroffizier. Diesem Führungskörper oblag auch die Bekleidung und Bewaffnung der Zöglinge sowie neben der Kontrolle des theoretischen und praktischen Unterrichtes die moralische Erziehung, körperliche Ertüchtigung, Anhaltung zu Zucht und Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Artigkeit. Als Gehilfen stellte der IV.Jahrgang für die ersten drei Monate eine Anzahl von sogenannten Rekruteninstruktoren, die uns außerhalb der lehrplanmäßigen Unterrichtsstunden von der Tagwache bis zur Retraite betreuten. Ihre Aufgabe war unsere Einkleidung in Uniform, unsere Belehrung und Kontrolle über Lüftung und Aufbau der Betten, Körperreinigung, Ordnung in den großen Nachtkästen und den Schubladen im Lehrsaal, die Sauberhaltung von Wäsche und Bekleidung, Unterricht im Benehmen in Uniform und die ganze praktische erste militärische Ausbildung beginnend mit der Körperhaltung über Körperwendungen, Gehen, Laufen, im Gliede antreten, Leistung der Ehrenbezeigung, Gelenkübungen, Übungen mit dem Gewehr, die Grundbegriffe des Dienstreglements bei Meldungen, Bitten, Beschwerden, Benehmen beim Rapport und bei der das Tagewerk abschließenden Befehlsausgabe.
Diese ersten Wochen, in denen mir mit Wohlwollen, aber oft auch mit Härte deutlich gemacht wurde, was für ein dürftiger Knabe ich war, der ohne diese Rekrutenausbildung nie hätte hoffen dürfen, ein richtiger Mann zu werden, waren garnicht leicht. Häufig hieß es die Zähne zusammenbeißen, um die Müdigkeit zu überwinden, den Willen und Eifer nicht zu verlieren.
Die Erziehung erstreckte sich sogar auf die Mahlzeiten. Wir wurden im Speisesaal je 20 an große Tische mit Hockern gesetzt. An den beiden Tischschmalseiten nahm je ein Rekruteninstruktor, uzw. nach je vierzehn Tagen wechselnd, Platz. Dieser leitete die Tischgespräche, sah auf gerade Haltung beim Sitzen, korrekten Gebrauch des Eßbestecks und der Servietten und bestimmte abwechselnd jenen, der als erster zulangen durfte. Das Als-erster-nehmen-dürfen hatte natürlich seine Vorteile. Sobald die Bedienungsordonnanzen die stets für 12 Personen berechneten Schüsseln zur Bedienung und Weitergabe überreichten, war es das unbestrittene Recht des jeweils ersten sich mit einem sogenannten Kontrawirbel aus der Suppenterrine das dickste der Einlage, nachher von den Schüsseln das beste Stück Fleisch und die schönste Mehlspeise zu nehmen.
Die Verpflegung war außerordentlich reich und kräftig. Zum Frühstück gab es zwei Stück Gebäck und Milchkaffee in so großen Zinnkrügen, daß sich jeder die Schale zweimal füllen konnte. Um 10h wurde im Lehrsaal zu Beginn der großen Pause durch eine Ordonnanz aus einem großen Korb eine Semmel gereicht. Das Mittagessen bestand aus einer Suppe mit viel Einlage, dann einem Stück gekochtem oder gebratenem Fleisch mit zwei reichlich bemessenen Beilagen und schließlich einer gekochten oder gebackenen Mehlspeise. Um 17h gab es wieder eine Semmel und um 19h30 das Nachtmahl, ein ordentlicher Gang wie Gulasch, Reisfleisch, Frankfurter Würste mit gerösteten Erdäpfeln, Leber, Beuschel mit Knödeln usw. Die Zubereitung war etwas derb, aber trotzdem sehr sorgfältig und wurde vom Ökonomieoffizier dauernd überwacht, während der Inspektionsoffizier die richtige Verteilung und das Benehmen bei Tisch prüfte und dann selbst an einem Tisch Platz nahm. Besondere Wünsche zum Speisezettel konnten während des Essens dem Tischvorsitzenden vorgetragen werden, der sie mit seiner zehnköpfigen Tischrunde gleich besprach und zustimmendenfalls dem Inspektionsoffizier meldete.
In der Kantine wurden unter strenger Qualitäts- und Preiskontrolle feilgeboten: Butter, Käse, Wurstwaren, süße Bäckereien, Semmeln, Brot, aber auch Bier, Sodawasser, Limonaden und Obst. Wer Geld hatte, konnte sich noch Zubußen kaufen. Ich selbst hatte mit der Normalversorgung überreich genug; denn daheim im Haushalte eines pensionierten Stabsoffiziers gab es durch Mutters Koch- und Backkunst wohl ab und zu besondere Leckerbissen, aber so regelmäßig reichlich und kräftig wie in der Schule war das Essen nicht. Außerdem bekam ich von meinem Vater monatlich nur die vorgeschriebenen 6 Kronen Zulage, die gerade für die Straßenbahn an den Sonntagen und die Bezahlung der Stehparterrekarten für die Hoftheater reichten. Ab und zu bekam ich vom Vater für das Jausenbrot 4-5 Knackwürste für die Woche mit. Sonst kostete meine Erziehung die Eltern keinen Heller, war also nicht nur für meine, sondern für tausende andere Eltern eine Wohltat, die umso mehr wog, als die Familien kinderreich waren und die Väter in Garnisonen Dienst tun mußten, in denen es keine deutschen Schulen gab. Die einzige Dankschuld war die Verpflichtung, für jedes Ausbildungsjahr in der Schule später im Heer ein Jahr über die gesetzlich geregelte Wehrpflicht hinaus länger zu dienen.
Die Heeresverwaltung sicherte sich durch diese großzügige militärische Jugenderziehung einen ausreichenden Offiziersnachwuchs für die Armee. Wer kennt die Völker, nennt die Namen, die gastlich da zusammenkamen? In jedem Korpsbereiche außer Bosnien und Herzegovina gab es so eine Infanteriekadettenschule mit einer Gesamtschülerzahl in einem Jahrgang von etwas über tausend. In meinem Jahrgang waren meist Wiener und Niederösterreicher, aber auch einige Ungarn, Tschechen, Polen und Serbokroaten.
Die Kenntnisse der deutschen Sprache waren anfangs verschieden, aber nach den vier Jahren des Beisammenseins konnten auch die Nichtdeutschen die deutsche Sprache in Wort und Schrift gut beherrschen. Dabei wurde auf die Nichtdeutschen von Lehrern und Kameraden viel Rücksicht genommen, was oft zu heiteren Mißbräuchen führte. Wußte so ein Bub, und besonders groß waren darin die Ungarn, bei der Prüfung nichts zu antworten, so lag das selbstredend an den „Sprachschwierigkeiten”, die es dem Armen nicht gestatteten, sein an sich enzyklopädisches Wissen entsprechend auszudrücken. Derlei Ausreden wurden übrigens später in der Kriegsschule auch von werdenden ungarischen Generalstäblern benützt. Immer führte das allerdings nicht zum Erfolg, besonders dann nicht, wenn der Lehrer den Prüfling aufforderte, die gestellte Frage zB. ungarisch zu beantworten. Im allgemeinen jedoch war die Toleranz gegenüber den Nichtdeutschen recht groß. Gewissenlos log, wer, wie es von Seite professioneller Politiker und da wieder vornehmlich von ungarischen geschah, behauptete, die Fremdsprachigen würden in den Militärschulen entnationalisiert! Daß politisch verhetzte Buben ohne besondere Absicht, einfach durch das Zusammenleben der chauvinistische Schleier von den Augen fiel und sie Toleranz im Interesse der großen Gemeinschaft lernten, war bei der k.u.k. Großzügigkeit selbstverständlich, aber keine Entnationalisierung.
Das Herkunftsmilieu, das sich in meinem Jahrgange zusammengefunden hatte, war eher einfach. Es war im wahrsten Sinne des Wortes das ganze Volk aller Nationalitäten, das seine Söhne in die Offiziersausbildung schickte: wir waren nur vier Offizierssöhne, darunter ein Generalssohn, der in der Militärunterrealschule so versagt hatte, daß er in die Kadettenschule überstellt wurde, wo er durch vier Jahre beharrlich der Letzte blieb, sonst aber ein netter Kerl war. Drei oder vier Buben waren Söhne von Mittelschulprofessoren, einer aus reichem Bürgerhause, die meisten jedoch Kinder von niederen Beamten, Unteroffizieren des Heeres und der Polizei, kleinen Geschäftsleuten und Gewerbetreibenden. Fast alle hatten in der ersten Klasse der Obermittelschule in irgendeinem Gegenstand versagt, wobei meist Griechisch, Latein und Mathematik die Fallstricke gewesen waren, oder kamen als Lernschwache aus Militärunterrealschulen.
Mit einem Vorzugszeugnis aus der bekannt strengen Radetzky-Realschule kommend, wurde ich von Lehrern und Kameraden mit einem mir während aller vier Ausbildungsjahre zum Vorteil gereichenden Staunen aufgenommen. Trotzdem ich an Alter weitaus der jüngste meines Jahrganges war, ist das Wort meines Onkels wahr geworden, nach dem der Einäugige unter Blinden König wäre, ohne je ein streberischer Ehrgeizling zu sein. Stets war ich allerdings bemüht, das Beste zu leisten, das ich eben konnte.
Derlei Einzelheiten berichte ich, weil ja bald alle verstorben sein werden, die diesen Werdegang erlebt hatten. So war die Tageseinteilung in der Schule in großen Zügen folgende:
Im Winter um 6h, im Sommer um halb 6h, blies ein Hornist, das Schulgebäude umwandernd, die Tagwache. So unausgeschlafen man sich auch öfter fühlte, hieß es, mit einem Ruck aus dem Bett herauszuspringen und das Bett zur Lüftung zu öffnen. Mit dem ersten Ton des Tagwache Signals begannen der Inspektionsoffizier und der Inspektionsunteroffizier (das war ein im Truppendienst erfahrener und bewährter Feldwebel) die Schlafräume zu durchschreiten und wehe dem, der sich noch im Bette finden ließ; der wurde unweigerlich zum Rapporte gemeldet und von seinem Kompaniekommandanten bestraft. Die Strafen bestanden aus ermahnenden Rügen, Verweisen, Streichung von Sonntagsausgängen, Theaterbesuchen, in Wiederholungsfällen aber auch aus Arreststrafen bei Wasser und Brot.
Die nächste Stunde gehörte der Körperreinigung, der Kleiderreinigung und der Ordnung um die Bettstatt. Wir waren streng gehalten, uns Sommer und Winter mit voll entblößtem Oberkörper unter dem leicht temperierten Fließwasserstrahl mit Seife und Bürste zu reinigen. Leider wurde die allgemeine tägliche Waschung der Füße nicht mit gleichem Nachdruck gefordert, obwohl es sich in der ersten Zeit vielfach als notwendig zeigte, daß Hals, Ohren und Fingernägel von den Rekruteninstruktoren auf ihre Sauberkeit geprüft wurden. An einem Spätnachmittag jeder Woche durften wir im warmen Schwimmbassin ein Reinigungsvollbad nehmen und hatten nachher kalt zu duschen.
Das Bettenmachen und die Herstellung der Ordnung in den großen Nachtkästen zwischen den Betten war anfangs meistens qualvoll, weil die Instruktoren mit eiserner Konsequenz nicht die leiseste Unordnung duldeten. Decken und Leintücher mußten im zusammengelegten Aufbau in der Breite haargenau mit dem Kopfkissen übereinstimmen; der Strohsack - Matratzen gab es nur im Spital - mußte richtig geformt und gebürstet sein; die Stöße der Leibwäsche im Nachtkasten hatten so aufgebaut zu sein, daß der Prüfende mit dem Lineal zwischen den Stößen glatt durchstreifen konnte; und Zahnbürsten, Kämme und Kopfbürsten mußten so tadellos rein gehalten werden wie Kleiderbürste und Schuhputzzeug. Die Schuhe wurden uns zwar durch Ordonnanzen vom gröbsten Staub oder Straßenkot gereinigt, gewichst und einmal in vierzehn Tagen mit Fett geschmiert, aber den letzten Glanz hatten wir selbst zu geben. An Wäsche und Uniformen mußten alle Knöpfe sitzen und blank geputzt sein. Zu all dem war wohl einmal in der Woche eine Putzstunde, namentlich zum Entfernen von Flecken auf der Uniform bestimmt, sonst aber mußte alles in der gewährten Morgenstunde gemacht sein. Da lernte man flink und geschickt werden. Was anfangs nicht und nicht gelingen wollte, gedieh durch Konsequenz im Laufe der Jahre zur Perfektion; wir lernten, uns abends vor dem Schlafengehen alles für den Morgen vorzurichten, und ich habe diesen wohltuenden Reinlichkeits- und Ordnungssinn mir bis auf den heutigen Tag bewahrt. Es kam wohl vor, daß der eine oder andere rauhbeinige Instruktor mehr Krach schlug, als nötig gewesen wäre, wie es ja auch unter den Zöglingen Schmierfinke und Faulpelze gab, die zum Beispiel versuchten einen abgerissenen Knopf mit einem Zündholz durch die Öse zu fixieren. Im allgemeinen wurden wir mehr durch zähe Konsequenz als durch Strenge erzogen. Ja, ich möchte sogar behaupten, daß größere Strenge in dem Sinn am Platz gewesen wäre, als Zöglinge, deren Charakter- und Gesinnungsmängel im Verein mit moralischen Defekten übel waren, rigoroser aus der Schule hätten entfernt werden müssen. Solche nur durch Zwang gebändigte Menschen versagten bald beim Eintritt ins Leben, und der Prozentsatz der später von der Armee durch ehrenrätliche Verfahren Ausgestoßenen oder gar durch Selbstmord Geendeten hätte herabgedrückt werden können, wenn die Auslese in der Schule gründlicher erfolgt wäre.
Nach dieser Abschweifung will ich zur Tagesordnung zurückkehren.
Um 7h, im Sommer um halb 7h, traten wir bei trockenem Wetter am Exerzierplatz, bei Regen und Schnee auf den Gängen vor den Schlafsälen zu den Gelenkübungen und solchen mit dem Gewehr an, durch die uns die letzte Schläfrigkeit aus den Augen getrieben und unsere jungen Körper geschmeidig gemacht und gekräftigt wurden.
Nach dieser halbstündigen Morgengymnastik stellten wir die Gewehre auf den Rechen vor den Schlafsälen ab und eilten in den Speisesaal, wo uns schon die großen Zinnkannen mit dem dampfenden Kaffee erwarteten.
Um 8h, im Sommer eben eine halbe Stunde früher, begann wie an allen Schulen üblich der planmäßige Unterricht jahrgangsweise in zwei Parallelklassen zu je 45 Schülern. Er wurde von 10 bis halb 11 durch eine längere Pause unterbrochen, die alle beim Rapport nicht benötigten Zöglinge zu freier Erholung im Garten zu verbringen hatten.
Der Rapport galt der Erledigung des Dienstbetriebs, wie Meldungen der Übernahme und Übergabe des Inspektionsdienstes der Zöglinge für ihre Klassen, Vorbringung von Bitten und Beschwerden, Untersuchung von Ungehörigkeiten sowie Belobungen und Bestrafungen. In besonderen Fällen wurde der Rapport vor der versammelten Kompanie gehalten; eine Vorführung zum Schulkommando-Rapport geschah nur selten in besonders gelagerten Fällen. Der Rapport galt nicht nur der Erledigung der Dienstgeschäfte, sondern war durch das Erscheinen vor dem streng prüfenden Auge des Kompaniekommandanten, in dessen Folge der eingeteilte Kompanieoffizier und der Rechnungsunteroffizier auch ihrerseits Beobachtungen machten, ein sehr wirksames Disziplinierungsmittel von meist nachhaltigem Einfluss.
Die Zeit von halb 11 bis halb 1 Uhr galt an fünf Wochentagen wieder dem theoretischen Unterricht und einmal in der Woche dem Exerzieren. Für dieses Exerzieren wurde nach Beendigung der Rekrutenausbildung die Schule nicht jahrgangsweise, sondern alle Jahrgänge planmäßig durcheinander gemischt, in 4 Kompanien gegliedert. Die Flügelchargen und Zugskommandantenplätze besetzten die Zöglinge des IV.Jahrganges. Die Kompanien wurden von den vier Hauptleuten-Kompaniekommandanten befehligt, von denen zu meiner Zeit nur der rangälteste beritten war. Das Zöglingsbataillon kommandierte der Schulkommandant persönlich. Zu Schulungs- und Prüfungszwecken wurden öfter auch Zöglinge des IV.Jahrgangs als Kompanie- und Bataillonskommandanten eingeteilt.
Im Sommerhalbjahr wurde dem Exerzieren und der praktischen Felddienstausbildung ein ganzer Vormittag pro Woche gewidmet. Für mich war dieses Exerzieren stets die Quelle ganz besonderer Freude, namentlich als ich, nach meiner Aufrückung in den IV.Jahrgang, das Kommando von Kompanie und des Bataillons so ruhig und sicher führte, daß ich wiederholt die Belobung unseres strengsten und gefürchtetsten Exerzierlehrers, Hptm.v.Móga, erringen konnte.
Vor dem Mittagstisch um dreiviertel 1h wurde rasch in die Waschräume zwischen den Schlafsälen geeilt, um Hände zu waschen und die Haare in Ordnung zu bringen.
Nach dem Mittagstisch war fast eine Stunde der freien Erholung im Garten gewidmet; bei Schlechtwetter wurde der breite Gang vor dem Speisesaal als Promenade benützt. Nur auf diesem Gang, in der Kantine und im Garten durfte geraucht werden. In der Mittagspause kamen wir, sonst beim Unterricht und in den Schlafsälen nur jahrgangsweise vereint, mit allen Jahrgängen in Fühlung. Dieser Verkehr war, von einzelnen Landsmannschaften abgesehen, nicht sehr rege; die Interessensgemeinschaft lag doch mehr innerhalb der Jahrgänge. Lediglich die Egerländer aller Jahrgänge sind mir durch ihren besonders engen Kontakt in Erinnerung.
Als der bestklassifizierte, dem Lebensalter nach jüngste, aber im Schuljargon „der Jahrgangsälteste” genannt, war ich sehr zu meinem Unbehagen, das sich eigentlich während der ganzen Schulzeit nicht verlor, der laut Tradition vom Kompaniekommandanten berufene Leithammel meiner Klasse und meines Jahrganges, der durch Beispiel und eigene Autorität guten Einfluß zu nehmen hatte und letzten Endes alles Schlechte und das wenige Gute, das sich unter Burschen im Alter von 14 bis 20 Jahren ereignete, verantworten mußte. So wurde ich schon in sehr jungen Jahren gewöhnt, Verantwortung zu tragen, und bin auch im späteren Leben früh und immer wieder auf verantwortliche Posten gestellt worden. Das schob unsichtbar, doch merklich eine gewisse Distanz zwischen meine Kameraden und mich. Nur mit zweien war ich enger verbunden, die beide im Leben ausgezeichnete Stellungen gewannen, aber leider wie so viele meiner frühen und späteren Kameraden nicht mehr unter den Lebenden weilen: Adametz, ein begeisterter Wagnerianer und guter Klavierspieler, Intendanturbeamter und schließlich Direktor einer Versicherung geworden, war der eine und Aichinger, ein feiner musischer Kopf, Sohn eines reichen Käse- und Salamihändlers, also mit allen Vorteilen eines Altwiener Bürgerhauses erzogen und schließlich gleich mir Generalstabsoffizier geworden, war der andere.
Von 2 bis halb 5 Uhr nachmittags war dann wieder stundenplangemäß theoretischer Unterricht, dem die „Befehlsausgabe” folgte. Diese wurde durch 20 Minuten Appell- und Salutierübungen in kleinen Gruppen eingeleitet, bei denen immer wieder die Kopf- und Körperhaltung, die Fußstellung, das Wenden des Körpers, Gehen, Laufen und schließlich das deutliche Sprechen bei Vorbringung von Meldungen oder Bitten überwacht und verbessert wurden. Dann trat die ganze Kompanie geschlossen an, und es wurde dem diensttuenden Offizier die Anzahl der Angetretenen gemeldet, worauf dieser nach einer kurzen Prüfung der Haltung und des Aussehens der Kompanie die Befehle für den folgenden Tag, sowie notwendige Verlautbarungen verlas. Nach dem Abtreten war eine Stunde Erholung, die vornehmlich im Freien verbracht wurde, aber auch von den Musik-Lernenden zu Gesangproben und Spielen der Instrumente benützt wurde. Der Besuch der Kantine war erlaubt.
Um 18h hatten alle wieder in den inzwischen gut durchlüfteten Lehrsälen zu sein. Die Zeit bis halb auf 20h hieß „Wiederholung” und war für das Studium und die Lösung der im Unterricht gestellten Aufgaben bestimmt. In den höheren Jahrgängen durften in der Zeit vor den Abschlußprüfungen die Lehrsäle zum Studium auch nach dem Abendessen, längstens bis 23h benützt werden. Diese Wiederholungszeit brachte mich oft in arge Verlegenheit; denn es gab neben den arbeitsamen Zöglingen richtige Lauser, die nicht nur selbst nichts lernten, sondern durch ihre laute Unterhaltung und den unter jungen Leuten üblichen Schabernack die Arbeitsamen störten, und hier ohne Angeberei einen leidlich befriedigenden Zustand zu schaffen war, neben dem eigenen Studium, die dem „Jahrgangsältesten” auferlegte Pflicht. Wenn der Inspektionsoffizier, vom Lärmen angezogen, die Klasse zur Ordnung rief, dann bekam stets ich die Rüge, ich wisse mich nicht durchzusetzen. Das war besonders im Anfang schwer für mich. Nach und nach gewann ich durch drei Umstände doch einen leidlichen Einfluß: erstens gewährte ich jedem meine Hilfe, der bei Aufgaben danach verlangte, zweitens bot ich den ärgsten Lausern in der Erholungszeit im Garten für handgreifliche Zurechtweisung Satisfaktion nach den von uns fleißig studierten Duellregeln und drittens verklagte ich keinen. Da siegte schließlich doch immer mehr das Anständigkeitsgefühl, mir keine Scherereien zu bereiten, besonders wenn bekannt unnachsichtig strenge Offiziere Inspektionsdienst hatten. Dennoch war mir der gute Schulerfolg sehr oft mehr Last als Freude, und ich hätte häufig viel lieber mitgetollt als den beispielgebenden Musterknaben gespielt. Eine Unterstützung fand ich im „Klassen-Inspektionsdienst”, in welchen täglich alle Zöglinge abwechselnd, paarweise für je 24 Stunden kommandiert wurden. Diese beiden Inspektionszöglinge waren für die Zucht und Ordnung ebenso verantwortlich wie ich als „Klassenältester”. Sie wurden gegebenenfalls noch schärfer gefaßt als ich.
Überdies übernahmen nach und nach die ernsteren Kameraden, die sich an meine Seite stellten, von den älteren Jahrgängen den „Kotzen”, eine Art Lynchjustiz. Kotzen war der Kommißausdruck für schwere Bettdecken. Hatte nun einer der Rowdies uns zu arge Verlegenheiten bereitet, besonders durch irgendeine Gemeinheit, Unkameradschaftlichkeit oder Angeberei, so bekam er abends beim Betreten des Schlafraumes „die Kotzen”, dh. es wurde ihm seine schwere Bettdecke über den Kopf geworfen, er niedergerissen und fest verprügelt, worauf die Strafenden sich rasch zerstreuten, so daß der Delinquent, als er sich mühselig aus der Decke gewickelt hatte, nie feststellen konnte, wer ihm die Prügel versetzt hatte. Dieses Vorgehen war toleriert; die Inspektionsoffiziere übersahen solche Vorfälle bewußt.
Da ich gerade vom Betreten des Schlafraumes erzähle, werde ich nun auch die Schilderung des normalen Tagesablaufes abschließen. Um 19h30 bekamen wir im Speisesaal das Abendessen. Bis 21h, der Stunde des Retraite-Signals, erholten wir uns wieder im Freien, auf dem Gang vor dem Speisesaal, in der Kantine bei Brettspielen oder im Musikzimmer, manchmal aber auch schon im Schlafsaal beim Ordnungmachen im Nachtkasten, Knöpfe annähen, Schuhriemen richten und anderen für den kommenden Morgen zu zeitraubenden Tätigkeiten. Mit dem letzten Ton des Retraite-Signals wurde das Licht bis auf eine Notbeleuchtung gelöscht und alle hatten im Bett zu sein. Es trat auch immer sehr rasch Ruhe ein, denn wir waren alle müde. Natürlich gab es ab und zu im Schlafsaal Ulk. Besonders wenn ein Zögling, der zum Theaterbesuch frei bekommen hatte, sich nicht genügend rücksichtsvoll auf den Schlaf der andern zu Bett legte, wurde ihm bei Gelegenheit ein sogenanntes „spanisches Bett” bereitet, was heißt, daß die Sicherungshaken der Bettstatt so gelockert wurden, daß das Bett beim Niederlegen zusammenrumpelte; oder er bekam einen nassen Schwamm unters Leintuch. Das besserte zwar nicht die Ruhe der Allgemeinheit in solcher Nacht, verfehlte aber für die Zukunft seine Wirkung auf den Rücksichtslosen nicht.
Der Sonntag galt zunächst dem Gottesdienst; die weitaus überwiegende Mehrzahl der Zöglinge war römisch-katholisch. Während die wenigen Protestanten, Griechisch-katholischen und Muslime in geschlossenen Gruppen in die Stadt in ihre Kirchen oder zum Militär-Iman fuhren, marschierte das Zöglingsbataillon unter Kommando des Inspektionsoffiziers in die der Anstalt nahegelegene Breitenseer Kirche, in welcher der zur Kadettenschule gehörige Militärsuperior Msgr.Heggelin die hl.Messe las. Als Ministranten fungierten Zöglinge. Die ganze Schule sang, von unserem Gesanglehrer einstudiert, die hl.Messe. Der Schulkommandant und alle Offiziere waren fast jeden Sonntag vollzählig mit uns in der Kirche. Nach dem Gottesdienst nahmen der Schulkommandant und die Offiziere die Defilierung des Zöglingsbataillons ab.
In die Anstalt zurückgekehrt, erhielten wir von 9h15 bis 10h15 Sonntagsschule, die hauptsächlich dem Anstandsunterricht galt. Das Benehmen außerhalb der Schule wurde abwechselnd vom Kompaniekommandanten und dem eingeteilten Kompanieoffizier, ab und zu auch vom Anstaltsarzt sehr gründlich durchgesprochen für alle nur denkbaren Möglichkeiten auf der Straße, im Restaurant, zu Hause, in der Straßen- oder Eisenbahn, im Theater, in Konzerten, auf Unterhaltungen und Bällen, bei offiziellen Besuchen, insbesondere auch das Verhalten gegenüber der Weiblichkeit sowie das Leisten der Ehrenbezeigung in den verschiedensten Fällen. Das Erkennen besonders hochgestellter Offiziere und der Mitglieder des allerhöchsten Kaiserhauses wurde anhand von Bildern ebenso angebahnt wie die solchen Persönlichkeiten gebührenden tit gelehrt. Schließlich wurden wir mit den Begriffen Notwehr, Ehrennotwehr, Duell und ihren Regeln bekannt gemacht.
Nach Beendigung der ersten Ausbildung etwa acht Wochen nach der Einrückung in die Schule hatte auch der I.Jahrgang gleich den übrigen freien Ausgang von 14 bis 21 Uhr. Wollte man die Anstalt schon früher verlassen, was „Ausspeisen” hieß, so war das besonders zu erbitten, gleich einer späteren Heimkehr wegen Theaterbesuchs, Familienfesten und anderem. Nur wenig Zöglinge blieben am Sonntag in der Schule. Die Wiener besuchten regelmäßig ihr Elternhaus, die Auswärtigen meist ihre in Wien lebenden Verwandten. Ganz einsame wurden in Gruppen zur Besichtigungen der Stadt und ihrer Sehenswürdigkeiten geführt.
Diese Sonntagsausgänge waren für mich eine besondere Freude. Ich suchte fast immer nur mein Elternhaus auf, in dem die liebe Mutter stets eine Überraschung an besonderen Leckerbissen bereit hatte und wo am Nachmittag das Erzählen über die Begebenheiten der Woche die Stunden verfliegen ließ. Meine arme Mutter war dabei mit dem Ausbessern von Wäschestücken, die ich zur Reinigung nachhause brachte, und besonders durch das Flicken der sehr stark beanspruchten weißen Rehlederhandschuhe sehr beschäftigt, aber auch stets bemüht, meine in der Schule den höheren Jahrgängen abgehorchte bramarbasierende Sprache auf ein vernünftiges Maß der Wohlerzogenheit zurückzudämmen, während der Vater leicht schmunzelnd zuhörte und wenig sprach. Mein Bruder war zu dieser Zeit schon Hörer der Technischen Hochschule an der Lehrkanzel für Bauingenieure, und der wechselseitige Austausch unseres Wissens und unserer Eindrücke war bei dem herzlichen brüderlichen Einvernehmen sehr anregend; dazu trug auch der Umstand bei, daß mein Bruder, nur durch sein steifes Bein an der militärischen Laufbahn verhindert, allem Militärischen regstes Interesse entgegenbrachte.
In dieser Zeit wurde die neu erbaute Wiener Stadtbahn dem Verkehr übergeben und galt für mich trotz des ohrenzerreissenden Quietschens der Dampflokomotiven beim Bremsen als wunderbares Verkehrsmittel, da ich gegenüber der Straßenbahn eine halbe Stunde gewann. Zur Weihnachts- und Osterzeit verlängerten sich diese mir so lieben Besuche daheim auf mehrere behagliche Tage ohne Reveille und Retraitesignal, die ich beide leicht entbehren konnte.
Der Lehrplan für den theoretischen Unterricht lehnte sich mit Ausnahme der Darstellenden Geometrie und der Englischen Sprache fast ganz jenem der zivilen Oberrealschulen an; diese beiden Gegenstände wurden leider garnicht gelehrt, wofür aber eine erkleckliche Menge rein militärischer Fächer hinzukam.
Wenn ich zurückdenkend mir vergegenwärtige, daß unsere Lehrer in der Hauptsache ohne Ausbildung für den Lehrberuf uns nur aus ihrem selbsterarbeiteten Wissen und den Erfahrungen des Truppendienstes heraus unterrichteten, so kann ich den erzielten Resultaten meine Hochachtung nicht versagen. Daß die Kadettenschulen, angesichts der wissenschaftlich-technischen Entwicklung auf allen Gebieten und in der Erkenntnis, daß die Armee ein einheitlich akademisch erzogenes Offizierskorps brauche, vom Kriegsministerium in der Folge ganz zu Oberrealschulen mit Matura als Vorbereitung für die militärisch-akademische Weiterschulung in den Militärakademien umgebaut wurden, war richtig und gut. Diese Tatsache kann aber das Verdienst des Lehrkörpers in den Schulen des alten Systems nicht schmälern. Aus meinem Kadettenschuljahrgang sind außer einer großen Zahl tüchtiger Truppenoffiziere immerhin 4 Generalstabsoffiziere, 4 Militärintendanten, 3 Geodäten am Militärgeographischen Institut und 1 freischaffender Maler und Kunstkritiker hervorgegangen.
Der Unterrichtsvorgang war im Gegensatz zur Zivilrealschule nicht so gehalten, daß ihm nur die Begabten folgen konnten. Die Lehrer waren vielmehr bemüht, alle ihre Zöglinge auf ein Mittelniveau zu bringen, was den Begabten eine noch sicherere Beherrschung des Stoffes bei Ausfeilung aller Unebenheiten ermöglichte. Das Lernen fiel mir verhältnismäßig leicht; ich erhielt nach dem ersten Semester die doppelte und nach Abschluß des ersten Jahres die dreifache Auszeichnung, die ich durch alle Jahre, als erster meines Jahrganges rangiert, beibehielt. An diese erste Vorzugsauszeichnung knüpft sich eine kleine Episode: ich legte auf äußere Auszeichnungen schon in der Schule keinen Wert und unterließ nach der Verlautbarung des Studienerfolges die sofortige Anbringung der vier Messingknöpfe auf den Litzen der doppelten Auszeichnung. Der Zufall wollte es, daß ich im Stiegenhause dem Schulkommandanten begegnete, der diesen Mangel sofort wahrnahm, mich zum Schulkommandorapporte befahl und dort mit einem Verweis wegen mangelnden Ehrgeizes bestrafte. Das war die einzige Strafe, die ich in meinem Leben erhalten habe.
Unter den Lehrern hatten wir für Schönschreiben und Freihandzeichnen in Oblt.Brüch eine hervorragende Persönlichkeit als Offizier und Künstler. Als Offizier forderte er Disziplin, Zucht und Ordnung bis in die kleinste Kleinigkeit mit unnachsichtlicher Strenge, als Zeichenlehrer war er mit Eifer bemüht, jeden, auch den ganz Unbegabten das Schauen zu lehren, das Schöne zu erfassen und wenigstens mit ein paar, wenn auch unbeholfenen Strichen festzuhalten. Er führte uns frühzeitig in den Garten und ließ uns nach der Natur zeichnen. Selbst war er ein grandioser Porträtist, der während des I.Weltkrieges durch seine an Charakteristik unübertroffenen Porträtzeichnungen der Heerführer der Verbündeten weit bekannt wurde.
Von überragendem Einfluss auf mich war der von allen Jahrgängen ob seiner Strenge gefürchtete Lehrer des Waffen- und Schießwesen sowie Exerzierreglement, Hptm.Viktor v.Móga, eine schöne, martialische Erscheinung, deren Haltung zu Fuß und zu Pferd, Säbelführung bei Kommandos und Ehrenbezeigungen, metallklare Kommandosprache und Präzision in jeglicher Ausdrucksweise uns allen zum Inbegriff des erstrebenswerten Beispiels wurde. Er weckte in mir durch seine vornehme Ritterlichkeit frühzeitig Verständnis und Sympathie für die ungarische Wesensart. Ein kleines Wort der Anerkennung aus seinem Munde galt mir mehr als jedes andere Lob. Durch ihn lernte ich die militärischen Vorschriften nach Wort und Geist erfassen, herauszufinden, was wortwörtlich ohne die geringste Abweichung zu gelten hatte und was als Richtlinie den jeweils veränderlichen Umständen durch eigene Geistesarbeit anzupassen war.
Als Heerwesen- und Taktiklehrer hatte ich den im I.Weltkriege leider sehr früh gefallenen, aus der Pioniertruppe hervorgegangenen GenStabsHptm.v.Bisenius, eine vornehme, großzügige Persönlichkeit, die wir erst im dritten und vierten Schuljahr als Lehrer erhielten; er behandelte uns bereits wie junge Männer, vielleicht weil wir schon über die ersten militärischen Dummheiten hinaus waren. Wie ich das später auch an der Kriegsschule erlebte, lag das Wesen seines Unterrichts nicht im systematischen Stoffaufbau vom Kleinen zum Großen, sondern in der Schaffung von Lagen, die man mit seinem Hausverstande irgendwie auflösen mußte. Diese Bemühungen und die dabei erzielten Ergebnisse arbeitete er in dauernder Zwiesprache mit uns durch, und wir lernten dieserart scheinbar systemlos, aber mit dauernder Spannung das Wesentliche erfassen, was sich in der Taktik nur zum geringen Teil als absolut richtig oder falsch beurteilen läßt. Erwägungen über die Erfolgswahrscheinlichkeit waren maßgeblicher, und zu denen traten noch eine Reihe unwägbarer Voraussetzungen geistiger, seelischer, physischer Kräfte, der Geistesgegenwart und des Temperaments der beiden den Kampf vorbereitenden oder in ihm stehenden Teile. Um von Fall zu Fall das Gewollte auch in kurzer klarer, zweifelsfreier Sprache ausdrücken zu können, was als „Befehlstechnik” bezeichnet wird, waren mir mein Geometrieprofessor in der Radetzkyrealschule und Hptm.v.Móga als Exerzierlehrer wunderbare Vorbereiter gewesen. Der Taktik-Unterricht erfolgte häufig im Gelände, das in schöner, reicher Bewegtheit, damals noch unverbaut, unmittelbar nahe an die Schule heranreichte.
Hptm.v.Bisenius war es auch gewesen, der meine ersten Schritte in die gute und wohlhabende Gesellschaft Wiens lenkte, in welcher oft flotte Tänzer mit gutem Benehmen gebraucht wurden. Das erste Haus, in das mich Bisenius noch als Zögling einführte, war das des Kommerzialrats Franz Joseph Stiebitz, in dem sich alles schön, reich und vornehm abspielte, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Viel lernten wir in Geographie, Geländekunde und Geländedarstellung. Unsere Vorbereitung durch Hptm.Steindle auf die nach Abschluß des III.Jahrganges bei Wilhelmsburg an der Traisen stattgefundene Geländeaufnahme war so gründlich, daß der Großteil sofort mit der Arbeit beginnen konnte. Diese „Mappierung” der Militärzöglinge vertiefte das Verständnis für das Lesen der Geländekarten. Ich konnte später mit Freude feststellen, daß wir an der Kadettenschule in manchem weiter waren als mein Bruder, der gerade in dieser Zeit niedere Geodäsie an der Technischen Hochschule belegt hatte.
Das größte Jahresereignis für uns war die Frühjahrsparade auf der damals noch ganz unverbauten, weiträumigen Schmelz, die von Seiner Majestät dem Kaiser und Apostolischen König Franz Josef I. persönlich abgenommen wurde. Die Übungen zu diesem Zwecke und die Vorparade vor dem Korpskommandanten FZM Graf Üxküll-Gyllenband nahmen viele vorangehende Tage in Anspruch. Daß die Überprüfung der Uniformen, das Putzen des Lederzeugs und der Schuhe uns fieberhaft beschäftigte, wird jeder begreifen, der die militärische Betriebsamkeit vor Paraden kennt. Als dann die Ausrückung erfolgte, war es für uns immer ein leichter Schauer der Erregung, wenn die Kirchturmuhr die neunte Stunde schlug und beim letzten Schlag auch schon das Avertissementsignal für seine Majestät erscholl, dessen auf den Bruchteil von Minuten abgestimmte Pünktlichkeit mich in Gedanken meinen Prager Religionsprofessor grüßen ließ. Die Brust wollte sich fast zum Zerspringen wölben, als des greisen Kaisers ergreifende Majestät auf prachtvollem Pferde knapp an unserem in eine lange Front eingepaßten Bataillon vorbeikam und die Zufriedenheit über die Präzision unserer Aufstellung durch leichtes Kopfnicken andeutete. Die Garnison war groß und die Besichtigung nahm reichlich Zeit in Anspruch, die unsere durch das lange Stehen steif gewordenen Beine ermüdete. Als dann durch den Abmarsch zur Defilierung Bewegung in uns kam, wurde sie wie eine Erlösung empfunden, die die Glieder so geschmeidig machte, daß jeder bei der Defilierung vor dem Monarchen schwungvoll seine ganze Kraft einsetzte, um dem Kaiser zu gefallen. Fast ängstlich spähten unsere Augen dabei auf ein erhofftes Kopfnicken. Fehlte das einmal, so war der Heimmarsch eine bange Zeitspanne. Wenn das Bataillon auf dem Anstaltsexerzierhof wieder aufmarschiert war, erwarteten wir in größter Spannung, was der Schulkommandant nun sagte. In allen vier Jahren war es immer Gutes: der Kaiser war zufrieden gewesen. Zur Belohnung wurde uns nachmittags freier Ausgang gewährt, und ich kann das Glücksgefühl heute nicht mehr richtig schildern, das damals die junge Brust über das Ereignis errungener kaiserlicher Zufriedenheit erfüllte.
Aber nicht nur wir, ganz Wien war nach so einer Frühjahrsparade wie elektrisiert. Überall wurde das von ungezählt vielen Zuschauern beobachtete Vorbeikommen der Truppen streng kritisiert. Die Wiener verstanden da keinen Spaß, sie verlangten von den Soldaten das Äußerste. Für Angehörige von Truppen mit denen die Wiener zufrieden waren, fanden sich überall Gönner für Freibier und Gulasch und Rauchwaren. Diese harmlose Einigkeit und stolze Freude über das Gute, gleichgültig ob es heimische Truppen oder Ungarn, Böhmen, Polen, Bosnjaken oder andere waren, zauberte Grillparzers Spruch an Radetzky in die blutwarme Gegenwart: „In deinem Lager ist Österreich!”
Eine einmalige Parade war die Enthüllung des dem Kaiser von der Armee gewidmeten Reiterstandbildes Erzherzogs Albrecht, zu der nur die Militärschulen ausgerückt waren. Noch heute blicke ich mir im Vorbeigehen gern das Denkmal von der Opernecke am Mozartplatz an, wo unser Bataillon damals gestanden war und die Generaldecharge abgegeben hatte.
Gern gingen wir am Ende jedes Schuljahres für etwa drei bis vier Wochen ins Militärlager Bruck an der Leitha, wo es keinen theoretischen Unterricht, sondern nur praktische Gefechtsausbildung und Scharfschießen aus Gewehr und Pistolen gab. Auf diesem abwechslungsreichen Übungsplatz brannte die Sonne meist mächtig und machte alle Übungen zu ansehnlichen Leistungen, die uns nach oft sehr hart empfundenen Stunden viel Kraft und Selbstvertrauen gaben. Schwimmen konnten wir in der Leitha. Nach meinem heutigen Wissen ist es sehr zu bedauern, daß man uns wohl Fechten, Turnen und Tanzen lehrte aber die Ausbildung in der Waffenlosen Verteidigung nicht betrieb. Was für mutigere und festere Kerle wären aus uns geworden, wenn wir systematisch Jiu Jitsu und Boxen gelernt hätten! Auch wurde uns wohl Gelegenheit zum Tennis, nicht aber zu Hand- und Fußball gegeben, und der Skilauf war militärisch noch nicht entdeckt worden. Diese Mängel habe ich zeitlebens mit einer gewissen Beschämung gegenüber dies könnenden Zivilisten empfunden. Ich habe darum später als Brigadier in St.Pölten meine Offiziere und Mannschaft durch Zuwendung besonderer Mittel in Jiu Jitsu und Boxen gründlich schulen lassen. Allerdings glaube ich dabei auf weiter Flur der einzige Kommandant mit solchen Interessen gewesen zu sein.
Das Brucker Lager war außerdem durch das Zusammenleben mit verschiedenen Truppenkörpern und den in der Armeeschießschule aus der ganzen Monarchie vereinigten Offizieren und Unteroffizieren interessant. Hart an der Grenze gelegen, hörte ich in Királyhida auch erstmalig waschechte Zigeunermusik und sah ab und zu auch gut gelaunte Offiziere Csárdas tanzen, den wir in Breitensee nicht lernten.
Mit dem Lager war das Schuljahr beendet, und wir bekamen bis Mitte September lange Ferien.
Während der ersten Ferien beschenkte mich meine gute Mutter - so hart ihr auch das Zusammenkratzen des Geldes gewesen sein muß - mit einem Fahrrad, mit dem ich bald zu meinem in Neutra als Brigadier in Garnison stehenden Onkel auf Besuch fuhr.
In den nächsten Ferien war meine Mutter wegen heftiger Ischiasschmerzen mit meinem Bruder zur Kur in Pistyan, während mein Vater und ich den schon im Ruhestande in Erlau lebenden und in bescheidenem Umfang Weinbau treibenden Husarenonkel Ede besuchten. Der ältere seiner Söhne, zu dem wir auch fuhren, war in sehr jungen Jahren Pfarrer in Ónod in Oberungarn geworden.
Die Jahre waren in dieser keine träge Minute kennenden Zeitausnützung sehr rasch vergangen, und ich sah mich bald nahe dem Ende des IV.Jahrgangs. Damals galt als Vorrecht der besten drei bis vier Zöglinge des Jahrgangs, sich den Truppenkörper, zu dem man ausgemustert werden wollte, zu wählen. Nicht Wiens wegen, aber um mit meinen schon in die Jahre gekommenen Eltern noch eine Weile vereint sein zu können, wählte ich das im Frühjahr von Pressburg nach Wien in Garnison verlegte slovakische Inf.Rgt.Nr.72 mit hellblauem Kragen- und Ärmelaufschlag und goldenen Bärentatzen am Ärmel.
In diesem letzten Schuljahr folgte der Lagerperiode in Bruck eine hübsche kleine taktische Übungsreise ins Triesting-, Pisting- und Schwarzatal am Ostfuß der Alpen.
Meine Uniformierung fürs Regiment war zwar die einzige größere Ausgabe, die meine Eltern für meine militärische Laufbahn zu leisten hatten, trotzdem jedoch eine gewichtige Belastung.
Am 18.August waren wir zur großen Parade auf der Schmelz noch in der Zöglingsuniform ausgerückt. Nach der Heimkehr gaben wir ohne große Formalitäten die Anstaltsuniformen ab und zogen zum erstenmal unsere jeweiligen Regimentsuniformen als Cadet-Offiziersstellvertreter an. Dann gingen wir in den Hof hinunter, wo uns Eltern, Geschwister und übrige Angehörige mit dem ganzen Lehrkörper erwarteten. Der von der Mappierung heimgekehrte III.Jahrgang formierte eine Ehrenkompanie, Msgr.Heggelin zelebrierte eine Feldmesse mit Predigt. Einer kurzen Ansprache unseres Schulkommandanten, Obstlt.Bayer, folgte die Eidesleistung auf die vom Inf.Rgt.Nr.8 beigestellte Fahne, darauf ein Hoch auf den allerhöchsten Kriegsherrn, zu dem wir die Säbeln entblößten. Damit war der Eintritt ins Leben vollzogen.
Ich glaube behaupten zu können, daß mich nicht jubelnde Freude, sondern ernste Besinnlichkeit erfüllte. Sie löste sich erst etwas, als ich während des uns noch von der Schule servierten Festessens gewahr wurde, wie sehr mich meine Lehrer und der für uns immer unerreichbar fern erschienene Schulkommandant in ihr Herz geschlossen hatten. Nachdem ich den Dank meines Jahrgangs an die Schule und ihre Leitung ausgesprochen hatte, schlossen mich zuerst Obstlt.Bayer und der strenge Exerzierlehrer Hptm.v.Móga in die Arme und forderten von mir das Versprechen, daß ich weiterarbeiten und mich zur Ausbildung für den Generalstab in die Kriegsschule melden müsse. Diese kameradschaftliche Einschätzung, auch von meinem Kompaniekommandanten Hptm.Weber und dem Taktiklehrer Hptm.v.Bisenius, übertraf weitaus meine Erwartungen. Und als meine Jahrgangskameraden gleichfalls zustimmten, da war ich einen Augenblick wirklich glücklich.
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG