FML JANSA
«Aus meinem Leben»
I
KINDHEIT
Stanislau
1884-1888
Ich wurde am 16.Juli 1884 in Stanislau geboren, wo mein Vater als Rittmeister und Abteilungskommandant der Landesgendarmerie in Garnison war. Mein väterlicher Großvater, Wagnermeister im k.u.k. Fuhrwesenkorps, wurde in St.Marein im Mürztal begraben. Mein Eintritt ins Leben stand mit einem großen, dauernden Familienunglück im Zusammenhang: Während der Niederkunft meiner Mutter stürzte der um fünf Jahre ältere Bruder im Garten so unglücklich von einer Schaukel, daß seine rechte Kniescheibe gebrochen wurde. Der zugezogene Regimentsarzt legte das Bein in Gips, in dem der Heilungsvorgang durch fehlerhaftes Zusammenwachsen sich so unglücklich vollzog, daß mein Bruder für sein ganzes Leben ein steifes, in der Entwicklung zurückgebliebenes Bein hatte, das besonders für ihn und meine arme Mutter, aber auch für meinen Vater und später für mich zu einer Quelle dauernder Betrübnis wurde. Trotzdem war die Liebe rührend, mit der mein Bruder während seines ganzen Lebens an mir hing; meine geraden Glieder waren sozusagen sein Stolz geworden.
Von den ersten vier Lebensjahren habe ich in Erinnerung behalten, daß wir eine recht große Wohnung im ersten Stock eines Hauses bewohnten. Die breite Holztreppe, die ohne Winkelung gerade abwärts führte, war ein häufiger Spielplatz von mir. Ein großes, recht dunkles Zimmer hatte seine Fenster in dieses Treppenhaus und wurde als Besuchsempfangsraum benützt. Vom Küchenfenster konnte man über den Hof in einen Garten sehen. In dem Hof schlachtete ein älterer Kaftanjude Gänse, die er mit durchschnittenem Halse zum Ausbluten auf die Gartenzaunhecke warf. Auch Schweine wurden da wiederholt geschlachtet; deren angstvolles Quieken ließ mich trotz Mutters Abmahnung immer ans Fenster eilen, an dem mich weniger Schaulust, als mehr Empörung über die mir grausam scheinende blutige Tätigkeit erfüllte. Das Fenster, aus dem ich blickte, gehörte zur Küche, in der sich meine vielbeschäftigte Mutter oft aufhielt. Meine Mutter war aber auch eine ausgezeichnete Pianistin, und ihr Spiel bändigte am besten die Ausgelassenheit der beiden Buben.
Dann ist mir von Stanislau noch in Erinnerung, daß mein Vater und ich die Mutter auf den Bahnhof begleiteten, von dem sie in einem engen Abteil mit meinem Bruder zu Professor Billroth nach Wien fuhr. Vor Einfahrt des Zuges wurde damals ein Gitterstreifen vor dem Bahnsteig zur Sicherung des Publikums herabgelassen. Auch eine große Glocke ist mir in Erinnerung, deren mit einem Lederriemen versehenen Klöppel ein Eisenbahnbediensteter in Abständen dreimal in Anschlag brachte: das erste und zweite Läuten, von Stationsausrufen begleitet, galt der Vorbereitung zum Einsteigen, das dritte der Abfahrt des Zuges.
Als ich im I.Weltkrieg durch Stanislau kam und meine Kindheitserinnerungen am Ort zu rekonstruieren versuchte, war dies ein ganz vergebliches Bemühen.
Nach vier ruhigen Jahren wurde mein Vater nach Wien versetzt.
Wien
1888-1892
In Wien blieb mein Vater vier Jahre in Garnison. Wir wohnten in dem bis heute unverändert gebliebenen Gebäude des Landesgendarmeriekommandos in der Landstraßer Hauptstraße Nr.68., ich glaube im zweiten Stock. Sehr gespannt verfolgte ich täglich vom Fenster das mir als Wettrennen erschienene Jagen der schön bespannten Fleischerwagen vom Schlachthaus in St.Marx an unseren Fenstern vorbei zur Innenstadt.
Aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben sind mir auch je ein Besuch der Brüder meiner lieben Mutter. Einmal kam der ältere, der als Husarenoberstleutnant in Debrecen diente, im Rahmen einer Regimentsdeputation anläßlich der Beerdigung eines hohen Generals nach Wien. Er war bei uns abgestiegen und seine glänzende Husarenuniform machte auf mich einen sehr großen Eindruck; so groß, daß mein Onkel sich bestimmt fühlte, mir jeden Gedanken, selbst einmal bei der Kavallerie zu dienen, mit dem Hinweise darauf aus dem Kopf zu nehmen, daß bei der Kavallerie nur Söhne reicher Eltern dienen sollten. Er scheint da trübe eigene Erfahrungen gemacht zu haben.
Mein mütterlicher Großvater stammte aus Hessen, war Kriegskommissar (Intendanturbeamter) beim Dragoner-Rgt.Nr.2, trat nach 1866 ganz in österreichische Dienste und wies seine beiden Söhne - wie mir das die Onkeln übereinstimmend erzählt hatten - wiederholt an, ihr Glück im Osten zu suchen. Das veranlaßte beide Brüder meiner Mutter, ungarische Frauen zu heiraten und die ungarische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Der ältere Bruder, der Husar, den meine Mutter wegen seiner Herzensgüte und Familienanhänglichkeit offenbar mehr liebte, hatte eine Ferenczy aus sehr wohlhabender Gutsbesitzerfamilie geehelicht, die streng katholisch war. Die Ehe war aber - wie ich es aus Mutters Erzählungen entnommen hatte - nicht sehr glücklich, da die Frau mit einem das Gehör immer ungünstiger beeinflußenden Ohrenleiden beschwert war, was meinen Onkel zur Konsultation aller berühmten Fachärzte veranlaßte, ohne daß die Familie seiner Frau finanziell irgendetwas dazu beigesteuert hätte. Diese Ehe brachte mir eine sehr schöne Cousine, Therese, die älter war als ich und meine Kindheitsliebe ganz erfüllte, zwei Vettern, von denen einer, Béla, röm.kath. Priester im Erlauer Domkapitel wurde, während der andere, Guido, die richterliche Laufbahn einschlug und als hoher Richter beim ungarischen Verfassungsgerichtshof in Budapest endete.
Den Onkel Guido lernte ich in dieser Zeit durch einen Familienbesuch kennen, den er, damals Regimentskommandant des ungarischen Inf.Rgt.Nr.33 in Arad, mit Frau und den drei Töchtern der Stadt Wien machte, um sie seinen Töchtern zu zeigen. Sie waren damals im Hotel Wandel hinter der Peterskirche abgestiegen. Während sie meine Eltern nur zwei oder dreimal besuchten, wurde ich vom Onkel, der, selbst nur mit Töchtern gesegnet, mich kleinen Buben offenbar liebgewann, zu allen Besichtigungen mitgenommen. Seine jüngste Tochter Ada, um ein Jahr älter als ich - sie mochte damals 8 und ich 7 Jahre gezählt haben - okkupierte mich als ihren Ritter und behielt mir in späteren Jahren diese freundliche Gesinnung über ihre Ehe mit dem ungarischen Liederkomponisten Dóczy hinaus bis an ihr Lebensende im Jahre 1948.
Lebhaft aus dieser Zeit ist mir mein Staunen in Erinnerung, daß beide Onkeln grau als Kennfarbe ihrer Regimenter hatten: der Husar am Czáko, der Infanterist am Rockkragen und Ärmelaufschlag.
Onkel Guido, der jüngere Bruder meiner Mutter (gemeint ist dabei jünger als der Husar, denn meine Mutter war das jüngste Kind meiner Großeltern gewesen), hatte sehr wohlhabend geheiratet und lebte offenkundig unbeschwert von materiellen Sorgen. Seine Frau Marie, gleichnamig mit der anderen Tante, der Ede-Marie, wie die Husarentante genannt wurde, war die Tochter des Vizegespans, di. des höchsten politischen Beamten des oberungarischen Zipser Komitates, eines lutherischen Herrn von Breuer. Die religiösen Bindungen in der Familie Meyer - das war der Name meiner aus dem Bistum Fulda stammenden mütterlichen Familie - müssen sehr stark gewesen sein, denn ich erinnere mich gut an die Erzählungen meiner Mutter über die schweren Kämpfe Onkel Guidos mit seinen Eltern anläßlich seines Übertrittes zum Protestantismus. Denn der Herr v.Breuer, auch Kirchenoberhaupt der durchwegs protestantischen deutschen Bevölkerung in der Zips, soll geäußert haben, daß er seiner Stellung und seines Ansehens wegen seine Tochter keinem Katholiken geben könne. Da sich die jungen Leute sehr liebten, wurde Onkel Guido halt Lutheraner. Er war zur Zeit seiner Eheschließung Generalstabshauptmann, mit dem Verdienstkreuz für Tapferkeit im Gefechte bei Schweinsschädel 1866 ausgezeichnet, und ist - wie ich später erzählen werde - ein sehr frommer, in seinen alten Tagen täglich in der Bibel lesender Christ gewesen. Das Verhältnis Guidos und seiner Frau zu meiner Mutter war kühl. Die Tante Guido-Marie hatte etwas deutsch-forsches in ihrem Wesen und muß - soweit ich mich entsinnen kann - einmal brieflich über meinen armen, körperbehinderten Bruder eine die liebende Mutter schwer verletzende Äußerung getan haben.
Aber nicht nur zwischen meiner Mutter und der Tante Guido-Marie bestand ein kühles Verhältnis, sondern sehr gespannt war es auch zwischen den beiden Schwägerinnen Ede-Marie und Guido-Marie. Das Mißgeschick wollte es, daß einmal vor der geschilderten Zeit beide Brüder zugleich in Debrecen in Garnison standen. Die behaglich und sorglos lebende Familie Guidos war der Schwägerin, deren Haus, von ihren Eltern finanziell im Stiche gelassen, nur mühsam den Anforderungen gerecht werden konnte, ein Dorn im Auge. In wenig taktvoller Weise wurde das lutherische Bekenntnis der Familie Onkel Guidos benutzt, um die Kinder Edes gegen ihre drei Cousinen aufzureizen, die natürlich mit gleicher Münze zurückzahlten.
Es wird hierher vielleicht auch ganz gut passen, wenn ich über die religiöse Haltung in meinem Elternhaus erzähle. Mein mütterlicher Großvater Eduard, der Kriegskommissar, war in seinem letzten Garnisonsort, Lemberg, im Ruhestande verblieben. Er scheint, nach der Haltung seiner beiden Söhne und auch meiner guten Mutter zu schließen, ein guter Katholik gewesen zu sein. Das Gleiche muß ich wohl auch von meiner Großmutter, einer Mediziner-Tochter aus Pardubitz annehmen, die zur Zeit meiner Geburt leider nicht mehr am Leben weilte. Lemberg, wo meine Mutter aufgewachsen war und auch ihre Ehe mit meinem damals dort in Garnison gewesenen Vater geschlossen hatte, war eine religiös geteilte Stadt: die Polen römisch-katholisch, die Ruthenen griechisch-katholisch und von den zahlreichen Deutschen so viele protestantisch, daß sie die einzige deutsche Schule aus eigenen Mitteln erhalten konnten; dazu natürlich viele Juden, teils liberal, teils orthodox. Es muß also, diesen Verhältnissen, dem liberalen Zeitgeist und der gesamtösterreichischen Haltung in der Armee entsprechend, trotz eigener Frömmigkeit, eine verträgliche religiöse Duldung geherrscht haben. Mein Vater hingegen war nur nominell Katholik, und ich kann mich mehrfacher sehr freier Äußerungen in religiösen Dingen entsinnen. So wurden mein Bruder und ich katholisch in Haus und Schule erzogen, ohne daß aber das religiöse Erziehungsmoment eine besondere Unterstreichung erfahren hätte. Mit dem Kirchenbesuch an Sonntagen, den vierteljährlich vorgeschriebenen Schulbeichten und dem Kommunionempfang war das Programm im Wesentlichen erschöpft. Da in unserem Hause die finanziellen Möglichkeiten sehr beschränkt waren, weshalb wir Buben unter dem vom Großvater hergeleiteten Ausspruche „Der Fresser wird nicht geboren, sondern erzogen!” in der Verpflegung in spartanischer Einfachheit gehalten wurden, konzentrierte sich der Sinn an den Oster- und Weihnachtsfeiertagen, an denen es reichlich Gutes zu essen gab, mehr auf das Essen als auf den religiösen Gehalt der Feier. Besonders das Osterfest sah bei uns - dem polnischen Osterbrauch abgeschaut - durch Tage einen mit allen denkbar guten Dingen gedeckten Tisch, der auch den Gästen zur Verfügung stand. Gleichfalls polnischer Sitte abgeschaut, war es in meinem Elternhause üblich, daß Vater und Söhne zur Osterzeit alle Bekannten besuchen gingen, während die Frau daheim die Tafel für die Gegenbesuche betreute. Daß wir am Karfreitag und -samstag bis zur Auferstehung fasteten, war ebenso selbstverständlich wie der Besuch der hl.Gräber in vielen Kirchen und die Teilnahme an einer Auferstehungsprozession. An den Besuch einer Christmette zu Weihnachten kann ich mich hingegen nicht erinnern. Wir nahmen an der frühjährlichen Fronleichnamsprozession teil. Das war eine große Sache für uns Buben, weniger als religiöses Fest, sondern weil die Schaulust ausgiebige Befriedigung fand, von der Ausschmückung der Straßen bis zu dem überwältigenden Gepränge von Kirche und Bevölkerung, weißgekleideten Mädchen, Paradeuniformen aller Art, festlichen Zivilkleidern und marschierenden Musiken.
Ich besuchte in dieser Zeit zuerst einen im Sünnhof gelegenen Kindergarten, sowie die erste und zweite Klasse der Volksschule in der Pfarrhofgasse.
Mein Bruder hatte - verursacht durch die schwachen polnischen Unterschulen in Stanislau und wahrscheinlich auch infolge der häufigen Unterbrechung des Unterrichtes wegen der immer wieder versuchten Besserung seines Fußleidens - die Aufnahmsprüfung in das Gymnasium nicht bestanden und besuchte eine Vorbereitungsschule Rainer in der Rasumofsky Gasse und dort später auch die unteren Klassen der Realschule. Lebhaft in Erinnerung ist mir ein neuer Unfall meines von einer Pechsträhne verfolgten Bruders. Er sollte zur Besserung seines Fußleidens mit der Mutter in das weltberühmte Schlammheilbad Pistyan fahren. Gelegentlich der für eine solche Zeit üblichen Umstellung der Wohnungseinrichtung zur Sicherung gegen Sonnenbestrahlung, Motten usw. stürzte mein Bruder über einen zusammengerollten Teppich und brach sich den Oberschenkel seines steifen Beins. Aus dem Heilbade wurde nichts, und mein armer Bruder mußte durch acht Wochen mit geschientem Bein in der Gluthitze Juli-August im Bette liegen.
Ich habe noch deutlich vor Augen, wie der sehr geschickte Arzt Dr.Krahulec in die Fußwand des Bettes zwei Rollenschrauben eindrehte, über die er eine Schnur mit einem Gewicht führte, das den geschienten Fuß unter dauernder Zugspannung hielt. Damals dachte man noch nicht an ein Spital; alles wurde daheim erledigt, was für unsere gute Mutter statt der erhofften Badeerholung erhöhte Arbeit und Sorge brachte. Aber etwas Gutes ließ der Beinbruch zurück: die starke Verkürzung wurde während der Bruchheilung um etwa 5 cm verbessert, so daß mein Bruder nach der Genesung den häßlichen durch einen hohen Kork verunstalteten rechten Schuh durch einen normalen, nur mit einer Einlage versehenen vertauschen konnte.
Aus diesem ersten Wiener Aufenthalt habe ich noch die Erinnerung an uns Buben entsetzlich langweilende Besuche bei Verwandten meiner Mutter.
Da war einmal auf der Wiedener Hauptstraße 67 der unverheiratete Cousin meiner Mutter, der praktische Frauenarzt Dr.Koblitz, dem seine Schwester das Haus führte, während dessen zweite Schwester mit dem schon im Ruhestand lebenden Stabsarzt Dr.Leyerer verheiratet war und in der Wohllebengasse wohnte. Beide Häuser waren unendlich gütig und bedachten uns immer mit reichen Jausen; aber wir mußten uns da besonders still, artig und wohlerzogen benehmen, was besonders mir schwerfiel.
Ganz anders hingegen war es bei einem zweiten Cousin meiner Mutter, dem kaiserlichen Notar Dr.Denkstein, der unmittelbar neben der Rochuskirche Büro und Wohnung hatte. Dessen Frau war eine Ungarin, die das leicht verdiente Geld ihres Mannes in sonntäglichen Unterhaltungen in ihrem Hause an viele Gäste - oft fragwürdiger Herkunft - verschwendete. Da ging es sehr lustig zu. Aber gerade deshalb durften wir nur sehr selten und nur um der Konvention Genüge zu tun dort erscheinen. Mutter wachte streng darüber, daß wir nicht mit manierlosen Menschen zusammenkamen. Eine Tochter Denksteins, die schöne Cora, hat den Tierarzt und späteren Hochschulprofessor Dr.Schnürer geheiratet.
Aus der in Lemberg durchlebten Mädchenzeit meiner lieben Mutter sind mir zwei ihrer lebenslänglichen Freundschaften in Erinnerung: Die eine war die sehr früh verwitwete, fast ständig in Frankreich und Luxemburg lebende Gräfin Mier, die als Taufpatin meines Bruders, in Unglücksfällen wie dem geschilderten, immer wieder mit Geschenken aller Art zu helfen bereit war. Die zweite Freundin war ebenfalls Polin und an den Gendarmerieobersten v.Appel verheiratet, der in der Gendarmeriesektion des Landesverteidigungsministeriums eine sehr maßgebliche Stellung bekleidete. Dieser Herr erschien im Februar des Jahres 1892 plötzlich ganz unerwartet zu Besuch und beglückwünschte meinen Vater vor uns allen, daß er auf einen Majors-Posten komme, dieser Posten jedoch beim LandesgendarmerieKdo.Nr.5 in Lemberg neu geschaffen wurde, weshalb mein Vater in längstens vierzehn Tagen nach Lemberg übersiedelt sein müsse.
Da war natürlich Eile geboten. Am nächsten Tage wurde mit dem Packen begonnen und alles in Kisten verstaut; denn Möbelwagen galten damals noch als ein von der Militärverwaltung nicht vergütbarer Luxus. Für mich war diese entstandene Bewegung eine Quelle des Jubels; ich glaubte bestens zu helfen und stand natürlich immer nur im Wege. Trotzdem fühlte ich mich ungeheuer wichtig, weil ich nach Lemberg mitkommen sollte, während mein Bruder im Interesse der Kontinuität seines deutschsprachigen Realschulstudiums in das Pensionat der Schule Rainer kam. Das bedeutete für meine Eltern eine arge finanzielle Belastung, doch in Lemberg gab es keine deutsche Mittelschule.
Mir wurde während der Reise die Obsorge für den Kanarienvogel zugeteilt. Es war damals so üblich, daß alle Kameraden meines Vaters uns mit ihren Frauen auf den Bahnhof geleiteten. Während meine Eltern im Wartesaal des schönen Nordbahnhofes mit den konventionellen Verpflichtungen sehr in Anspruch genommen waren, wollte ich dem Kanarienvogel in seinem kleinen Reisekäfig das Wasser im Schälchen wechseln. Das tat ich so ungeschickt, daß der kleine Vogel aus dem Käfig schlüpfte und zur allgemeinen Erheiterung im Wartesaal herumflog. Ich war mir der Lächerlichkeit meiner Lage bewußt, wollte mir aber nichts anmerken lassen und lehnte alle Tröstungen mit dem großsprecherischen Bemerken ab, daß ich nach Beendigung des Wasserwechsels den Vogel schon zurückrufen werde. Ich hob schließlich den Käfig und rief das Vöglein ohne zu ahnen, was geschehen werde. Und das Wunder geschah: das Vöglein kam, setzte sich auf meine Schulter und hüpfte von dort in den vorgehaltenen kleinen Käfig. Aus der Blamage war ein Fall allgemeiner Anerkennung geworden, die Katze auf die Pfoten zu stehen gekommen.
Von der Reise selbst weiß ich nur mehr, daß wir am Abend abreisten und ich nach anscheinend gut durchschlafener Nacht am Morgen staunte, die vielen Juden im Zuge an den Fenstern der Sonne zugewendet stehen und beten zu sehen.
Lemberg
1892-1894
Schließlich kamen wir in Lemberg an und nahmen zunächst im Hotel Europe in einem schönen großen Zimmer Logis. Dort blieben wir bis zum Zeitpunkt des Eintreffens des Möbeltransportes, der als Stückgut eine gute Weile für die Reise brauchte.
Da meine Eltern sehr sparen mußten, nahmen wir nur die Mittagsmahlzeit im Hotel-Restaurant, während Mutter Frühstück und Nachtmahl aus selbst eingekauften Sachen richtete. Die köstliche polnische Wurst und ein in Wien nicht üblich gewesenes Weißgebäck mit etwas aufgestreutem Anis sind mir als besondere Köstlichkeit bis heute im Gedächtnis geblieben.
Bald wurde ich in die einzige deutsche (evangelische) Schule gebracht, die einen etwa halbstündigen Anmarsch erforderte, mich aber in helles Erstaunen versetzte, weil Knaben und Mädchen in jeder Klasse gemeinsam, die Mädchen in der rechten, die Buben in der linken Bankreihe sitzend, unterrichtet wurden. Diese Schule war sehr gut und streng; ja ich mußte deutsche Grammatik mit einer Intensität auswendiglernen, wie man sie in Wien nicht gekannt hat. Nur der katholische Katechismus wurde von einem Priester für uns wenige katholische Kinder gesondert unterrichtet, bei weitem nicht mit dem Eifer der übrigen von deutschen Lehrern unterrichteten Fächer. Ebenso unangestrengt wirkte der Lehrer für die zwei Wochenstunden in polnischer Sprache, ein älterer Mann, der mir - obwohl er für alle katholischen Kinder später summarischer Firmpate wurde - keinen Eindruck hinterließ. Der Klassenlehrer Decker war streng, aber ruhig gelassen. Direktor Niemec hingegen sprühte vor Temperament. Er überraschte uns Buben und auch die Mädeln bei seinen häufigen Inspektionen immer mit neuen Dingen und brachte einen Appell, eine Beweglichkeit und Wendigkeit in den Unterricht, der jedwede Schläfrigkeit oder Unaufmerksamkeit sofort verbannte. Dieser lebhafte Direktor hielt uns auch zu Gartenarbeiten an. Jeder bekam ein kleines Beet und der Wetteifer ums schönste Beet war wohl eine ständige Belastung der elterlichen Taschen nach neuen Samen und Blumen, machte aber den Garten, für die Schule kostenlos, zu einem kleinen Paradies.
Bald bezogen wir in dem hochgelegenen, eine schöne Aussicht gewährenden Offizierspavillon der Gendarmeriekaserne eine „kompetenzmäßige” große Fünfzimmerwohnung. Bei der Gendarmerie bestand damals, um die häufigen Garnisonswechsel der Offiziere zu erleichtern, die Einführung, daß der Offizier nur einen Teil der Wohnungseinrichtung als Eigentum benötigte, weil der andere vom Militärärar beigestellt wurde. Der leichteren Verpackung wegen bestand bei uns die persönliche Habe vornehmlich aus Teppichen, Bildern, Silber, Porzellan, Küchengeschirr und nur einigen recht ärmlichen Möbelstücken, während die großen sperrigen Möbel beigestellt wurden. Da mein Vater in Lemberg auf einen neu geschaffenen Stabsoffiziersposten gekommen war, wurden für ihn auch ganz neue Möbel beschafft, die meine Mutter beim Möbelhändler selbst wählen durfte. Mir kommen zwei sechs- oder achtteilige Sitzgarnituren in den Sinn, die eine goldgrün im Empfangssalon, die andere bordeauxrot im Herrenzimmer, und ein einfaches Speisezimmer, da der bewilligte Betrag für Besseres wohl nicht ausreichend war. Dann war das Wohn- und Schlafzimmer meiner Mutter mit eigenen Sachen möbliert, während mein Bubenzimmer nur eine eiserne Bettstatt, einen großen ungestrichenen Arbeitstisch und einen kleinen Waschtisch bekam. Dafür hatte ich aber einen herrlich großen Balkon, der nicht nur eine schöne Aussicht, sondern auch die Unterhaltung mit den Kindern anderer Offiziere auf anderen Balkons ermöglichte. Auf einem solchen Balkon spielte ein kleiner Junge, Walter Adam, der spätere tüchtige Generalstabsoffizier und schließliche Heimatkommissär dh. Propagandachef der Regierung Schuschnigg.
Mein Bruder kam von Wien nur über die großen Ferien zu uns. Dafür konnte ich näher an meine gute Mutter heran. Während bisher ihre größere Aufmerksamkeit und gequälte Sorge begreiflicherweise ihrem so schwer geprüften, körperbehinderten Erstgeborenen zugewendet war, konnte sie sich nun ganz mir widmen. Sie tat dies in rührender Weise und half mir stundenlang, die trockene deutsche Grammatik, die in der Schule mit eiserner Strenge gefordert wurde, auswendig zu lernen. Sehr bestimmenden Einfluß nahm sie auf meine gesellschaftliche Erziehung wie Sprache, Haltung, Verbeugungen machen, korrekte Tischmanieren, Sauberkeit, Nettigkeit und musikalische Vertiefung. In letzterem leider ganz vergebens; denn so eine wunderbare Künstlerin meine Mutter selbst am Klavier war, so sehr fehlte mir jegliches Gehör. Das empfand ich bitter, weil dadurch auch die sonst so schönen Gesangstunden in der Schule in mir statt Freude einen Minderwertigkeitskomplex schufen. Ebenso war ich, schmächtig und dünnarmig gebaut, ein schlechter Turner, was mich sehr verdroß, weil in der Klasse die guten Turner den Mädchen weit mehr imponierten. Hinsichtlich des Pflichtgefühles und der Pünktlichkeit sowie der Schonung meiner Bekleidung bedurfte es keiner Nachhilfe.
Allen guten Wollens zum Trotz mußte ich meiner lieben Mutter nach einem Semester eine Enttäuschung bereiten: ich brachte das Zeugnis mit einer Drei in sittlichem Betragen nachhause. Die Mutter war entsetzt und ich, das Entsetzen meiner Mutter begreifend, nach und nach auch. Nur konnte ich keinen Grund für diese schlechte Beurteilung angeben, was die Mutter begreiflicherweise den Charakterfehler einer garstigen Verstocktheit bei mir vermuten ließ. Die prompte Nachfrage und Besprechung mit dem temperamentvollen Direktor brachte folgende Klärung:
Neben mir in der Bank saß der recht dämliche, rotharige Sohn eines Artilleriehauptmannes, der öfter die Zielscheibe mehr oder weniger harmloser Bübereien war, an denen ich mich anfangs auch beteiligt hatte. Seit wir aber die Familie des Hauptmanns kennen gelernt hatten, der mir gute Kameradschaft zu seinem Sohne abforderte, half ich dem tapsigen Jungen durch Erklärung seiner öfteren Fragen und Einsagen bei den Prüfungen, so gut ich konnte. Da ergab es sich einmal, daß sein rechter Nachbar (ich saß zu seiner Linken) oder sein Hintermann - ich weiß es ehrlich nicht - dem Jungen, nachdem er aufgerufen war, die Faust mit einem kurzen Bleistift unter den Sitz hielt, so daß sich der gute Schmidt, so hieß der Junge, beim Setzen sehr weh tat. Diese Geschichte hatte ich zunächst gar nicht bemerkt. Als dem Jungen dann aber das Gesäß zu eitern begann, nannte er mich als jenen, der ihm die Faust untergehalten hätte. Bei der folgenden hochnotpeinlichen Untersuchung, die der Schuldirektor selbst führte, konnte ich wahrheitsgemäß nur sagen, daß ich es nicht gewesen wäre und auch nicht angeben könne, wer es gewesen sei. Der Schuldige meldete sich nicht. Da des Rothaarigen Hinterteil bald wieder in Ordnung war, maß ich der ganzen Geschichte keine Bedeutung bei. Als nun der Direktor meiner nachfragenden Mutter diese Geschichte erzählte und sagte, daß ich die Drei wegen des Lügens bekommen hatte, konnte ich meiner lieben Mutter immer wieder nur versichern, daß ich es nicht gewesen war. Die weitere Aussprache meiner Mutter mit dem Direktor scheint dann diesen überzeugt zu haben, daß ich Opfer seines Justizirrtums geworden war. Daheim und in der Schule wurde nichts mehr gesprochen. Ich dagegen sagte dem guten Schmidt in Gegenwart seines Vaters, daß er ein Tepp sei und dazu noch ein hinterhältiger, weil er mich als Täter verklagt habe, und ich von ihm nichts mehr wissen wolle. Die Drei war aber vom Direktor in meinem Schlußzeugnis gelöscht worden.
Dieser Fall festigte in mir für mein ganzes Leben die Überzeugung, daß der Mensch ohne die Gnade Gottes nichts vermag. Denn wie wollte ich in diesem Fall oder in anderen ähnlichen Fällen ohne Möglichkeit von Beweisen die Beurteilung meiner persona in den Augen anderer beeinflussen? Ich wurde dadurch nicht ängstlich, aber in mir verhärtete sich eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Urteil anderer über mich, die sich später auch auf Belobungen und äußere Auszeichnungen erstreckte. Mir wurde immer mehr nur mein eigenes Gewissen für mein Tun und Lassen maßgeblich.
In diese Zeit fällt auch mein Bekanntwerden mit Ludwig Prinz Windischgraetz, dem nachmaligen ungarischen Minister und später unter Horthy in die großes Aufsehen erregende Fälschungsaffaire der französischen Banknoten in großem Umfange verwickelt. Die Bekanntschaft war so zustande gekommen: In der k.u.k. Armee wurde als Folge der aus dienstlichen Gründen gepflegten Kameradschaft eine viele dürftige Offiziersfamilien finanziell stark belastende repräsentative Geselligkeit gefordert. So war es gekommen, daß meine Eltern auch dem Kommandanten des XI.Korps und kommandierenden General in Lemberg, Alfred Fürst Windischgraetz, ihre Aufwartung gemacht hatten. Bei deren Gegenbesuch wurde die Fürstin auf mich aufmerksam und sagte zu meiner Mutter, daß ich gut zu ihrem um zwei Jahre älteren Sohne Ludwig passen würde und sie mich an den Sonntag-Nachmittagen als Spielkameraden zu ihrem Sohne holen lassen werde. Angesichts des großen Rang- und Standesunterschied der Familien war es begreiflich, daß meine Mutter mir mit allen Nachdruck tadellos artiges und bescheidenes Benehmen einschärfte und ich mich streng an Mutters Gebot hielt. Außer mir war nur noch der gleichfalls etwas ältere Sohn des Korpsintendanzchefs Damisch - ein zügelloser Lausbub - von der Fürstin ausgesucht worden. Wir drei kamen im Garten des Korpskommandos oder in den Zimmern Ludwigs zusammen, und das mir damals noch neue Indianerspiel, für das Ludwig außer einem großen Zelt alle Waffen, Kochgeräte und Bekleidungen hatte, beherrschte diese Zeit. In äußerst laxer Art übte Ludwigs Erzieher, ein junger Priester, die Aufsicht. Die Fürstin erinnere ich mich nur das eine oder das andere Mal gesehen zu haben. Wir bekamen stets eine gute, reichliche Jause, und am Abend geleitete mich der Abbé heim. Einmal machten wir unter seiner Führung sogar einen mehrtägigen Ausflug nach dem polnischen Königsschloß Podgorize bei Krakau.
Ich kann nicht behaupten, daß ich mir damals oder später auf diese auszeichnende Spielkameradschaft irgendetwas eingebildet hätte; eher im Gegenteil, ich empfand sie lästig, weil die oft rüden Lausbübereien der beiden mich abstießen. Ich selbst bin Ludwig erst wieder 1958 und Damisch nie mehr begegnet. Ich hatte nur im I.Weltkrieg seine Nachfolge bei der 1.bulgarischen Armee anzutreten, um einige aufgetretene Unstimmigkeiten in Ordnung zu bringen. Wir begegneten uns persönlich aber nicht, weil der Prinz Monastir bereits verlassen hatte, als ich eintraf. Aber er hatte mir in nobler und wohltuender Weise seine persönliche Verpflegungsreserve an guten Konserven überlassen.
Als ich im I.Weltkrieg, nach etwa 25 Jahren durch Lemberg kam, besuchte ich natürlich die Stätten meiner Kindheit einschließlich der Gräber meiner mütterlichen Großeltern. Ich fand sie alle unzerstört und war nur erstaunt, wie klein ich als Erwachsener alle Gebäude, Plätze und Straßen fand, die mir aus der Kindheit groß und mächtig in Erinnerung standen.
Eine Einzelheit möchte ich noch erwähnen, weil sie für meine Achtung vor dem Patriotismus der Polen von grundlegender Bedeutung war: Lemberg hatte einen Hügel, den Sandberg, auf dessen mit der alten polnischen Fahne geschmückten höchsten Punkt ein als Spirale angelegter Weg hinaufführte. Von diesem Sandberg, der auch nach dem polnischen Freiheitshelden Kosciuszko-Hügel genannt wurde, erzählte mir meine Mutter, daß die Polen diesen Hügel als Mahnmal für die ungerechte Teilung und Zerreißung Polens künstlich errichtet hätten, indem jeder Pole und jede Polin, einschließlich der Damen der höchsten Gesellschaft, einen Schubkarren voll Sand hinaufgeführt hätten. Das imponierte mir Buben gewaltig und regte meine Sympathie für dieses von der ganzen Welt betrogene Volk an.
In die Lemberger Zeit fällt auch meine Firmung, die ich mit noch nicht ganz zehn Jahren empfing. Es war das eine Großaktion für die katholischen Zöglinge der Evangelischen Schule, denen allen gemeinsam eben der polnische Sprachlehrer Pate stand. Sinn und Bedeutung dieses für Katholiken doch so hochbedeutsamen Sakramentes zu erfassen, war ich nicht in der Lage. Die Schuld liegt da wohl beim Elternhause, aber nach meinem Dafürhalten vor allem bei der Kirche, die es richtig findet, dieses Sakrament an Kinder in einem Lebensalter zu spenden, in dem die wenigsten die geistige Reife besitzen, die Bedeutung des Sakramentes und die daraus für den Empfänger entstehende Verpflichtung, selbst nach vorangegangenem Unterricht, zu erfassen.
Prag
1894-96
Nach knapp zweijähriger Garnisonierung in Lemberg wurde mein Vater im Frühsommer 1894 bei Ernennung zum Stellvertreter des Kommandanten des LandesgendarmerieKdo.Nr.2 nach Prag versetzt. Ich konnte gerade noch die vierte Volksschulklasse beenden und bekam ein Vorzugszeugnis mit auf den Weg.
Wie sich der Abschied von Lemberg und die Übersiedlung nach Prag vollzog, ist meiner Erinnerung gänzlich entschwunden. Diese beginnt erst wieder mit unserem Eintreffen in Prag, wo wir zunächst ein Hotel auf der Kleinseite bezogen, das in nächster Nähe der Gendarmeriekaserne lag. Dieses Gendarmeriehaus machte auf mich einen ehrfurchtsvollen Eindruck, denn es war eine aufgelassene, für Militärzwecke umgebaute Kirche, deren erhalten gebliebene Mittelhalle mit einem im Scheitel aus Glas gefertigten Dache versehen und dreifach je in Stockwerkhöhe mit rundlaufenden offenen, mit Eisengittern bewehrten Gängen ausgestattet worden war. Von diesen Gängen führten Türen in die Kanzlei- und Unterkunftsräume, welche in die Seitenschiffe verlegt waren. Immer wenn ich dieses große, zur Halle gewordene Kirchenschiff betrat, um in die Kanzlei des Vaters zu gelangen, ergriff mich eine für einen 10-12jährigen Buben ungewöhnlich feierliche Stimmung.
Schon nach kurzer Zeit bezogen wir an der schönen Moldau am Ferdinandskai Nr.13, gerade gegenüber der Judeninsel, eine riesige Wohnung, deren Mietzins höher war als das meinem Vater gebührende Quartiergeld, aber mangels anderer Auswahl genommen wurde, weil selbst die Zuzahlung aufs Quartiergeld billiger kam als das Leben im Hotel. Schön war das Wiedersehen mit meinem Bruder, der jetzt von Wien zu uns stieß. Jedes Familienmitglied bekam sein eigenes Zimmer, und es blieben trotzdem noch ein Speisezimmer und zwei Salons. Auch hier halfen die ärarischen Möbel, um die Zimmer halbwegs einzurichten; gemütlich war es in dieser Wohnung allerdings nie. Ich profitierte nur insofern, als ich mir bisher unbekannte Sportarten sehen konnte, da die Judeninsel fast zur Gänze von Sportklubs besetzt war; Rudern sah ich, dann Hochradfahren und verschiedene Ballspiele.
Dennoch bedauerten wir es nicht, als sich nach einem halben Jahre die Möglichkeit bot, in eine viel behaglichere Wohnung im Hause des Handschuhmachers Haberkorn in der Všehrgasse auf der Kleinseite gleich am Ausgang der Kettenbrücke umzusiedeln.
Mein Bruder und ich wurden in der II.deutschen Realschule auf der nahegelegenen Kampa-Insel eingeschult. Dank der Vorzüglichkeit der Lemberger evangelischen Schule bestand ich die Aufnahmsprüfung spielend.
Während ich an Lemberg nur schöne, harmonische Erinnerungen habe, in deren Mitte die polnische Bevölkerung als ritterlich-freundlich und zuvorkommend-liebenswürdig steht, bleibt mir vom größeren und härteren Prag, daß dort alles auf Kampf gestellt war, auf Probleme, die ich damals nicht erkennen und begreifen, wohl aber fühlen konnte. Das begann schon in der Familie des unmittelbar Vorgesetzten meines Vaters, des Landesgendarmeriekommandanten, die eigentlich auch der einzige gesellschaftliche Verkehr während der beiden Jahre war, die wir in Prag erlebten. Brachte die große Stadt diese Zurückhaltung mit sich, oder lag sie an der unfreundlichen Zweigeteiltheit der Menschen?
Meines Vaters Kommandant hatte den urdeutschen Namen Kraft v.Helmhacker; er war aber der Gesinnung nach überzeugter Tscheche. Seine kleine, schmächtige Frau sprach deutsch mit stark tschechischer Betonung, das, sobald sich ihre Worte von uns weg an ihre Familienmitglieder richteten, sofort ganz ins Tschechische wechselte. Allerdings war sie nicht in Böhmen, sondern in Persien aufgewachsen, wo ihr Vater durch lange Jahre in irgendeiner diplomatischen Funktion gewirkt hatte. Ihre damals schon verwitwete, bei ihnen lebende Mutter erzählte fast immer nur von Persien, was für uns Buben durch ihr böhmakelndes Deutsch stets erheiternd wirkte. Gaben sich also die Eltern und die Großmutter ganz als Tschechen, so waren die Kinder betont deutsch gesinnt, was in der Familie trotz unserer Gegenwart zu häufigen Auseinandersetzungen führte.
Der älteste Sohn lernte damals an der Wr.Neustädter Militärakademie, der nächste an der Militäroberrealschule; dann kam eine wenig ansprechende Tochter und schließlich ein noch jüngerer Bub als ich. Alle vier Kinder waren literarisch hochinteressiert. Während der großen Ferien, wenn die Militärzöglinge daheim waren, wurde fast täglich Theater gespielt. Dadurch lernte ich Grillparzer, aber auch Schiller gut kennen. Wenn Obst.Kraft und seine Frau ihre Kinder ermahnten, doch auch tschechische Dichter zu rezitieren, ernteten sie bloß höhnische Ablehnung. Aber dafür waren alle vier begeisterte Verehrer Richard Wagners und ließen sich keine solche Opernaufführung entgehen.
Meinem Wunsch, mich irgend einem Turn- oder Sportverein anzuschließen, wurde nicht willfahrt, mit der Erklärung, die Sokoln seien rein tschechisch und die nicht tschechischen zu radikal deutsch oder jüdisch. Es gab wohl einen Geselligkeitsverein „Austria”, der war aber nur für Erwachsene.
Unsere Realschule hingegen auf der Kampa-Insel war rein deutsch und die Erziehung erfolgte sehr patriotisch-österreichisch. Da Kaisers Geburtstag in die großen Ferien fiel, wurden die in den Oktober und November fallenden Namenstage des Herrscherpaares festlich begangen. Wir versammelten uns in der Schule und wurden geschlossen von dem an diesen beiden Tagen in seinen Beamtenuniformen gekleideten Lehrkörper und dem Direktor in die uns durch den reichen Wappenschmuck sehr beeindruckende Maltheserordenskirche zur hl.Messe geführt. Nachher wurden wir wieder in die Schule zurückgeführt, wo uns der Direktor im großen Zeichensaal eine stets sehr zu Herzen gehende Ansprache hielt.
Diese patriotische Erziehung fand im lehrplanmäßigen Religionsunterricht ihre regelmäßige Wiederholung und Vertiefung. Bis heute klingt mir der Beginn jeder Religionsstunde durch den kleinen, schwer gichtischen geistlichen Professor Dr.Malecek im Ohr, wenn er seine erste Frage stellte: „Auf wen haben wir unser Hauptaugenmerk zu richten?” Der aufgerufene Schüler hatte wörtlich genau zu antworten: „Auf Seine Majestät, unseren allergnädigsten Herrn, Kaiser und König Franz Josef I.” „Weshalb?” lautete die zweite Frage, auf die der befragte Schüler zu antworten hatte: „Seine Majestät ist uns ein leuchtendes Vorbild in allem.” „Wodurch?” war die dritte Frage, auf die zu antworten war: „Seine Majestät erhebt sich täglich schon um halb 5 Uhr früh von seinem einfachen Feldlager, verrichtet kniend vor dem gekreuzigten Gotte sein Morgengebet, usw.” So wurde das ganze Tagesprogramm des Kaisers durchgefragt und beantwortet. Dabei mußte jedes Wort in immer genau gleichen Sätzen richtig gesetzt und ausgesprochen sein, sonst gab es sofort einen Strafpunkt. Und der Erfolg dieser scharfen Disziplinübung? Wunderbar! Höchst selten, daß sich ein Schüler in einer Pause eine unpassende Bemerkung erlaubt hätte. Im Gegenteil, wir waren immer gespannt, weil nach den formalen Einleitungsfragen und -antworten Prof.Malecek die jeweilige Stellungnahme des Monarchen zu den verschiedenen Tagesproblemen in kurzen prägnanten Sätzen darstellte und uns wiederholen ließ. Dann erst begann der Religionsunterricht. Wenn wir später daheim erzählten, was uns Prof.Malecek gelehrt hatte, erfüllte es uns mit Stolz, über unseren Monarchen mitunter mehr zu wissen als unsere Eltern.
Ich habe eine so konsequente Vertiefung der monarchisch-dynastischen Erziehung leider nie mehr in meinem Leben wiedergefunden, nicht in Zivil-, nicht in Militärschulen, nicht bei der Truppe und schon gar nicht im Generalstab. Ich war vielleicht der einzige, der seine Rekruten beim slovakischen Inf.Rgt.Nr.72 nach diesem Muster schulte.
Auch sonst habe ich die Prager Realschuljahre in lieber Erinnerung. Meine Klassenzimmer hatten die Fenster auf die Moldau gerichtet, die gerade in dieser Blickrichtung von einem Wehr gestaut wurde, das nur eine schmale Durchfahrt offenließ, durch welche die Flößer ihre schweren Holzmassen mit viel Kraft und Geschick in rasender Fahrt hindurchschleusen mußten. In ganz seltenen Fällen gelang dies nicht; dann zersplitterte das Floß wie eine ausgeleerte Streichholzschachtel. Da lernte ich „geteilte Aufmerksamkeit”: dem Unterricht folgen und dennoch die erregende Durchfahrt der Flößer beobachten.
Einmal gab es sogar eine Überschwemmung der Insel durch Hochwasser, so daß Pioniere und Pontons uns aus der Schule herausholen mußten.
Auch die ersten nationalen Keilereien lernte ich in Prag kennen, wenn an irgendwelchen politisch aufgeregten Tagen tschechische Gewerbeschüler uns an dem von der Insel zur Kleinseite führenden Steg den Weg verlegten. Da wurden Reißschienen zu Schwertern. Kam ich mit einer Schramme heim, so fragte mich mein Vater nur: „Hast du den andern ordentlich verhauen?” Wenn ich ja sagen konnte, war die Sache erledigt.
Während mir aus meinen ersten zehn Jahren nur meine gute Mutter als Erzieherin vor Augen steht, tritt in der Prager Zeit mehr mein Vater in den Vordergrund. Er war - wie alle Gendarmerieoffiziere - durch die regelmäßige Inspizierung der vielen zerstreut liegenden Gendarmerieposten fast jeden zweiten Monat abwesend. Wenn er heimkam, war es immer ein Jubel: er brachte für Mutter und uns Buben stets irgendeine kleine Überraschung mit. Er war ein schlichter, seelensguter Mensch von beispielhafter Lebensführung und eisernem Pflichtgefühl. Ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, da Vater uns hart angelassen oder gar gezüchtigt hätte. Immer appellierte er nur - so wie auch die gute Mutter - an unser Ehrgefühl, obwohl wir durchaus keine Musterknaben waren und besonders ich in meinen Flegeljahren ein oft recht rüder Geselle war.
Von seinen Eltern erzählte uns Vater nie. Er hatte seine Mutter sehr früh verloren, und sein eigener Vater scheint sich wenig um ihn bekümmert zu haben. Dieser war kaiserlicher Wagnermeister im böhmischen Fuhrwesenkorps und kam zum Schluß in das Fuhrwerksdepot in St.Marein. Mein Vater wurde zum Inf.Rgt.21 assentiert, machte in diesem Verband die Feldzüge 1848/49 in Ungarn mit, stand 1853/54 bei der mobilisierten Armee in Siebenbürgen und kam von dort zur berittenen Gendarmerie.
In Prag lernte ich die Witwe nach dem jüngeren Bruder meines Vaters kennen, auf den mein Vater nicht gut zu sprechen war, da er das väterliche Haus in Körbern bei Prag eigenmächtig verjubelt hatte. Dadurch war auch das Verhältnis zur Schwägerin kühl. Diese entstammte einem der vielen Prager jüdischen Häuser. Ihren Bruder, den reichen praktischen Arzt Dr.Stern mußten wir ab und zu besuchen, ebenso wie die Tante Fanny. Diese lebte in sehr dürftigen Verhältnissen, da mein Onkel auch ihr Heiratsgut verschwendet und ihr, nach seiner Dienstzeit in einem Husaren-Regiment Beamter der Buschtehrader Eisenbahn geworden, nur eine kleine Rente hinterlassen hatte.
Meine Mutter schätzte diese leidgeprüfte Schwägerin und half ihr öfter mit kleinen Geldbeträgen aus, was Vater nicht billigte, weil er in seiner Schwägerin eine Mitschuldige seines Bruders sah, der ihn um den väterlichen Hausanteil gebracht hatte. Da war noch deren abstoßende Tochter Hedwig, die als Volksschullehrerin tätig war; sie muß um 15 bis 20 Jahre älter gewesen sein als ich. Ihre hübsche Cousine Ida indes, Dr.Sterns Tochter, hat einen Geniestabsmajor Ellbogen geheiratet.
In Prag begann auch der planmäßige Musikunterricht. Mein Bruder wählte Geige; mir bestimmte die Mutter Klavier in der Hoffnung, daß mein Gehör sich durch planmäßige Arbeit bessern werde. Ich will nicht behaupten, daß ich ein sehr fleißiger Klavierschüler gewesen bin, aber ich habe mich immerhin bemüht und geübt, bis die liebe Mutter und ich - schon viel früher - die Überzeugung gewannen, daß dort, wo nichts ist, nichts verfeinert werden kann.
Gleiche Unbegabtheit erwies sich bei mir auf dem Gebiet der Sprachen. Und das ist zeitlebens mein schmerzlichster Mangel geblieben, denn gerade in der vielsprachigen österreichisch-ungarischen Monarchie war Sprachenkenntnis von ungeheurer Bedeutung. Schulmäßig habe ich nacheinander Polnisch, Böhmisch und Französisch gelernt, bin aber über die notdürftigsten Anfänge nie hinausgekommen. Beim Regiment mußte ich später Slovakisch und Ungarisch lernen. Ungarisch habe ich neben Französisch noch am besten, jedoch weit entfernt von vollkommen gekonnt. Mein Bruder hingegen hat Sprachen mit Leidenschaft und gutem Erfolg gelernt; Englisch sprach er fast perfekt.
In der Prager Zeit, und zwar beim Wohnungswechsel, befiel meinen Vater, den wir nur voll strotzender Gesundheit kannten und der bei allen schweren Arbeiten selbst Hand anlegte, ein Schwächezustand, der uns mit großer Besorgnis erfüllte, stand Vater damals doch schon im 65.Lebensjahre. Dieser Schwächezustand ging bald vorüber, führte aber zur sehr offenen Besprechung unserer Zukunft im Falle seines Ablebens. Die Witwenpensionen waren sehr dürftig - das schöne Bild Fendis „Die Offizierswitwe” ist durchaus lebenswahr. Die rund fünftausend Gulden Wertpapiere, die meine Mutter in die Ehe gebracht hatte, trugen nur 200 Gulden Zinsen; das genügte kaum zur Deckung der Erziehungskosten meines Bruders. Vater machte also den Vorschlag, mich in eine Militärunterrealschule zu geben, in denen die Offizierskinder fast ganz auf Staatskosten ausgebildet wurden. Meine Mutter verwarf diesen Gedanken; die völlige gesundheitliche Erholung des Vaters erfüllte sie mit der Zuversicht, daß ich bis zur Matura im Elternhause werde bleiben können. Sie wollte ihren Einfluß auf meine Erziehung nicht vorzeitig ausgeschaltet wissen, weil sie nach den Erfahrungen mit ihren Brüdern der Auffassung war, die frühe, rein militärische Erziehung verhärte Gemüt und Seele vorzeitig. So blieb ich also in der Realschule und kam dort gut vorwärts.
Aber unsere Prager Garnisonierung sollte nicht von langer Dauer sein. In irgendeinem Zusammenhang mit den in Reichenberg ausgebrochenen Unruhen, bei denen die Gendarmerie zur Wiederherstellung der Ordnung von der Schußwaffe Gebrauch machen mußte, wurde mein Vater in den Ruhestand versetzt. Er bekam zum Abschiede die gekrönte Medaille mit dem Kaiserbild, das Signum laudis. Die Pensionierung aber bedeutete eine starke finanzielle Einbuße, und ich hörte meine Eltern, die nun schon alle wichtigen Angelegenheiten vor ihren Söhnen besprachen, erwägen, ob man in Prag bleiben oder sich anderswo zur Ruhe setzen solle. Die Wahl fiel schließlich auf Wien.
Wien
1896-1905
Meine Mutter war vorausgefahren, um mit ihrer Freundin, der Generalswitwe v.Zipperer, eine möglichst billige Wohnung zu suchen. Eine solche Vierzimmerwohnung fand sich in dem alten, die Baulinien Seidel- und Kegelgasse Nr.6 im III.Bezirke überragenden, aber unverändert noch heute stehenden Hause. Da es im Ruhestand keine ärarischen Möbel mehr gab, mußte das Notwendigste nachgeschafft werden. In unserem Hause ging es nun noch knapper zu, doch konnte alles Lebensnotwendige dank der wunderbaren Wirtschaftskunst meiner Mutter beschafft werden. Die Lebensführung der Staatsbeamten und Offiziere, besonders wenn sie einmal in den Ruhestand getreten waren, ohne reiche Frauen geheiratet zu haben, ist nach unseren heutigen Begriffen wirklich dürftig zu nennen. Und an irgendeinen Nebenverdienst dachte mein nun 66 Jahre alt gewordener Vater nach 48 Arbeitsjahren nicht mehr.
Im Haus befreundeten wir uns nun bald mit der einen Stock tiefer wohnenden Familie Walldorf, die aus den alten Eltern und ihren drei ledig gebliebenen Kindern, zwei Söhnen und einer Tochter, bestand. Obwohl die Söhne dreimal älter waren als ich, gewannen sie uns sehr lieb. Viele Stunden verbrachte ich in ihrem Hause und hörte und lernte dort allerhand fürs Leben. Der eine Sohn war Versicherungsbeamter und von heiterer Natur. Der andere, nachmals Polizeipräsident von Wien, damals jedoch im Polizeipräsidium tätig, konnte viel erzählen, während er daheim, Bier trinkend und Pfeife rauchend, wunderschöne Bildchen auf Porzellantassen malte, die dann eingebrannt und von ihm als Geschenke vergeben wurden.
Mein Bruder und ich besuchten die nahegelegene Radetzky-Realschule. Jetzt, da ich von meinen Wohnungsfenstern aus diese Schule täglich vor Augen habe, steht mir auch der Schulbetrieb wieder lebhaft vor Augen. Drei Professoren ragen in meiner Erinnerung besonders hervor, weil ihre Art des Unterrichtens nicht bloß schlummernde Fähigkeiten zu wecken und bilden wußte, sondern mir für ihre Fächer auch Interesse und Liebe zu wecken vermochte, die für meinen weiteren Bildungsgang und das ganze Leben maßgeblich blieben.
Da war zunächst mein Klassenvorstand, Prof.Milan, ein älterer, schon ergrauter Herr mit jugendlicher Schwungkraft. Er lehrte deutsche Sprache, Geographie und Geschichte, die er so meisterhaft zu verbinden verstand, daß ich in der kurzen Zeit, die ich seinem Unterricht folgen durfte, tief beeindruckt wurde, wie sehr die geographischen Verhältnisse bestimmend sind für die sprachliche, charakterliche, künstlerische, kriegerische und damit gesamthistorische Leistung und Bedeutung eines Volkes. Wie seherisch hat dieser Mann damals, in den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vorgetragen, als er von dem bevorstehenden bestimmenden Eindringen Russlands mit seinem unverbrauchten Volkstum in das mittel- und westeuropäische Geschehen sprach.
Ganz anderer Art war der aus der Marine hervorgegangene Prof.Schiffner, der uns durch seine unnahbar strenge Unterrichtsweise in Geometrie und geometrisch Zeichnen lehrte, mathematisch-logisch zu denken und der dadurch gewonnenen Erkenntnis die kürzeste, prägnanteste, dennoch bildhafte Ausdrucksform zu geben. Ähnlich wie der Religionsprofessor in Prag beim patriotisch-dynastischen Unterricht, begann bei Prof.Schiffner jede Unterrichtsstunde mit einer den Gesamtstoff immer wiederholenden Fragestellung: „Was ist der Punkt? Die Gerade? Der Kreis? Wann sind Gerade parallel? usw.” Die Fragen wurden in rascher Folge bei dem in der ersten Bankreihe am Flügel sitzenden Schüler begonnen und durchliefen alle Bankreihen rückwärts und wieder vorwärts. Die Antworten mußten ebenso rasch, kurz und klar folgen. Sobald ein Schüler unsicher zu stottern begann, deutete Prof.Schiffner schon auf den nächsten. Jede richtige Antwort vermerkte er in seinem Notizbuch mit einem Plus, jede unsichere oder falsche mit einem Minus. Die Summe dieser Zeichen war für die Klassifikation bei Semesterschluß maßgeblich. Das ergab einen Appell in der Klasse von wunderbarer Aufmerksamkeit und Präzision.
Der dritte Professor schließlich war ein körperlich ebenso kleiner Mann wie Schiffner, aber mit einem kugelrunden, von kurzgeschorenem stachlig rot-weiß-meliertem Haar bedeckten Kopf. Auf seiner winzigen roten Nase saß eine goldgeränderte Brille, hinter der zwei große blaue Augen mit einer Leuchtkraft hervorblitzten, die uns unweigerlich in ihren Bann zog. Und dieser grandiose Pädagoge bereitete mit dem dicken Schuldiener als Assistenten jede Physikunterrichtsstunde fast ebensolange vor. Immer wenn wir seinen theaterhaft ansteigenden Lehrsaal betraten, war der lange Experimentiertisch schon zurecht gemacht und jedes Wort seines Vortrages wurde sofort durch das vorgeführte Experiment bewiesen. Sein Unterricht war so aufregend spannend, daß wir stets ungern die Stundenglocke schrillen hörten und mit seinem Einverständnis oft auf die Pause verzichteten, um einen vorbereiteten Versuch noch auslaufen zu sehen. Das war Prof.Moritz Glöser, der nie gern prüfte, weil das sein Unterrichtspensum kürzte; trotzdem glaube ich, daß keiner der Schüler je unvorbereitet in der Physikstunde erschien. Die Aufopferung des Lehrers beeindruckte uns so nachhaltig, daß jeder Radetzky-Realschüler weit mehr wußte als irgendein anderer.
Unsere dauernd angespannte finanzielle Lage, die durch den erforderlich gewordenen Nachhilfeunterricht für meinen Bruder in Mathematik und Darstellender Geometrie durch einen Professor einer anderen Realschule verschärft wurde, machte die Erörterung meines Eintritts in eine Militärerziehungsanstalt wieder aktuell. Da ich hierzu durchaus bereit war und in der Realschule mit Vorzug lernte, lag es nahe, mich um Aufnahme in die einzige Militäroberrealschule in Mährisch-Weißkirchen zu bewerben, von der man nach drei Jahren in die Theresianische Militärakademie nach Wr.Neustadt und nach weiteren drei Jahren als Leutnant in das kaiserliche Heer gelangen konnte. Diese einzige Militäroberrealschule wurde aber von mehreren Militärunterrealschulen wie St.Pölten, Eisenstadt, Güns usw. so vollständig aufgefüllt, daß eine Aufnahme von einer Zivilrealschule nur in ganz seltenen Ausnahmefällen geschah. Darum sahen sich meine Eltern um eine machtvolle Unterstützung um, die deshalb nahelag, weil der seinerzeitige Korpskommandant von Lemberg, Fürst Windischgraetz, jetzt als Generaltruppeninspektor in Wien domizilierte. Meine Mutter sprach also bei der Fürstin vor, und ihr Gemahl unterstützte tatsächlich mein Aufnahmegesuch. Trotzdem wurde das Gesuch wegen Platzmangels abschlägig beschieden. Das war übrigens die einzige Protektion, die in meinem ganzen Leben für mich erbeten wurde - und die schlug fehl.
Unsere dauernd angespannte finanzielle Lage, die durch den erforderlich gewordenen Nachhilfeunterricht für meinen Bruder in Mathematik und Darstellender Geometrie durch einen Professor einer anderen Realschule verschärft wurde, machte die Erörterung meines Eintritts in eine Militärerziehungsanstalt wieder aktuell. Da ich hierzu durchaus bereit war und in der Realschule mit Vorzug lernte, lag es nahe, mich um Aufnahme in die einzige Militäroberrealschule in Mährisch-Weißkirchen zu bewerben, von der man nach drei Jahren in die Theresianische Militärakademie nach Wr.Neustadt und nach weiteren drei Jahren als Leutnant in das kaiserliche Heer gelangen konnte. Diese einzige Militäroberrealschule wurde aber von mehreren Militärunterrealschulen wie St.Pölten, Eisenstadt, Güns usw. so vollständig aufgefüllt, daß eine Aufnahme von einer Zivilrealschule nur in ganz seltenen Ausnahmefällen geschah. Darum sahen sich meine Eltern um eine machtvolle Unterstützung um, die deshalb nahelag, weil der seinerzeitige Korpskommandant von Lemberg, Fürst Windischgraetz, jetzt als Generaltruppeninspektor in Wien domizilierte. Meine Mutter sprach also bei der Fürstin vor, und ihr Gemahl unterstützte tatsächlich mein Aufnahmegesuch. Trotzdem wurde das Gesuch wegen Platzmangels abschlägig beschieden. Das war übrigens die einzige Protektion, die in meinem ganzen Leben für mich erbeten wurde - und die schlug fehl.
Nun kam nur noch eine Kadettenschule in Frage. Es gab da eine Reihe von Infanteriekadettenschulen, eine Kavallerie-, eine Artillerie- und eine Pionierkadettenschule. Der Husarenonkel Ede Meyer hatte ja strikt abgeraten, ohne ausgiebige geldliche Unterstützung zu einer berittenen Waffe zu gehen, somit fielen Kavallerie und Artillerie aus; zur Wahl standen lediglich Infanterie- oder Pionierkadettenschule. Da die Infanteriekadettenschulen insofern einen schlechten Ruf hatten, als sie zum Horte aller jener Lausbuben aus dem Kleinbürgertum geworden waren, die mangels Fähigkeiten an einer zivilen Mittelschule nicht weiterkonnten, lehnte ich als Vorzugschüler eine Bewerbung dorthin ab und verlangte meine Einschreibung in die Pionierkadettenschule in Hainburg. Zu der hatten mir auch meine Professoren geraten, obwohl sie über meine Absicht, Offizier zu werden, erstaunt waren, weil ich damals ein hochaufgeschossener, blasser, nur mittelkräftiger und auch stiller, in mich gekehrter Bub war.
Da ergab es sich, daß mein Onkel Guido, der zum Generalmajor und Honvéd-Brigadier in Neutra ernannt worden war, mit seiner Familie zu einem längeren Urlaubsaufenthalt nach Wien gekommen war. Dieser Onkel, der mich gut leiden konnte und auf dessen Urteil als Generalstabsoffizier, Regimentskommandant und nun General ich sehr viel gab, riet von der Pionierkadettenschule ab mit der Begründung, daß ich dort einseitig zu einem Techniker erzogen würde. Für ein Vorwärtskommen in der Armee sei die Ausbildung für die Infanterie als „Königin der Waffen” viel vorteilhafter. Meine Bedenken wegen des schlechten Rufs der Infanteriekadettenschulen wies der Onkel ab und meinte: „Geh' du nur ruhig in die Infanteriekadettenschule; deine Vorzugszeugnisse sollen dich nicht stören. Du wirst unter Einäugigen der König sein, und das wird dein Fortkommen nur fördern.”
So biß ich denn in den mir noch immer sauer erscheinenden Apfel. Erst in den folgenden Jahren kam ich darauf, wie klug Onkels Rat gewesen war. Mein Vater stellte also das Gesuch um meine Aufnahme auf einen vollen Freiplatz in der Infanteriekadettenschule nach Wien, und dieses Ansuchen wurde - ohne Protektion - glatt bewilligt.
Bevor ich in die Militärerziehung kam, wechselten meine Eltern in ein schöneres Haus mit mehr Komfort am Kolonitzplatz Nr.8. In dieser Wohnung gab es schon einen Wasserleitungsauslauf in der Küche, und das Klo lag innerhalb der Wohnung. Auch Gasrohre waren im Haus schon eingeführt und das Stiegenhaus war mit Gasflammen beleuchtet. In der Wohnung gab es aber noch Petroleumbeleuchtung. Elektrisches Licht begann gerade erst seinen Eroberungszug durch die Stadt, die sich um die Jahrhundertwende unter Bürgermeister Lueger in großem, alles verschönerndem und modernisierendem Umbau befand.
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG